Afrikanische Länder lernen, wie sie ohne Europa überleben. Um sich wieder effektiv engagieren zu können, muss Europa seine ignorante Haltung ablegen, das fiktive Konstrukt von Entdeckern und Missionaren aus alter Zeit verwerfen und versuchen, den Puls des Kontinents zu fühlen.
Sklaverei und Kolonialismus sind die zwei traumatischen Erfahrungen, die das europäische Verständnis von Afrika geprägt haben. In jüngerer Zeit musste sich Afrika mit dem Neokolonialismus herumschlagen, ein Konzept, das vage definiert ist als die Erneuerung kolonialer Netzwerke. Diese erlauben es Europa, weiterhin wirtschaftlichen Einfluss in Afrika geltend zu machen, ohne das Land überhaupt zu betreten.
Es ist nicht überraschend, dass die Kulturbeziehungen zwischen Europa und Afrika oft durch die historische Linse gefiltert worden sind. Währenddessen ringt Afrika mit dem Erbe dieser verheerenden Erfahrungen und versucht die Frage zu beantworten, wie es zur Massendeportation von Millionen in Ketten gelegter Männer und Frauen kommen konnte, bevor dann der Kolonialismus eingeführt wurde, der noch viele mehr in ihrem eigenen Land versklavte.
Das aus Christentum, Kommerz und der Zivilisierung der Afrikaner bestehende europäische Mantra ist größtenteils als eigennützige Fiktion entlarvt. Europas kulturelle Hegemonie in Afrika basiert auf dem fiktiven Narrativ über die Rückständigkeit des Kontinents – was nur Europas ignorante Haltung gegenüber Afrika und den Afrikanern bestätigt.
Deshalb also die Frage: Wie kann sich Europa im 21. Jahrhundert in für beide Seiten interessanten Feldern – von Kultur bis Bildung – wieder in Afrika engagieren und dabei Erfolge erzielen – ohne den Ballast der Vergangenheit? Die Antwort ist zugleich einfach und schwierig:
Europa muss neu lernen, was Afrika tatsächlich ausmacht – jenseits der „Out of Africa“-Rhetorik, die Entdecker und Missionare gefördert haben sowie später ihre Nachfolger, die internationalen Korrespondenten, die an ihrer Rolle gescheitert sind, über Afrika Bericht zu erstatten und es der Welt zu erklären. Der Kontinent wird stark mit dem Schlagwort „Out of Africa“ in Verbindung gebracht. Da ist es vielleicht hilfreich, dessen Ursprung aufzudecken, um aufzuzeigen, wie Europa eine neue Haltung gegenüber Afrika entwickeln kann. Der erste logische Schritt besteht darin, die Genealogie dieses irreführenden Ausdrucks „Out of Africa“ nachzuvollziehen.
Im Herbst 2007 nahm ich an einer Vorlesungsreihe des „International Writing Program“ der Universität von Iowa teil. Wie die zwei Dutzend anderen Schriftsteller aus der ganzen Welt hatte ich dort ein Autorenstipendium. Der Titel meiner Vorlesung, „Out of Africa“, gehörte zu einem Oberthema: dem Schreiben im Zeitalter von Migration, Exil und Diaspora. In meiner Vorlesung versuchte ich darzulegen, wie man Afrika im Laufe der letzten Jahrhunderte durch verschiedene Linsen betrachtet und sich immer neu ausgedacht hat. Die Bandbreite reichte von europäischen kolonialen Adeligen wie Isak Dinesen (auch bekannt als Karen Blixen), die sich ein Zuhause in Kenia einrichteten, bis hin zu den Erzählungen des einstigen Sklaven und späteren Aktivisten gegen Sklaverei, Olaudah Equiano (der aus dem heutigen Nigeria stammte).
Migration, Exil und Diaspora
Schwarz zu sein wurde von der afrikanischen Diaspora im Europa der 1930er Jahre als Quelle des Stolzes betrachtet. Auch die Harlem-Renaissance der 1920er Jahre hielt die Afroamerikaner dazu an, „black pride“ zu zeigen. Sie beriefen sich auf die Würde, die man den Schwarzen in Europa und Nordamerika in Jahrhunderten der Unterdrückung und kulturellen Unterwerfung genommen hatte.
Meine Analyse zielte vor allem darauf ab einzuschätzen, was Afrika jenen bedeutete, die von dort weggegangen waren, freiwillig oder gezwungenermaßen, sowie jenen Ausländern, die sich ein Zuhause auf afrikanischem Boden geschaffen hatten. Heute kann ich zugeben, dass meine Analyse fehlerhaft war. Denn ich bezog mich auf ein in der westlichen Wissenschaft vorherrschendes Narrativ, nach dem die Geschichte des Kontinents im Rahmen der Beschränkungen durch den Kolonialismus betrachtet wird, als nämlich der Kontinent von europäischen Missionaren und Abenteurern, den Vorläufern des Kolonialismus, „entdeckt“ wurde.
Schwarz zu sein, wurde von der afrikanischen Diaspora im Europa der 1930er Jahre als Quelle des Stolzes betrachtet.
Schon damals war nicht Blixens Roman „Out of Africa“ der Ursprung dieses Ausdrucks, schon damals war er kein neues Phänomen. Alles begann vielmehr mit dem griechischen Philosophen Aristoteles, der das epideiktische Prinzip ergründete, wie die Rhetorik Charakter und Identität formt. Was aber noch verblüffender ist: Rhetoriker behaupten, dass Aristoteles´ Aussage, welche die Verdienste von Männern lobt, die andere Männer versklaven, die Weichen dafür gestellt hat, was Jahrhunderte später in Afrika geschah. Seine „Out of Africa“-Rhetorik wurde hin und wieder zitiert, um den Kolonialismus zu rechtfertigen.
Wie der Historiker Harvey M. Feinberg und der Literaturwissenschaftler Joseph Solodow in ihrem Essay „Out of Africa“ (2002) schreiben, war diese Phrase „ein Sprichwort, das in Griechenland nicht später als im vierten Jahrhundert vor Christus entstand“. Feinberg und Solodow konnten aber nicht sicher sagen, von wem diese Formulierung stammt, denn sie wurde unterschiedlichen Menschen zugesprochen: Rabelais, Plinius, Aristoteles und Herodot.
„Out of Africa“, so die Autoren weiter, sei eine Verkürzung von „Ex Africa semper aliquid novi“ – aus Afrika gibt es immer etwas Neues. Eine lateinische Redensart, die Plinius der Ältere bekannt machte, die aber Aristoteles zugeschrieben wird. Letzterer gebrauchte sie erstmals in seinem Buch über Naturgeschichte, vor mehr als 2.300 Jahren. So verwendet sei der Satz zwangsläufig eine allgemeine Feststellung über den Kontinent, schreiben Feinberg und Solodow. „Er zeigt regelmäßig wieder die Einzigartigkeit von Afrika.“
Aber dies war nicht immer seine Bedeutung. Zum ersten Mal gebrauchte Aristoteles den Satz – wie Feinberg und Solodow nachweisen konnten – in seiner „Historia Animalium“, in der er die Verbreitung der Tiere erklärte und wie sie sich von Ort zu Ort unterscheiden. „Es gibt das geläufige Sprichwort (paroimia), dass Libyen wilde Tiere hat, die immer etwas Neues hervorbringen“, zitieren Feinberg und Solodow Aristoteles. Sie fügen hinzu, dass er – auch wenn man sein Werk nicht genau datieren kann – schätzungsweise im späten zweiten und dritten Viertel des vierten Jahrhunderts vor Christus aktiv war, bis er schließlich 322 starb.
„Lassen Sie uns festhalten, dass schon der Name des Kontinents ein großes Problem darstellt“, schreibt der kongolesische Anthroploge und Schriftsteller Valentin-Yves Mudimbe in „The Idea of Africa“. In seinem Buch erklärt er, dass die Vorstellung der Europäer von Afrika ein fiktives Konstrukt ist, das die Welt davon abhält, sich die Narrative des Kontinents vor dem Kolonialismus und vor der Sklaverei zu erschließen, die eine vielfältigere Sicht auf den Kontinent und seine Menschen ermöglichen würden. „Die Griechen nannten es [Afrika] Libyen und jede schwarzhäutige Person einen Aithops. Die Verwirrung beginnt mit den Römern. Sie hatten in ihrem Imperium eine Provinz, die als Afrika bekannt war ... als dann im 15. Jahrhundert die Europäer den Kontinent ‚entdeckten‘, war die Verwirrung komplett.“
In ihrem Buch „The Africa That Never Was“ untersuchten Dorothy Hammond und Alta Jablow vier Jahrhunderte britischer Literatur über Afrika und machten dabei eine erstaunliche Entdeckung. „Eine frühe und hartnäckige Dichotomie teilt die Subsahara-Afrikaner in edle Wilde und bestialische Wilde.“ Das Aufkommen der rassistischen Ideologie bereitete den Boden „für den Sklavenhandel, die Sklaverei und das Imperium.“
Hartnäckige Dichotomie
Einer der frühen britischen Afrikareisenden war John Lok, ein Schiffskapitän, dem es nicht nur gelang, aus seinen Exkursionen großen Profit zu schlagen – er brüstet sich damit, dass er auf einer Reise zehnmal so viel verdient wie er investiert hat – sondern der auch rhetorisch plausibel erscheint, indem er die zu erwartenden Bilder nutzt, um Afrika zu beschreiben, „a people of beastly living, without a God, lawe, religion or common wealth...“ (eigene Übersetzung: „ein wild lebendes Volk, ohne Gott, Gesetz, Religion oder gemeinsamen Wohlstand...“).
Wenn die kolonialen Autoren Afrikas Geschichte in ihrer durch Ignoranz und Vorurteile beschränkten Sicht darstellten, war ihre Rhetorik epideiktisch. Die Texte, die Generationen von Afrikanern und Angehörige der afrikanischen Diaspora schrieben, wollten wiederum ein anderes Bild von Afrika zeigen. Für gewöhnlich reagierte man auf die Verleumdungen, die in der westlichen Wissenschaft auf dem Kontinent bereits im Umlauf waren. Diese Herangehensweise konnte aber nicht die eine entscheidende Wahrheit ans Licht bringen: Das Afrika in den westlichen Narrativen war eine Erfindung. Mudimbe hat dies in seiner bahnbrechenden Studie „The Invention of Africa: Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge“ ausgeführt.
Die EU sollte mehr kulturelle Sensibilität beweisen, um nicht zu riskieren, dass sie aufgrund ihrer Überwachung afrikanischer Gesellschaften aus dem Land geworfen wird.
Cynthia Brantley zeigt in ihrem Buch „The Giriama and Colonial Resistance in Kenya, 1800-1920“, dass indigene afrikanische Völker entlang der Küste Kenias funktionierende Demokratien hatten. Diese waren organisiert als ein System aus Ältesten, die abwechselnd jedes Dorf vertraten. Die britischen Kolonialisten sahen darin fälschlicherweise ein Machtvakuum, da es keinen offensichtlichen Repräsentanten gab. Das Gleiche könnte man über Somalia sagen, das inzwischen seit mehr als zwei Jahrzehnten ohne zentrale Regierung existiert. Die einzige stabile Phase gab es in diesem Land um das Jahr 2006 herum, als eine lose Koalition lokaler Milizen als „Union islamischer Gerichte“, die sich um die Institution der Ältesten herum bildete, das Kommando übernahm. Dieses System zerstörten vom Westen unterstützte Kräfte und ersetzten es durch die föderale Übergangsregierung.
Es ist nicht überraschend, dass die Haltung der EU und anderer westlicher Mächte, die Afrika etwas vorschreiben wollen, was oftmals mit einer guten Portion Überheblichkeit einhergeht, kaum zu Ergebnissen führte. Deshalb bleibt Afrika arm – auch wenn innerhalb der letzten 50 Jahre mehr als 400 Milliarden Dollar gezahlt wurden. Man kann den Standpunkt vertreten, dass die EU und andere ausländische Mächte das Recht haben, zu erfragen, wie ihre bilateralen Kredite und Beihilfen von der Regierung in Kenia genutzt werden. Aber andere Gruppierungen, wie etwa die kenianische Diaspora, haben diese Summen noch übertroffen und machen kein großes Aufsehen darum, was sie dem Land geben.
Die EU sollte mehr kulturelle Sensibilität beweisen, um nicht zu riskieren, dass sie aufgrund ihrer andauernden Überwachung der kenianischen und anderer afrikanischen Gesellschaften aus dem Land geworfen wird – eine Warnung, die Nairobi kürzlich gegenüber einigen EU-Staaten ausgesprochen hat. Dies geschah, nachdem die EU eine offene Kampagne gegen die Wahl des vom Internationalen Strafgerichtshof verdächtigten Uhuru Kenyatta startete, was aber nur zur Unterstützung für Kenyatta führte, der 2013 ins Präsidentenamt gewählt wurde. Dies zeigt, dass sich anti-koloniale Stimmungen in Afrika verstärken.
Und das ist kein Einzelfall. EU-Diplomaten tun sich regelmäßig zusammen, um Kenianer zu jedem nationalen Thema anzusprechen – die schiere Hybris. Denn man könnte sich nicht einmal vorstellen, dass sich afrikanische Diplomaten in London, Paris oder Bonn treffen, um zu sagen, was nach Meinung der Afrikaner am besten für Europa ist. Die EU wird ihre Strategie verändern müssen, denn viele afrikanische Länder lernen, wie sie ohne Europa überleben. Dies gilt umso mehr angesichts von Veränderungen in der globalen Geopolitik. Dort behaupten sich unter anderen China, Japan und Indien. Zudem wird wohl die Entdeckung natürlicher Ressourcen wie Öl und Gas die Wirtschaft afrikanischer Länder transformieren. Die EU könnte mehr Erfolge erzielen, wenn sie eine eher beratende Haltung einnehmen würde. Ihre bilaterale Unterstützung Afrikas sollte zudem besser auf lokale Bedürfnisse abgestimmt sein.
Kürzlich bestätigte ein Bericht der NGO „Development Initiatives“, dass Ostafrika im Jahr 2011 rund neun Milliarden Dollar von den USA erhielt und der Löwenanteil in den Bereich Gesundheit floss. Dabei hießen die Prioritäten der Ostafrikaner Arbeit, Einkommen und Entwicklung der Infrastruktur. Die Kluft zwischen Europa und Afrika wird wahrscheinlich noch weiter dadurch vergrößert, dass man Entwicklungshilfe mit der Unterstützung bestimmter Rechte verbindet – etwa auf Abtreibung oder Gleichstellung Homosexueller – die unter Umständen im Widerspruch zu kulturellen Werten in Afrika stehen. Das kann sogar zu härteren Strafen führen wie im Fall von Uganda. Dort hat das Parlament vor kurzem die lebenslange Haft für Homosexuelle befürwortet, zweifelsohne als Zeichen des Protests gegen Europa.
Um den Austausch mit Afrika in Kultur und Bildung zu fördern, muss Europa neu lernen, was Afrika ausmacht. Es muss sich von dem in einer „Out of Africa“-Rhetorik erfundenen mythischen Afrika verabschieden, zu diesem Kontinent aufbrechen und entdecken, was dort wirklich vor sich geht.
Man muss tiefer in die Kultur eintauchen als die europäischen Tagebuchschreiber und Reisejournalisten und darf nicht motiviert sein von der europäischen Nachrichtenagenda, die falsche Vorstellungen von diesem Kontinent und seinen Menschen zementiert. Stattdessen sollte es darum gehen, herauszufinden was Afrikaner antreibt, was ihnen wirklich wichtig ist und wie sie die drängenden Herausforderungen bewältigen wollen. Wenn Europa es schafft, seine ignorante Haltung gegenüber Afrika zu überwinden, wird es nicht nur den Puls des Kontinents fühlen, sondern höchstwahrscheinlich dort Werte finden, die man ins eigene Land einbringen kann.
Ein Sprichwort auf Suaheli fasst eine Weisheit in knappe Worte: „aibu ya maiti, aijuia ni mwosha“ („Nur wer die Leiche wäscht, kennt ihre Fehler“). Nur die Kenianer selbst wissen, worüber sie sich in ihrem Land die größten Sorgen machen. Schließlich haben sie nur dieses eine Land. Wenn es ernste Probleme gibt, wie das manchmal so ist, können sie nicht einfach in Flugzeugen flüchten oder in gepanzerten Fahrzeugen evakuiert werden. Dieses Privileg haben in Afrika nur europäische Expats.
Über den Autor
Peter Kimani
Journalist und Autor
Peter Kimani ist ein kenianischer Journalist und Autor. Seine Ausbildung erhielt er in Kenia, im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten, wo er 2014 an der University of Houston in Kreativem Schreiben und Literatur promovierte. Zu seinen neusten Veröffentlichungen zählt der Roman „Dance of the Jakaranda“ (2017), der den Aufstieg und Fall des Kolonialismus in Kenia um die Jahrhundertwende neu darstellt.
Kulturreport Fortschritt Europa
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