Mann und Frau zerreißen eine Europaflagge

Die Gunst des Frühlings

Europas Nahost- und Mittelmeerpolitik ist widersprüchlich: Werte wie Freiheit und Menschenrechte treffen auf eigennützige Interessen in Handel, Sicherheit und Migration. Wie kann Europa neue Dialogspielräume in der arabischen Welt besser nutzen?

Aufgrund der Umbrüche in den Gesellschaften des südlichen und östlichen Mittelmeerraums, die seit 2011 den Nahen Osten und Nordafrika erschüttern, befinden sich auch die Beziehungen zwischen Europa und der Region in einem Wandlungs- und Neudefinierungsprozess. Die Bindungen und Verhältnisse zwischen diesen beiden extrem komplexen, kulturell heterogenen, sowie unterschiedlich institutionalisierten Weltregionen waren lange politisch diffizil, historisch-kulturell vorbelastet und ökonomisch asymmetrisch.

Die historische Zäsur des Arabischen Frühlings, auch wenn dieser kein Frühling mehr ist, könnte zum Anlass genommen werden, diese Beziehungen grundlegend zu hinterfragen, sie auf eine neue Ebene zu heben und ihnen einen neuen konstruktiven Impetus zu verleihen.

Erstarken der Zivilgesellschaft

Die Umbrüche resultierten vorwiegend aus der großen Unzufriedenheit der Zivilgesellschaften über Missstände in den politischen Systemen (Demokratiedefizit, Unfreiheit, Menschenrechtsverletzungen), über die sozioökonomischen Ungleichheiten, den ungerecht verteilten Zugang zu Grundgütern wie Wohnungen und Lebensmitteln, weitverbreitete Korruption auf den verschiedensten Ebenen, Auswirkungen des ungebremsten Kapitalismus und der neoliberalen globalen Wirtschaftsordnung auf die Volkswirtschaften der Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens.

Im Zuge der Protestbewegungen kam es auch zu einer Veränderung im Verhältnis der Bürger zur Politik, und zwar in dem Sinne, dass die Zivilgesellschaften, die bis zu diesem Zeitpunkt von den autoritären Regimen teilweise massiv unterdrückt wurden, sich nun mehr Gehör verschaffen und zunehmend erfolgreich Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse ausüben. Nach Jahrzehnten der Repression und politischer Unfreiheit wurde durch den Sturz der Regime auf einmal sichtbar, dass individuelles politisches Engagement einzelner Bürger durchaus zu Veränderungen des politischen Systems beitragen kann.

Bestimmte Akteure der Zivilgesellschaften haben sich neue öffentliche Räume und Instrumente (neue Medien, soziale Netzwerke etc.) für die politische Diskussion erschlossen. Dies gilt vorrangig für die Eliten, die urbane Bevölkerung und die junge Generation. Einige Teile der Bevölkerungen (etwa in Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko) bleiben aber weiterhin von diesen Diskussionen ausgeschlossen, sei es aufgrund von Bildungsdefiziten, materieller Benachteiligung oder regionalen Entwicklungsungleichgewichten.

Neben diesem „Erwachen“ der Zivilgesellschaften und neuer politischer Akteure, den geopolitischen Verschiebungen, die sich aus dem Arabischen Frühling ergeben haben, und sich stetig verändernden politischen Machtverhältnissen, entwickeln sich demnach auch neue politische Kulturen. So verändert sich in der aktuellen „post-revolutionären“ Phase auch das Verhältnis der Gesellschaften zu Europa.

Hohe Erwartungen, großes Misstrauen

Die Erwartungen der Gesellschaften an Europa sind einerseits hoch, andererseits herrscht ein großes Misstrauen aufgrund historischer Negativerfahrungen. Vor allem wünschen sich viele eine andere europäische Sichtweise auf die Region und keine herabblickende Geber-Mentalität. Die südlichen und östlichen Mittelmeeranrainer möchten endlich auf gleicher Augenhöhe und als vollwertige Partner behandelt werden.

Die tunesische Gesellschaft hat sich beispielsweise aus eigenen Kräften von ihrem Diktator befreit. Tunesien hat wenig Interesse an einer Vielzahl kleiner, einzelner Projekte und auch kaum an einigen Millionen für einzelne Programme hier und da. Man erhofft sich vielmehr eine grundlegende Unterstützung bei der Ausarbeitung eines nachhaltigen Reformplans für die Wirtschaft, den Aufbau von Zukunftsindustrien und eine Förderung der Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt.

Gleichzeitig erhoffen sich viele Akteure neben faireren Handelsbeziehungen auch mehr Empathie und Vertrauen von Europa in den demokratischen Transformationsprozess und konkrete Unterstützung in einzelnen Bereichen wie regionaler Dezentralisierung und Entwicklung, Verwaltungsreformen, Reformen im Mediensektor, Umweltsektor, Polizei- und Sicherheitssektor, Justizwesen oder im Bildungswesen.

In der Vergangenheit hat sich Europa durch die jahrelange Kooperation mit den autoritären Regimen (wie diejenigen von Ben Ali, Mubarak, Gaddafi) viele Sympathien verspielt und sich oft dem Vorwurf der Doppelmoral ausgesetzt, während sich die für Freiheit und Menschenrechte einsetzenden zivilgesellschaftlichen Akteure von der offiziellen Politik mitunter wenig unterstützt fühlten. Jetzt führt Europa einen Dialog mit (moderat) islamistischen Akteuren, da diese in einigen Ländern an der Regierung beteiligt sind (Tunesien) oder waren (Ägypten). Das stößt wiederum bei vielen der anderen, säkular orientierten Akteure auf gänzliches Unterverständnis. Sie fühlen sich jetzt von Europa doppelt verraten. Viele erwarten von Europa mehr Verständnis und Akzeptanz, auch wenn etwa die Ergebnisse der Wahlen nicht nach europäischen Vorstellungen ausfallen. Man erhofft sich Anerkennung und Solidarität einerseits und flexiblere, unbürokratischere Hilfe andererseits.

Die Einwirkungsmöglichkeiten Europas auf die Transformationsprozesse in der südlichen Nachbarschaft sind schwer zu messen und vor allem begrenzt. Sicherlich haben die zahlreichen europäischen zivilgesellschaftlichen Programme und Projekte auch indirekt zur Vorbereitung des Terrains für die aktuellen Umbrüche beigetragen. Aber es sind die tunesischen und ägyptischen Bevölkerungen, die sich selbständig und mit friedlichen Mitteln von ihren Diktatoren befreit haben.

Dennoch ist die internationale Gemeinschaft weiterhin gefragt und trägt Mitverantwortung. Sie sollte die Übergangsregierungen, sei es in Tunesien, Ägypten oder auch Libyen, in deren schwierigen Aufgaben sowie die neu entstehenden politischen Systeme konstruktiv unterstützen, das heißt die internationale Gemeinschaft und insbesondere Europa sind gefordert, wenn es darum geht, die sozio-ökonomischen Schwierigkeiten aufzufangen.

Vor allem wünschen sich viele eine andere europäische Sichtweise auf die Region und keine herabblickende Geber-Mentalität.

Für viele hat sich die Situation seit den „Revolutionen“ eher verschlechtert denn verbessert: Die Zahl der Arbeitslosen in Tunesien und Ägypten hat zugenommen, das Wirtschaftswachstum ist gesunken, der für die beiden Länder sehr wichtige Tourismussektor ist eingebrochen. Die hohe Arbeitslosigkeit insbesondere unter den Jugendlichen (bis zu 40 Prozent in Tunesien) stellen die Gesellschaften vor eine Zerreißprobe. Globalisierte Märkte, zurückgehende Auslandsinvestitionen und teilweise auch Defizite in den Bildungssystemen sind dafür verantwortlich. Inwieweit kann Europa helfen, diese Krise zu überwinden?

Diejenigen, welche die tunesische Revolution im Landesinnern in Gang gesetzt haben, wünschen sich vor allem eine Verbesserung ihrer sozialen Situation und berufliche Zukunftsperspektiven, aber auch eine stärkere Dezentralisierung und eine Verbesserung der Infrastruktur. Weite Teile der zivilgesellschaftlichen Akteure und intellektuellen Eliten, die auch erheblich zum Gelingen der Revolution beigetragen haben, erhoffen sich hingegen von Europa vor allem eine Unterstützung bei der Umsetzung ihrer Ziele, das heißt Meinungs- und Pressefreiheit, Respekt der Menschenrechte, Sozialpartnerschaft, Trennung von Religion und Staat. Islamistische Akteure (wie die Ennahda Partei) erhoffen sich wiederum politische Anerkennung und Gleichbehandlung, Vermittlung von Methoden und Techniken sowie wirtschaftliche Kooperation.

Mobilität und Beschleunigung

Die transnationalen Kulturbeziehungen sind neben anderen Dynamiken und Phänomenen geprägt von weltweit zunehmender Mobilität und Beschleunigung. In diesem sich rasch verändernden transnationalen Kontext stellen die Beziehungen zwischen den Weltregionen Europa und dem Maghreb/Maschrek (Länder östlich von Ägypten und der Levante) eine Besonderheit dar, nicht nur aufgrund der historischen Konstellation. 

Besonders ist auch die gleichzeitige Nähe und Distanz: Während im kulturellen, menschlichen und bildungsorientierten Bereich zunehmende Vernetzung und Interaktion stattfinden, folgt die europäische Immigrations- und Sicherheitspolitik einer abschottenden Logik und zieht eine klare Grenze im Mittelmeerraum.

Hier wird auch der Widerspruch europäischer Außenpolitik deutlich, die sich einerseits Werte und Ideale wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Respekt der Menschenrechte und Solidarität auf die Fahnen schreibt und andererseits mit ihrer Handels-, Sicherheits- und Immigrationspolitik gezielt ihre eigenen, vorrangig ökonomisch orientierten Interessen verfolgt und somit gleichzeitig ihrer eigenen Wertepolitik entgegenwirkt. Dieser Widerspruch führt auch dazu, dass die EU als internationaler (Kultur-)Akteur in den Augen der südlichen Nachbarn oft unglaubwürdig erscheint. Gleichzeitig wird sich die EU jedoch im Zuge ihrer fortschreitenden Integration und Institutionalisierung der kulturellen Dimension ihrer Außenpolitik zunehmend bewusst.

Dieser Widerspruch führt auch dazu, dass die EU als internationaler (Kultur-)Akteur in den Augen der südlichen Nachbarn oft unglaubwürdig erscheint.

Die kulturellen Aktivitäten der EU-Delegationen in Drittländern, wie Literatur- und Filmfestivals oder Kunst- und Fotoausstellungen ergänzen die Aktivitäten der Kulturinstitute der einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Natürlich kommt es dabei mitunter zu Doppelungen und Überschneidungen, aber auch zu zunehmender Kooperation.

Neben der Europäisierung der Außenkulturpolitik existieren parallel die verschiedenen außenkulturpolitischen Ansätze der EU-Mitgliedstaaten, die sich aus komplexen historischen Prozessen heraus entwickelt haben und zu partikularen bilateralen Beziehungen geführt haben.

Mit ihren kulturellen Aktivitäten betreibt die EU eine Art „post-souveräne Politik“ zwischen dem Globalen und dem Nationalstaat. Das Verständnis, nicht nur als Vermittler (Mediator) einer „Kulturnation“ zu agieren, sondern in einem weiteren Sinne als Vermittler einer, wenn auch künstlich konstruierten (oder gar „erfundenen“, so der amerikanische Politologe Benedict Anderson) europäischen Kultur, findet sich nicht nur in den Vertretungen der Europäischen Union, sondern auch unter den kulturellen Repräsentanten der einzelnen EU-Mitgliedstaaten vor Ort wieder.

Die EU-Kulturaktivitäten bringen hierbei eine weiter gefasste, europäische Dimension ins Spiel und bereichern letztendlich die transnationalen Kulturbeziehungen. Dabei geht es meist weniger um den Export „europäischer Kultur und Werte“, sondern oft um die Stärkung und Förderung der lokalen und regionalen Kultursektoren und -industrien (z.B. Förderung regionaler Integration des Filmvertriebs, Gründung eines nordafrikanischen Schriftstellernetzwerks), aber auch um bilaterale und multilaterale Kooperationsprojekte im kulturellen und zivilgesellschaftlichen Sektor.

Durch diese Art von Projekten wird zu einer vertieften und nachhaltigen Integration des Mittelmeerraums als einer Brückenregion zwischen Europa, Nordafrika und dem Nahen Osten beigetragen. Die EU-Delegationen werden die nationalen Kulturinstitute (Goethe-Institut, Institut Français, Instituto Cervantes, British Council etc.) in der näheren Zukunft sicherlich nicht ersetzen; vielmehr schaffen sie eine Art ergänzenden europäischen Kontext und Rahmen, vor deren Hintergrund sich die Vielfalt der kulturellen Aktivitäten anderer Kulturakteure frei entfalten, konkurrieren und kooperieren.

Transnationale Mobilität betrifft nicht nur den kulturellen Sektor, der natürlich die individuelle Bewegungsfreiheit für Kulturakteure innerhalb des Mittelmeerraums (auf der Süd-Nord-Achse und zwischen den Maghreb- und Maschrekländern) voraussetzt, sondern auch die Bildungssysteme. Eine Transnationalisierung der Bildungssysteme sollte aber nicht zwangsläufig deren Homogenisierung bedeuten, sondern vielmehr eine größere Durchlässigkeit und Flexibilität, die für alle Beteiligten bereichernd wäre.

Europäische auswärtige Kultur- und Bildungspolitik kann nicht die Bildungssysteme der MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika) reformieren oder gar finanzieren. Diese Aufgabe liegt bei den Regierungen der jeweiligen Staaten. Aber sie kann zum Beispiel zur weiteren freien Entfaltung der Zivilgesellschaften und zur Förderung von deren Anliegen und zum Austausch und zur interkulturellen Zusammenarbeit zwischen den Zivilgesellschaften Europas und des südlichen Mittemeerraums beitragen.

Fernab gesellschaftlicher Realitäten

Die zu geringe Einbindung der Zivilgesellschaften in die multilaterale intergouvernementale Kooperation auf euro-mediterraner Ebene, sei es im 1995 ins Leben gerufenen Barcelona-Prozess oder innerhalb der „Union für den Mittelmeerraum" (UfM), welche letzteren 2008 abgelöst hat, wurde jahrelang angemahnt. Dass auswärtige Kultur- und Bildungsarbeit inhärenter Teil vertrauens- und partnerschaftsbildender Maßnahmen ist, mag sich bei manchen EU-Entscheidungsträgern noch nicht durchgesetzt haben, aber spätestens seit dem Arabischen Frühling ist der Stellenwert der zivilgesellschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit im euromediterranen Kontext gestiegen.

Der Arabische Frühling hat aber auch gezeigt, wie sehr die institutionelle politische Kooperation letztendlich den gesellschaftlichen Realitäten hinterherhinkt. Gleichzeitig waren und sind zahlreiche europäische Mittlerorganisationen, Stiftungen, Kulturorganisationen, Kulturinstitute, Netzwerke und Vereine aber seit Jahren in engem Kontakt mit den Zivilgesellschaften im südlichen Mittelmeerraum. Dieses kulturelle, wissenschaftliche und individuell-zwischenmenschliche Engagement weiter zu intensivieren, zu festigen und weiterzuentwickeln, sollte Ziel der europäischen Außenpolitik sein.

Im Kontext der Überlegungen über die tieferliegenden Ursachen der hohen Jugend- und Akademiker-Arbeitslosigkeit in den arabischen Umbruchsländern werden neben anderen Faktoren immer wieder die existierenden Bildungssysteme in Frage gestellt. Zweifellos sind die Universitäten in den nordafrikanischen Ländern teilweise in ihren Strukturen veraltet und verkrustet, zu sehr in Hierarchien denkend, mit veralteten Lehrmethoden und zu wenig Förderung von Innovation, Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und Kritikfähigkeit.

Auch die Forschung ist in einigen Bereichen nicht auf dem neuesten Stand. Das liegt unter anderem daran, dass der Zugang zu internationalen Quellen nicht immer möglich war oder auch Englischkenntnisse bislang nicht intensiv gefördert wurden. Dieser Befund mag für manche Lehrbereiche gelten, für andere jedoch nicht. In manchen Disziplinen, Fächern oder Instituten sind die Studierenden und Lehrenden ebenso auf dem Stand der internationalen Forschung wie an europäischen Universitäten.

Doch für die Mehrheit gilt – oft unabhängig von der Qualität der Ausbildung –, dass sich nach dem Abschluss keine oder nur wenige Berufsperspektiven eröffnen. Viele Studiengänge, Berufsausbildungen und Weiterbildungen sind nicht ausreichend an die Nachfrage und die Herausforderungen der nationalen und internationalen Arbeitsmärkte angepasst.

Nachhaltige Transformation

Soll Transformation im Bildungssektor nachhaltige Wirkung haben, muss sie langfristig unterstützt werden. Es gilt, in langfristige Programme zu investieren und nicht in solche, die bereits nach ein oder zwei Jahren wieder beendet sind. Eine Erhöhung der Mittel, sei es im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP), sei es im Rahmen bilateraler Förderprogramme der EU-Mitgliedstaaten, ist geboten.

Durch eine ausgewogenere Verteilung der Mittel zwischen europäischen und nordafrikanischen Akteuren, Institutionen und Organisationen kann zu nachhaltigerer Transformation beigetragen werden. Europa kann bei der weiteren Selbstorganisation zivilgesellschaftlicher Organisationen und Vereine unterstützend wirken, im Bereich der Methoden Kenntnisse vermitteln und zur Förderung der regionalen Entwicklung und Dezentralisierung beitragen.

Bestehende Bildungs- und Austauschprogramme sind wichtig und sollten vertieft und ausgeweitet werden; das Motto des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) „Wandel durch Austausch“ bleibt weiterhin aktuell. Gleichzeitig möchten viele Jungakademiker gar nicht unbedingt nach Europa oder ins Ausland; sie träumen vor allem von einem korrekt bezahlten, angemessenen Arbeitsplatz mit Aufstiegsperspektiven, der es ihnen erlaubt, eine Familie zu gründen oder unabhängig und selbstbestimmt zu leben. Insofern kann europäische Bildungspolitik dazu beitragen, berufliche Ausbildung, Weiterbildung und berufliche Eingliederung verstärkt am Bedarf der Unternehmen und zukünftigen Arbeitsmärkte zu orientieren.

Es gilt, in langfristige Programme zu investieren und nicht in solche, die bereits nach ein oder zwei Jahren wieder beendet sind. Eine Erhöhung der Mittel […] ist geboten.

Festzuhalten ist: Die strukturelle Asymmetrie der Beziehungen zwischen Europa und südlichem und östlichem Mittelmeerraum setzt sich auch in den Kulturbeziehungen fort. Das übergeordnete Ziel der kulturellen und bildungspolitischen euro-mediterranen Zusammenarbeit sollte darin bestehen, kulturelle Annäherung und freie Zirkulation, die Mobilität von Ideen, Werten, kulturellen Akteuren/Individuen und Produkten im Mittelmeerraum zu fördern.

Doch die bestehenden Hindernisse dafür sind vielfältig: Präsenz und Engagement staatlicher wie freier Kulturakteure aus den südlichen und östlichen Mittelmeerländern in den bestehenden euro-mediterranen Kooperationsstrukturen und Programmen sind vergleichsweise gering. Zudem sind viele freie Kulturakteure europaskeptisch und lehnen eine offizielle gemeinsame europäische Kulturpolitik eher ab.

Hinzu kommt der politische Unwille der EU-Mitgliedstaaten, Kompetenzen in kulturellen Fragen an die EU abzugeben. Gleichzeitig nutzen die EU-Mitgliedstaaten aber auch teilweise das „System EU“, indem sie sich EU-Mittel und EU-Strukturen zu eigen machen und auf diesem Weg ihre nationalen Außenkulturpolitiken weiterverfolgen. Doch wenn die EU zunehmend als globaler Akteur aktiv ist und über zunehmende außenpolitische Kompetenzen verfügt, dann muss sie auch die kulturelle Dimension ihrer außenpolitischen Entscheidungen und Maßnahmen in der Welt stärker berücksichtigen. Kultur- und bildungspolitische Programme können zunehmend als Instrumente der Entwicklung und der Konfliktprävention betrachtet werden.

Abgesehen von den bisherigen schwer messbaren Ergebnissen europäischer auswärtiger Kultur- und Bildungspolitik haben sich in den letzten Jahren und verstärkt durch den Arabischen Frühling informelle und formelle transnationale Netzwerke in Kultur Bildung im Mittelmeerraum herausgebildet. Bereits existierende Netzwerke wurden gestärkt oder sind gewachsen. Die Kultur- und Wissenschaftsakteure haben sich die bestehenden Kooperationsrahmen zu eigen gemacht, und das Mittelmeer als kultureller Bezugspunkt oder Brückenregion hat eine gewisse Eigendynamik entwickelt.

Diese Akteure definieren gemeinsame Interessen, wie zum Beispiel den Erhalt des materiellen und immateriellen Kulturerbes, den Schutz vielfältiger Filmkulturen, die Unabhängigkeit der Wissenschaft, nachhaltige Bildungschancen oder verbesserte Arbeitsbedingungen und Mobilität für Kulturschaffende und Wissenschaftler im Mittelmeerraum. Diese Dynamik gilt es zu erhalten, zu fördern und weiterentwickeln. 

Über die Autorin
Portrait von Isabel Schäfer
Isabel Schäfer
Politikwissenschaftlerin, Fachautorin, Beraterin und Dozentin

Isabel Schäfer ist Politikwissenschaftlerin, Fachautorin, Beraterin und Dozentin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind europäische Mittelmeer- und Nahostpolitik, euro-mediterrane Partnerschaft sowie die kulturelle Dimension der Internationalen Beziehungen, insbesondere der Beziehungen zwischen Europa und der arabischen Welt.

Bücher:

  • Political Revolt and Youth Unemployment in Tunisia. Exploring the Education-Employment Mismatch. Palgrave Macmillan, London 2018
  • Vom Kulturkonflikt zum Kulturdialog? Die kulturelle Dimension der Euro-Mediterranen Partnerschaft (EMP). Nomos, Baden-Baden 2007

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.