Was bestimmt die europäische Identität? Es ist die Einheit in der Vielfalt. Zur Erinnerung an den deutsch-französischen Publizisten Alfred Grosser, der dies in seinem Essay anhand vieler Beispiele verdeutlicht.
Wenn das Wort „Europa“ fällt – was meint man? Nehmen wir Pegida, die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands“. Wahrscheinlich sind für deren Anhänger Europa und Abendland identisch. Das ist jenes Europa, das 1914/1918 und 1939/1945 nach innen Abermillionen Tote verursacht hat, Massenmord an Juden und anderen Gruppen verübte, das außerhalb die Sklaverei förderte, im 16. Jahrhundert den Völkermord in Mittelamerika zuließ und später die beinahe vollständige Vernichtung der Indigenen Nordamerikas durch europäische Immigranten. Erzählt man das Pegida-Leuten, so sind sie erstaunt und empört. Also soll hier mit etwas anderem begonnen werden!
Grenzen, sagt man, gibt es dort, wo Polizei- und Zollbeamte stehen. So einfach ist das aber nicht. Grenzen können auch etwas sein, das durch einen Glauben markiert wird. Google Maps versucht neutral zu sein, indem es die Grenzziehungen der UNO für seine Karten verwendet. Aber die Schulkinder in Indien und China bekommen ganz andere Landkarten vorgelegt, auf denen dasselbe Gebiet einmal als indisch und einmal als chinesisch dargestellt wird. Sobald sie erwachsen sind, werden sie bereit sein, „ihr“ Gebiet mit Waffengewalt zu verteidigen.
Schulkinder in Indien und China bekommen ganz andere Landkarten vorgelegt, auf denen dasselbe Gebiet einmal als indisch und einmal als chinesisch dargestellt wird.
Wie sieht es nun mit Europa aus? Nach außen und nach innen? Die Europäer haben anderen Weltregionen oft Grenzen auferlegt. Das gilt nicht nur für Afrika. Der IS beruft sich ständig auf ein Abkommen, das am 16. Mai 1916 heimlich zwischen Frankreich und Großbritannien unterschrieben wurde – die Accords SykesPicot – worin sich beide den Nahen Osten teilen. Auch lässt sich ein Land wie Frankreich nicht als rein europäisch definieren. Guadeloupe, Martinique, Guyane, La Réunion: Die départements d’outre-mer gehören zur Französischen Republik. Geht man von der Geographie aus, gehört nur ein winziger Teil der Türkei zu Europa, dafür aber ein riesiger Teil Russlands. Doch bis wohin?
De Gaulles Formulierung
De Gaulles Formulierung lautete: „L’Europe de l’Atlantique à l’Oural“– vom Atlantik bis zum Ural. Jedoch als er das nicht sehr hohe Ural-Gebirge einmal selbst überflog, musste er feststellen, dass auf der anderen Seite zwar Sibirien, aber immer noch Russland war. Innerhalb des Kontinents liegen Staaten. Innerhalb mancher Staaten liegen Einheiten, die sich nicht als echter Teil des Staatsvolks betrachten.
Ein Staat sollte hier besonders betrachtet werden: Polen. Nicht nur, weil es im Laufe der Geschichte mehrmals von der Landkarte verschwand und das polnische Volk in der Unterdrückung weiter existierte, ist die Zugehörigkeit zur Nation dort heute stärker als anderswo. Auch weil zwischen 1939 und 1945 enorme Grenzveränderungen stattgefunden haben, mit Verlusten im Osten und Gebietsgewinnen im Westen, und beides verbunden mit Vertreibungen.
In der Präambel des deutsch-polnischen Grenzvertrags vom 14. November 1990 heißt es, dass die Vereinigung Deutschlands als Staat mit endgültigen Grenzen ein bedeutsamer Beitrag zu der Friedensordnung in Europa sei, „eingedenk dessen, dass seit Ende des Zweiten Weltkriegs 45 Jahre vergangen sind, und im Bewusstsein, dass das schwere Leid, das dieser Krieg mit sich gebracht hat, insbesondere auch der von zahlreichen Deutschen und Polen erlittene Verlust ihrer Heimat durch Vertreibung oder Aussiedlung, eine Mahnung und Herausforderung zur Gestaltung friedlicher Beziehungen zwischen den beiden Völkern und Staaten darstellt…“
Wer weiß in Polen, dass die Siegermächte sich nicht genau darüber im Klaren waren, dass es eine östliche und eine westliche Neiße gibt? Zwischen beiden lag Schlesien mit Breslau, dem heutigen Wrocław.
Wer weiß heute in Deutschland, dass die Polen, die sich in Schlesien niedergelassen haben, meist selbst Vertriebene aus dem ukrainisch oder russisch gewordenen Teil des Vorkriegspolen waren? Wer weiß in Polen, dass die Siegermächte sich nicht genau darüber im Klaren waren, dass es eine östliche und eine westliche Neiße gibt? Zwischen beiden lag Schlesien mit Breslau, dem heutigen Wrocław.
Die Identifikation von Volk und Nation mit dem neuen Gebiet ist nicht allzu schwierig verlaufen. Doch Polen besaß noch drei andere Identitäten. Die erste ist kaum ins Bewusstsein der Menschen gedrungen, weder in Polen selbst noch in den Nachbarstaaten.
In Polen sind drei Millionen Juden vernichtet worden, polnische und solche, die aus anderen Ländern nach Treblinka, Sobibór, Majdanek, Chełmno und Auschwitz-Birkenau gebracht worden sind. Um 1980 verwandelte sich die polnische Identität in die eines Landes, das im Bereich der Sowjetunion als Erstes den Sieg einer Freiheitsbewegung erlebte. Der Pole Lech Wałęsa verkörperte damals die Nation. Heute ist das nicht mehr so.
Wer weiß heute in Deutschland, dass die Polen, die sich in Schlesien niedergelassen haben, meist selbst Vertriebene aus dem ukrainisch oder russisch gewordenen Teil des Vorkriegspolen waren?
Die Macht, die in Polen die Freiheit unterdrückt und somit die Grundwerte der Europäischen Union verletzt, trägt jetzt das Gesicht von Jarosław Kaczyński. Dieser wird nicht mehr zusammen mit Lech Wałęsa genannt, sondern mit Viktor Orbán, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan. Das Gewicht der Geschichte prägt noch immer die Geister von heute.
In Belgien lag das gesellschaftliche und wirtschaftliche Übergewicht lange bei den Wallonen. Der Wille, inzwischen die Überlegenheit Flanderns herauszustellen, ist auch einem gewissen Rachegefühl geschuldet. In Irland zählt die große, Londons Verantwortung zugeschriebene Hungersnot im 19. Jahrhundert – mit zahllosen Toten und Emigranten, die nach Amerika gingen – zu den Wesenselementen der irischen Selbstidentifikation.
Gibt es Belgien?
Ob es überhaupt noch ein Belgien gibt, mag bezweifelt werden. Zwei politische Gemeinschaften mit zwei verschiedenen Sprachen leben nebeneinander. Brüssel ist noch ein drittes Gebiet, wo eine ziemlich machtlose Regierung angesiedelt ist, die versuchen soll, die nationale Devise „Einigkeit macht stark“ irgendwie zu rechtfertigen.
Spanien ist ein föderaler Staat. Inwiefern zählt Katalonien noch dazu? Die Reformen von 1979 und 2016 haben die regionale Autonomie einer Unabhängigkeit immer näher gebracht. Noch wird Letztere im Namen der Verfassung Spaniens von Madrid strikt abgelehnt. Was kann aber getan werden, wenn in Barcelona der Beschluss fällt, ohne Rücksicht auf die Verfassung weitere Schritte zur Unabhängigkeit zu unternehmen?
Katalanisch wird auch auf der anderen Seite der Grenze mit Frankreich gesprochen. Nicht diese Grenze spielt eine Rolle in Frankreich. Die spanisch-französische Grenze, die eine Region spaltet, liegt im Baskenland. Die dortige oft gewaltsame Autonomiebewegung findet so manchen Unterstützer im französischen Teil. Ein echtes Problem für die Einheitsnation Frankreich ist dies nicht, ebenso wenig wie der Drang vieler Bretonen, mehr Anerkennung für die Besonderheiten der Bretagne zu erreichen. Eine dieser Besonderheiten ist die transnationale keltische Zusammengehörigkeit. Jedes Jahr strömen Hunderttausende nach Lorient zum Festival interceltique.
Demonstrierende tragen Unabhängigkeitsflaggen während einer Demonstration zur Feier des katalanischen Nationalfeiertags in Barcelona am 11. September, Foto: Associated Press/Emilio Morentatti via picture alliance.
Korsika und Elsass
Die echten Fragen heißen Korsika und Elsass. Bei den Regionalwahlen 2015 haben auf der Insel, die 1768, ein Jahr vor der Geburt Napoleons, ein Teil Frankreichs geworden war, die korsischen Nationalisten gesiegt. In seiner auf Korsisch gehaltenen Rede hat der Präsident des Regionalrates Frankreich als „befreundete Nation“ bezeichnet. Natürlich sollen alle unzähligen Privilegien Korsikas erhalten bleiben (keine Erbschaftssteuer, fiskalische Geschenke, Zuschüsse, kaum Bestrafung von Gewalttaten gegen Hausbesitzer und andere Menschen aus dem „kontinentalen Frankreich“ und anderes mehr). Der korsisch-französische Widerspruch ist etwa vergleichbar mit einem Polen, das immer weniger EU mit denselben Zuschüssen aus Brüssel haben will.
Der korsisch-französische Widerspruch ist etwa vergleichbar mit einem Polen, das immer weniger EU mit denselben Zuschüssen aus Brüssel haben will.
Seit der jüngsten Regionalreform ist das Elsass ein Teil der Région Grand Est, zusammen mit der Champagne. Straßburg ist zwar die Hauptstadt der Region, aber niemand hat eine Antwort auf die Frage: „Was wird von den elsässischen Besonderheiten erhalten bleiben?“ Da die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich 1905 vollzogen wurde, zu einer Zeit, als das Elsass dem deutschen Reich angehörte, gilt bis jetzt das Konkordat, das Bonaparte 1801 unterschrieben hatte: Priester, Pastoren, Rabbiner werden vom Staat bezahlt, und die Universitäten Straßburg und Metz sind die einzigen in Frankreich, wo man einen staatlich anerkannten Doktortitel in Theologie erwerben kann.
System im System
Auch das System der Sozialversicherung ist hier ein anderes als die Sécurité nationale („la Sécu“) im Rest des Landes. Es blieb sogar eine Reihe von Gesetzen gültig, die noch von Bismarck eingeführt worden sind. Wie sind solche Sonderrechte innerhalb des französischen Einheitsstaats zu rechtfertigen? Der Verfassungsrat hat ein ziemlich merkwürdiges Argument in dieser Richtung gefunden: Die Lage darf so bleiben, weil sie nie beanstandet wurde!
Aber soll nun auch die Champagne an den elsässischen Besonderheiten teilhaben? Oder sollen innerhalb derselben Region zwei verschiedene Regime herrschen? Zugleich vertiefen sich die transnationalen Beziehungen. Die Gegend um Straßburg und der deutsche Ortenaukreis wachsen immer mehr zusammen. Lothringen ist gewissermaßen zweigeteilt. Metz geht zusammen mit Luxemburg und dem Saarland, Nancy mit Freiburg und Basel.
Protestierende gegen den Brexit in Edinburgh. Die Mehrheit der Schotten wollte in der EU bleiben, Foto: empics/Andrew Milligan via picture alliance.
Ein jährliches Rugby-Turnier heißt Le Tournoi des Six Nations – das Turnier der sechs Nationen. Die Sechs sind England, Schottland, Wales, Nordirland, Frankreich und Italien. The United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland sind nicht in jeder Hinsicht united. Das gilt vor allem für den Sport: Wales hätte beinahe England in der Fußball-Europameisterschaft geschlagen.
Das gilt auch beim Brexit: Die Mehrheit der Schotten wollte in der EU bleiben. Die Drohung, man würde eine neue Abstimmung organisieren, um die Unabhängigkeit Schottlands zu erreichen, steht im Raum. In den 51,3 Prozent, die für den Austritt stimmten, sind auch die relativ wenigen schottischen Wähler enthalten. Das Vereinigte Königreich besitzt 65 Millionen Einwohner, Schottland nur 5,3 Millionen und das „keltische“ Wales knapp 3 Millionen. Eine Grenze zwischen England und Schottland wäre denkbar, mit Blick auf die Geschichte und in Anbetracht der Ölressourcen in der Nordsee – die allerdings immer weniger werden und immer weniger echten Reichtum bedeuten.
Die Mehrheit der Schotten wollte in der EU bleiben. Die Drohung, man würde eine neue Abstimmung organisieren, um die Unabhängigkeit Schottlands zu erreichen, steht im Raum.
Die Bundesrepublik Deutschland hat keine solche Probleme. Der Begriff „Freistaat“ ist für Sachsen und Bayern bedeutungslos. Die bayerische Vergangenheit spielt keine große Rolle mehr, sonst würde man stets Napoleon dafür danken müssen, dass er das Königreich Bayern geschaffen, und sich nie auf das Grundgesetz berufen hat, das Bayern ja abgelehnt hatte. Niemand will mehr die Pfalz annektieren, und leicht wird vergessen, dass auch das protestantische Franken ein Teil von Bayern ist.
Nur ein bayerisches Gesetz ist unvergessen und in ganz Deutschland gegenwärtig: Am 17. September 2016 wurde das Münchner Oktoberfest im Zeichen des Reinheitsgebots eröffnet, das vor 500 Jahren, am 23. April 1516, erlassen wurde. Die bayerische Identität bleibt in dieser Weise gesichert. Nur die CSU scheint zu glauben, dass Bayern heute ein Sonderweg beschieden sei, jenseits der Gemeinschaft der anderen Bundesländer.
Quelle: Alfred Grosser (2017): Le Mensch. Die Ethik der Identitäten. Bonn: Dietz. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Bonner Dietz-Verlags.
Über den Autor
Alfred Grosser
Publizist und Politikwissenschaftler
Alfred Grosser war ein französischer Publizist und Politikwissenschaftler deutscher Abstammung. Er war zudem Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Träger des großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland, der Wilhelm-Leuschner-Medaille 2004 sowie vieler anderer Auszeichnungen und Preise. Er ist Autor zahlreicher Publikationen und Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kontinente.
Kulturreport Fortschritt Europa
Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.