Die Lokomotiven Europas

Das Gespann von Deutschland und Frankreich hat die EU geprägt wie kein anderes. Die beiden Länder verfolgen zwar in einzelnen Politikfeldern unterschiedliche Methoden und Ziele, doch es gelingt ihnen meist, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen – zum Vorteil für Europa.

Gehören Deutschland und Frankreich als Paar selbst zu den europäischen Institutionen? Die Antwort sollte ein klares Jein sein! Natürlich nicht, aber doch. Grassroot-Partnerschaften haben sich seit den 1950er Jahren ständig vermehrt, ebenso die wissenschaftliche Zusammenarbeit. Der Elysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 hat manches institutionalisiert oder spätere Institutionalisierungen erlaubt, so auch die Deutsch-Französische Hochschule in Saarbrücken, die keinen Unterricht erteilt, sondern gemeinsame Studiengänge verwaltet oder schafft.

Am 15. Juni 1963 verabschiedete der Bundestag, der den Text des Vertrags nicht verändern konnte, eine Präambel zum Gesetz, das die Ratifizierung erlaubte. Sie enthielt so ziemlich alles, was gegen de Gaulles Politik gerichtet war: die Hoffnung auf den Beitritt Großbritanniens, eine enge Bindung zu Amerika, die Verteidigung im Rahmen der NATO.

Intime Zusammenarbeit

Durch den deutsch-französischen Elysée-Vertrag wird die intime Zusammenarbeit der beiden Heere auf Generalstabsebene und darunter organisiert, wie überhaupt die Zusammenarbeit sämtlicher Ministerien. Die Minister müssen sich häufig treffen, die höheren Beamten auch, was die direkte Zusammenarbeit während (und nach) den persönlichen Begegnungen sehr gefördert hat. Die deutsch-französischen Gipfeltreffen sind seit 2003 durch den Deutsch-Französischen Ministerrat ersetzt worden, zu dem zweimal im Jahr alle Regierungsmitglieder beider Staaten erscheinen.

Er ist leider immer mehr zu einer Pflichtübung geworden. Keine Pflichtübung geworden ist die wohl beste Schöpfung des Elysée-Vertrags, nämlich die Institution des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW). Die geleistete Arbeit war und ist erstaunlich und weitet sich auf andere junge Europäer aus – auf viel mehr Arbeiter- und Angestelltenkinder als noch vor wenigen Jahren, und dies obwohl sich seine Struktur traurigerweise verändert hat.

Die „deutsch-französische Freundschaft“ wird ständig beschworen, am meisten durch Erinnerungsfeiern. Aber die Kanzlerin hat es ernst gemeint, als sie am 16. Dezember 2015 im Bundestag mit Blick auf die Attentate von Paris sagte: „Die deutsch-französische Freundschaft ist ein Teil unserer historischen Verantwortung. Sie ist unverrückbarer Teil unserer Außenpolitik und sie ist elementar für den europäischen Einigungsprozess.“

Der Gedanke einer deutsch-französischen Herrschaft in Europa, eines deutsch-französischen Steuerrads ist zu Recht verworfen worden, aber die Rolle des deutsch-französischen Motors wird auch oft unterschätzt. Wenig hätte sich in der Gemeinschaft entwickelt ohne deutsch-französische Initiativen.

Wie sehen, wie empfinden das die Anderen in Europa? Der Gedanke einer deutsch-französischen Herrschaft in Europa, eines deutsch-französischen Steuerrads ist zu Recht verworfen worden, aber die Rolle des deutsch-französischen Motors wird auch oft unterschätzt. Wenig hätte sich in der Gemeinschaft entwickelt ohne deutsch-französische Initiativen. Wenn dem Motor der Treibstoff neuer Vorschläge fehlt, bleibt er stehen. Die schöpferischsten Zeiten waren die der Paare Helmut Schmidt / Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Kohl / François Mitterrand. Wie sieht es zur Zeit von Angela Merkel aus? Nicolas Sarkozy verkündete als seinen Vorschlag, was die Kanzlerin ihm gerade mitgeteilt hatte. Mit François Hollande und Emmanuel Macron gab es den Versuch gemeinsamer Vorschläge für Europa. Aber auf mindestens drei wichtigen Gebieten waren die Unterschiede noch zu groß:

  1. Die Aufnahme von Flüchtlingen. Beide behaupten, zusammen gebe es eine Gemeinsamkeit, was schlicht unwahr ist.
  2. Brexit. Die deutsche Seite zeigt eher Nachsicht – so groß sind die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands im Vereinigten Königreich. Die französische Seite zeigt sich eher unnachgiebig, um Marine Le Pen und anderen Europa-Gegnern zu beweisen, dass ein Frexit große Nachteile nach sich ziehen würde.
  3. TTIP/CETA. Die Verhandlungen für die transatlantische Freihandelszone haben Konflikte gezeitigt, die nun überholt sind, da Donald Trump zu einem harten Protektionismus zurückgekehrt ist.

TGV für Amerika

Verhandelt wird von der EU-Kommission. Amerika hat keineswegs den Buy American Act von 1933 abgeschafft, und als die französische Firma Alstom TGV-Züge an Kalifornien verkaufte, unterwarf man sich der Bedingung, dass die Wagen in Amerika fabriziert werden müssen. Amerikanische Firmen dürfen jedoch ihre in den USA gefertigten Fabrikate weiter nach Europa liefern! Und auch amerikanische Filme kommen schon amortisiert nach Europa, was Schutzmaßnahmen für französische Filme durchaus rechtfertigt. Die hervorragende dänische Kommissarin Margrethe Vestager will im Namen Europas Apple zwingen, mehr Steuern zu zahlen. Ist dadurch so etwas wie eine wirtschaftliche europäische Identität gesichert?

Wohl kaum. Das Gegenteil kann ziemlich leicht behauptet werden. Nicht nur, weil immer mehr europäische Betriebe von China aufgekauft werden, sodass China zu einem wichtigen Teil der europäischen Wirtschaft aufgestiegen ist, sondern auch durch die negative und die positive Rolle der USA. Lange wurde Alan Greenspan, Präsident der amerikanischen Zentralbank Fed, in Europa wie in den USA hoch verehrt. Allerdings ist er es, der die Finanzkrise von 2008, an der Europa noch heute leidet, verschuldete. Er hat zugelassen, dass unzählige Familien Kredite erhielten, um Häuser zu kaufen, die dann an Wert verloren, sodass die Kredite platzten.

Jeder Kommissar ein Verräter

Auf einem Gebiet gibt es allerdings ein wirtschaftliches Europa: in der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP– PAC auf Französisch und in der Brüsseler Sprache). Sie ist von der EU nicht wegzudenken seit ihrer Einführung 1958. Sie wurde oft reformiert, jedes Mal unter dem Protest der landwirtschaftlichen Verbände, die jeden Agrar-Kommissar des Verrats bezichtigten, angefangen mit dem Niederländer Sicco Mansholt. Bis 1992 galt es, die Preise zu stützen, dann wurden die Einkommen der Landwirte subventioniert. Anfangs ging es ihnen noch um die Modernisierung ihrer Produktion, oft zum Preis hoher Verschuldung.

Die Großen und Reichen bekommen mehr als die Kleinen und Armen. 80 Prozent der Hilfen gehen an 20 Prozent der Produzenten, darunter Geflügel- und Zuckergroßunternehmen.

1945 gab es in Frankreich 28.000 Traktoren, ein Vierteljahrhundert später 1,2 Millionen. Heute beträgt das Budget der GAP 50 Milliarden Euro pro Jahr, das sind 38 Prozent des gesamten EU-Haushalts. 40 Milliarden sind für direkte Hilfen und Maßnahmen zum Schutz der Marktbedingungen, zehn Milliarden für die „landwirtschaftliche Entwicklung“ (den Schutz des ländlichen Raums und den Erhalt der biologischen Vielfalt). Die Großen und Reichen bekommen mehr als die Kleinen und Armen. 80 Prozent der Hilfen gehen an 20 Prozent der Produzenten, darunter Geflügel- und Zuckergroßunternehmen.

Die Landwirte sind natürlich für die freie Marktwirtschaft, aber jeder Betrieb muss mit Subventionen am Leben gehalten werden, wenn er bankrott ist. Nicht nur in der Landwirtschaft gilt das Prinzip: Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren. Dabei bleibt die GAP weiterhin der größte wirtschaftliche Identifikationspunkt des organisierten Europas. Aber Moment mal: Ist das nicht der Euro? Oder die Europäische Zentralbank?

Einfach ist die Antwort nicht. Die EZB hat im Juli 2016 einen großen Sieg davon getragen. Das Bundesverfassungsgericht hat die umstrittene Rettungspolitik der EZB gebilligt und vor allem dem Europäischen Gerichtshof zugestanden, das beinahe alleinige Entscheidungsrecht über europäische Fragen zu beanspruchen. In die Enttäuschung vieler Antragsteller in Karlsruhe mischte sich Bitterkeit. Ist „Super-Mario“ der Retter der Währungseinheit und der europäischen Landwirtschaft schlechthin?

Oft wurde Mario Draghi als Totengräber dargestellt, insbesondere von der Bundesbank und ihrem ehemaligen Chef Jens Weidmann sowie mit fast denselben Worten von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Unbestritten ist, dass er durch seine Entscheidung, den Euro um jeden Preis zu retten, diesen in der Tat gerettet hat. Ist der massive Ankauf von Staatsanleihen nicht gefährlich für das europäische Bankensystem? Dieses Geld ermöglicht, die Wirtschaft durch Darlehen anzukurbeln. Dabei könnte die Bundesrepublik besonders froh sein. In Milliarden Euro gerechnet, beliefen sich die Ankäufe von Staatsanleihen bis Mitte 2016 in Deutschland auf 238, in Frankreich auf 189, in Italien auf 164 und in Spanien auf 118.

Was aber, wenn sich die Wirtschaft nicht erholt? Passt das überhaupt zusammen mit dem Druck, der auf alle Länder ausgeübt wird, um ihre Finanzen zu sanieren? Ist die EZB dabei nicht zu nachsichtig mit Portugal und Spanien und vor allem Frankreich? Die Bank hält an ihrer Niedrigzinspolitik fest. Das erlaubt billige Finanzierungen beim Häuserkauf, aber schadet den Rentnern und Investoren.

Euro stiftet weiterhin Identität

Was bleibt, ist, dass der Euro weiterhin europäische Identität stiftet – solange seine Existenz nicht infrage gestellt wird. Jedoch gibt es einige Experten, die genau das fordern, wenn auch mit der Voraussage, dass dann die neuen nationalen Währungen gleich um 20 Prozent abgewertet werden müssten.

Noch größere Unsicherheit besteht im Streit um den Atomausstieg. Wo und wie die Endlagerung von Atommüll gesichert sein soll, ist nirgends je ganz geklärt worden, und Jahrzehnte nach Tschernobyl besteht in Europa keine Einheit in dieser Frage. Auch nach der Abstimmung zum Brexit lässt sich England von Frankreich einen besonders teuren Großreaktor mit neuer Technik bauen. Die deutschen Reaktoren sollen nach und nach vom Netz gehen. Die Verteilung der Atommeiler in der Welt zeigt, dass die Frage gewiss keine nur europäische ist. Aktuell sind in 31 Ländern weltweit 402 Reaktoren in Betrieb. In der EU stehen 127 in 15 Ländern, die meisten in Frankreich.

In Deutschland sollen alle 18 bis zum Jahr 2022 abgestellt werden. Das Atomkraftwerk Fessenheim an der französisch-deutschen Grenze sollte gestoppt werden, und sei es nur, weil deutsche Experten Sicherheitsmängel festgestellt haben. Doch Hollandes Versprechen wurde nicht gehalten, und die Bevölkerung lief Sturm gegen die Schließung, wegen der drastischen Stellenkürzungen in Fessenheim und Umgebung.

Die Wirtschaft kann nur dann identifikationsstiftend sein für das organisierte Europa, wenn das Gesellschaftliche dazukommt. Die vielleicht reichste Gegend der Welt erlebt eine dramatische Jugendarbeitslosigkeit. Im Juli 2016 waren in Deutschland nur 7,2 Prozent der unter 25-Jährigen arbeitslos, in Frankreich sind es schon 24,4 Prozent, in Portugal 26,3 Prozent, in Italien 39,2 Prozent, in Spanien 43,9 Prozent und in Griechenland 50,3 Prozent. Nur Island steht besser da als Deutschland.

Ist das ein Beweis dafür, dass Deutschland letzten Endes die Personifizierung Europas ist? Die Wirtschaftsdaten, eine Mischung aus Bewunderung und Neid bei den anderen scheinen darauf hinzuweisen – und nicht zuletzt ein heimliches Heer: Immer mehr deutsche Beamten besetzen wichtige Posten im EU-Parlament und in der Kommission. Frankreich hat allmählich auf den alten überheblichen Führungsanspruch in Europa verzichtet. Premierminister Georges Pompidou hatte noch 1964 in einer Pressekonferenz gesagt: „Frankreich soll die Rolle Europas spielen“ (nicht: „eine Rolle in Europa“).

Das Atomkraftwerk Fessenheim an der französisch-deutschen Grenze sollte gestoppt werden, und sei es nur, weil deutsche Experten Sicherheitsmängel festgestellt haben.

Auch auf deutsch-französischem Gebiet sind Veränderungen spürbar. Ist es Zufall, dass das gemeinsame, erstaunlich erfolgreiche Großunternehmen Airbus lange in den Händen eines deutschen Präsidenten, Thomas Enders, lag? Was aber dieses Europa in Wirklichkeit sein sollte, das hat Angela Merkel in ihrer Bundestagsrede vom 29. September 2015 beeindruckend definiert: „Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft und als solche eine Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft.“ Es wäre schön, wenn diese Definition für sie und für Europa auch in der aktuellen Flüchtlingstragödie Bedeutung hätte.

Quelle: Alfred Grosser (2017): Le Mensch. Die Ethik der Identitäten. Bonn: Dietz. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Bonner Dietz-Verlags.

Über den Autor
Portrait von Alfred Grosser
Alfred Grosser
Publizist und Politikwissenschaftler

Alfred Grosser war ein französischer Publizist und Politikwissenschaftler deutscher Abstammung. Er war zudem Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Träger des großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland, der Wilhelm-Leuschner-Medaille 2004 sowie vieler anderer Auszeichnungen und Preise. Er ist Autor zahlreicher Publikationen und Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kontinente.

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