Terrorattacken in Paris, Brüssel und Kopenhagen, Anti-Islam-Demonstrationen in etlichen europäischen Ländern. Was läuft falsch in Europa? Klar ist, dass viele Brüche in den Gesellschaften herrschen.
Fast alle haben es gemerkt: Wir haben ein Problem. Eigentlich mehr als eines, ein ganzes Problemknäuel. In den Niederlanden ist die Partij voor de Vrijheid (PVV) von Geerd Wilders weiter ein Indiz für breite Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Bedingungen, insbesondere der Migrationspolitik. In Frankreich hat es der Front National geschafft, in die erste Reihe der Parteien aufzusteigen, in Großbritannien versetzt die United Kingdom Independence Party (UKIP) die etablierten Parteien in Angst und Schrecken. Und in Griechenland haben die neofaschistische Chrysi Avgi („goldene Morgenröte“) und die rechtspopulistische Anexartiti Ellines (ANEL, „Unabhängige Griechen“) Wahlerfolge zu verzeichnen.
In Deutschland schließlich drückten PEGIDA („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“), LEGIDA und andere Basisbewegungen eine Zeitlang lautstark ihre kultur- und politikkritische Befindlichkeit aus, die sich um Ausländer- und Islamfeindlichkeit gruppierte. Die populistische AfD, „Alternative für Deutschland“, nimmt diese Stimmungen teils taktisch, teils aus Überzeugung auf. Pöbeleien und Angriffe gegen Juden haben in Europa in den letzten Jahren zugenommen.
Neben dem Aufstieg von rechtspopulistischen oder rechtsradikalen Parteien und Bewegungen darf man auch eine Radikalisierung mancher Migrantengruppen nicht übersehen: Aufgrund von Ghettoisierung und Pauperisierung kam es nicht allein in den französischen Banlieues immer wieder zu Unruhen, meist durch Jugendliche (2005 vor allem bei Paris, 2007 in Villier-le-Bel, 2010 in Grenoble oder 2012 in Amiens). Auch in anderen Ländern gab es immer sozial und kulturell bedingte Krisensituationen, die auf ein teilweises Scheitern früherer Integrationspolitik verwiesen.
3.500 europäische Dschihadisten
Ein besonderes Alarmzeichen stellt natürlich der gewachsene Dschihadismus dar, der in Städten wie Madrid, London, Paris, Brüssel oder Kopenhagen bereits zu Terrorakten führte. Inzwischen sind auch bereits mehr als 3.500 europäische Dschihadisten (mehr als ein Drittel davon aus Frankreich, fast 700 aus Deutschland, etwa ebenso viele aus Großbritannien, gefolgt von Belgien) nach Syrien und in den Irak gereist, um sich dort extremistischen Gruppen wie dem Islamischen Staat oder der Nusra-Front anzuschließen.
Zusammengenommen zeigen diese Phänomene des rechtsextremistischen oder rechtspopulistischen Aufschwungs bei gleichzeitiger Stärkung dschihadistischer oder salafistischer Tendenzen in Europa nicht nur die kulturelle Bandbreite der europäischen Gesellschaften, sondern sind zugleich ein Krisensymptom, das auf grundlegende Probleme dieser Gesellschaften verweist.
Zusammengenommen zeigen diese Phänomene […] nicht nur die kulturelle Bandbreite der europäischen Gesellschaften, sondern sind zugleich ein Krisensymptom, das auf grundlegende Probleme dieser Gesellschaften verweist.
Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Salafismus und Dschihadismus sind zugleich politische, gesellschaftliche und kulturelle Phänomene. Sie verbindet eine holzschnittartige Freund-Feind-Zurechnung und die Projektion eigener oder gesellschaftlicher Probleme auf ein kollektives Feindbild.
Bemerkenswert ist, dass die Feindseligkeit gegen bestimmte Gruppen offensichtlich nicht darauf angewiesen ist, dass diese größere Anteile an der Bevölkerung stellten oder dramatisch wuchsen. So liegt der Anteil von Juden in Frankreich bei knapp einem, in Deutschland unter einem Viertel Prozent der Bevölkerung, und der Anteil der Muslime in Sachsen – dem Bundesland, in dem die PEGIDA/LEGIDA-Bewegung die mit Abstand größte Bedeutung gewann – bei 0,1 Prozent.
Zumindest in Deutschland scheint es also so zu sein: Islamfeindlichkeit gedeiht dort am besten, wo es praktisch keine Muslime gibt. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass die politisch-kulturell geprägte Wahrnehmung einer Gruppe wesentlich bedeutsamer ist als die Relevanz oder der Charakter der fraglichen Gruppe in der Lebensrealität. Offensichtlich gibt es in der Gesellschaft grundlegende Widersprüche und Probleme, die auf bestimmte Personengruppen projiziert werden – je nach Kontext auf Ausländer, Juden, „Ungläubige“, Schwule oder Muslime.
04. Mai 2015: Anhänger des islamkritischen Bündnisses PEGIDA treffen sich in Dresden zu einer Kundgebung, Foto: Matthias Hiekel via dpa/picture alliance.
Deshalb sollten solche Phänomene politisch-kultureller Ab- und Ausgrenzung als Krisensymptome ernst genommen werden, ohne die entsprechenden Diskurse und Mentalitäten allerdings zum Nennwert zu nehmen oder aufzuwerten.
Hausgemachter Extremismus?
Genau darin liegt auch die größte Schwierigkeit ihrer konstruktiven Bearbeitung: Es handelt sich bei Xenophobie oder Dschihadismus fraglos um politisch-kulturelle Phänomene, die aber nicht nur kulturell, sondern mit gesellschaftlichen und politischen Fragen aufs Engste verknüpft sind. Deshalb entziehen sie sich auch einer oberflächlichen Bearbeitung durch bloße Kulturpolitik, wie durch Bildungsangebote, Aufklärung, oder interkulturelle Dialoge. So sinnvoll all diese und andere Angebote und Maßnahmen auch sind, so wenig werden sie bewirken, wenn sie isoliert bleiben und nicht durch gesellschaftliche und politische Maßnahmen ergänzt werden.
Nehmen wir als Beispiel das Problem des zunehmenden Salafismus und Dschihadismus in Europa. Diese werden inzwischen von drei sozialen Gruppen getragen: Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten, die sich nur zeitweise in Europa aufhalten; Kinder oder Enkel aus muslimisch geprägten Einwandererfamilien, die bereits hier geboren wurden und aufgewachsen sind; und europäische Konvertiten, die zum Islam übergetreten sind.
Es muss allerdings daran erinnert werden, dass Extremisten in allen drei Gruppen nur verschwindend kleine Minderheiten ausmachen. Dabei stellen quantitativ und qualitativ die radikalisierten Mitglieder der beiden letzten Gruppen das größere Problem dar. Dies bedeutet, dass in Europa Salafismus und Dschihadismus zwar mit ausländischen und internationalen Problemen verknüpft sein mögen, aber keine importierten Phänomene sind, sondern den europäischen Gesellschaften selbst entspringen. Die Voraussetzungen und Bedingungen dieses Extremismus sind hausgemacht, nur ihre kulturelle Ausprägung direkt oder indirekt von Diskursen und Problemen im Nahen und Mittleren Osten oder Südasien beeinflusst.
Ihre sozialen Träger etwa in Deutschland sind meist entweder ethnische Deutsche, deutsche Staatsbürger oder zumindest Bildungsinländer – was auf sozio-kulturelle Brüche in der deutschen Gesellschaft verweist, die durch externe Konfliktfaktoren zwar vertieft, gefärbt und kulturell ausgedrückt werden können, aber nicht verursacht sind. In anderen europäischen Ländern, etwa Frankreich, Großbritannien oder Belgien ist es ähnlich, wenn dieser Trend auch in Großbritannien am schwächsten ausgeprägt zu sein scheint.
Die Voraussetzungen und Bedingungen dieses Extremismus sind hausgemacht, nur ihre kulturelle Ausprägung direkt oder indirekt von Diskursen und Problemen im Nahen und Mittleren Osten oder Südasien beeinflusst.
Betrachten wir die salafistische und insbesondere die dschihadistische Szene in den meisten europäischen Ländern, dann fällt – im Unterschied zu vielen salafistischen Kadern im Nahen und Mittleren Osten – auf, dass der Anteil an problematischen Biografien hoch ist. In überdurchschnittlich vielen Fällen verfügen salafistische Extremisten, insbesondere jene, die sich al-Qaida-nahen Gruppen oder dem „Islamischen Staat“ anschließen möchten oder mit ihnen sympathisieren, um wenig eindrucksvolle Bildungskarrieren, haben beruflich mäßigen oder geringen Erfolg, und nicht selten zumindest eine Phase (oft klein-) krimineller Aktivitäten hinter sich.
Ich-Schwäche und Perspektivlosigkeit
Manche der heutigen salafistischen Anhänger und Dschihadisten haben Erfahrungen mit Alkohol- oder Drogenmissbrauch und führten insgesamt ein Leben, das von ihren heutigen Idealen weit entfernt ist. Ich-Schwäche, Perspektivlosigkeit und das Empfinden des eigenen Scheiterns führen entweder zu einer aktiven Suche nach einer neuen, besseren Lebensperspektive oder zur Offenheit gegenüber neuen, von außen kommenden Sinnangeboten, die ein „besseres“ und „richtiges“ Leben versprechen.
Dazu kommen immer wieder persönlich emotionale Faktoren, wie das Suchen nach Anerkennung, nach Nähe, nach einem Familienersatz durch eine reale Peergroup und/oder eine gedachte Gemeinschaft der „Rechtgläubigen“.
Es gibt nicht nur einen einzigen Weg der Radikalisierung. Oftmals spielen viele Faktoren, wie Alkoholprobleme, Drogenmissbrauch oder Perspektivlosigkeit eine Rolle, Foto: Rolf Vennenbernd via dpa/picture alliance.
Offensichtlich gibt es nicht nur einen einzigen Weg zur Radikalisierung. Es ist ebenso klar: Meist müssen mehrere Faktoren zusammenkommen. Dennoch fällt auf, dass es sich bei der deutlichen Mehrheit politischer und dschihadistischer Salafisten in Europa nicht um Intellektuelle, nicht um Ärzte und Rechtsanwälte, auch nicht um erfolgreiche Handwerker oder Geschäftsleute handelt, sondern eher um Personen, die sozioökonomisch, gesellschaftlich und zum Teil kulturell objektiv oder subjektiv marginalisiert sind.
Aus einer solchen Position der realen oder gefühlten Schwäche können die Angebote des politischen und dschihadistischen Salafismus attraktiv erscheinen: Neben der Möglichkeit der Partizipation an einer Peergroup von „Brüdern“ können sich die Mitglieder nun als „stark“, als eine Elite, den Anderen (nämlich nicht-salafistischen Muslimen, Juden, Christen, Atheisten, Säkularen, der deutschen Gesellschaft) gegenüber als überlegen wahrnehmen.
So wird in der eigenen Wahrnehmung und im eigenen Empfinden aus individuellen „Losern“ eine kollektive Avantgarde – gerade für ich-schwache und sozial verunsicherte Personen eine attraktive Option. Die Nestwärme der verschworenen Gemeinschaft der Peergroup „Brüder“ stabilisiert und wärmt, während der elitäre Anspruch, in einem Meer des Unglaubens unerschütterlich den wahren Glauben zu vertreten und dabei jedes Risiko auf sich zu nehmen, um ihm zum Durchbruch zu verhelfen, selbst gescheiterten Existenzen das Gefühl von Sinn und Wichtigkeit verleiht.
All dies sind im weiteren Sinne auch kulturelle Erscheinungen, wenn auch auf einer sehr persönlichen Ebene. Ihre Entstehungsbedingungen haben zuerst einmal nichts mit Gott oder mit Theologie zu tun, sie sind auch nicht islamspezifisch, sondern drücken Defizite aus, die auch sozial schwache nicht-muslimische Gruppen und Personen betreffen. Persönliche oder soziale Verunsicherung, objektive oder subjektive Perspektivlosigkeit, die Suche nach Sinn bei dem Gefühl von Sinnlosigkeit, Identitäts- oder Ich-Schwäche – dies sind zuerst einmal säkulare Faktoren, die sich aus dem persönlichen oder gesellschaftlichen Kontext ergeben, und keine religiösen oder theologischen. Allerdings: diese Faktoren können die Tür zur religiösen (oder auch nicht-religiosen) Radikalisierung öffnen.
So ist es kein Zufall, dass viele der beschriebenen Faktoren der Radikalisierung auch bei Rechtsextremisten oder Hooligans eine wichtige Rolle spielen. Weitere Gemeinsamkeiten bestehen in einer Überbetonung von Maskulinität und „Stärke“, der impliziten oder expliziten Abwertung von Frauen und „Anderen“, der Abwertung außenstehender Gruppen, der Betonung von „Entschlossenheit“, sowie Gewalterfahrung bzw. Gewaltaffinität.
Imagined Community
Pointiert könnte man formulieren: Salafismus stellt nur eine kulturell angepasste Variante des Rechtsextremismus dar. Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei, arabischen Ländern oder Pakistan werden es schwierig finden, als Verherrlicher der „weißen Rasse“ oder des „Germanentums“ oder „Griechentums“ aufzutreten, von den unvermeidlichen Glaubwürdigkeitsproblemen bzw. dem Akzeptanzproblem in der rechtsextremen Szene einmal abgesehen. Der salafistische bzw. dschihadistische Extremismus stellt hier zur Erfüllung der gleichen psycho-politischen Funktionen einen vollwertigen Ersatz dar, der statt auf „Rasse“ und „Deutschtum“ auf eine bestimmte religiöse Gemeinschaft rekurriert – eine „imagined community“ im Sinne des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Benedict Anderson.
Rechtsextreme oder salafistische „Kultur“ sind also keine isolierten Erscheinungen, sondern eng verknüpft mit persönlich-psychologischen, gesellschaftlichen und politischen Phänomenen, ohne die sie weder verstanden noch beeinflusst werden können.
Die Radikalisierung wird nicht über den Verstand in Gang gesetzt, sondern über psychologische Bedürfnisse, die entweder durch radikale Gruppenzusammenhänge oder radikale Ideologien befriedigt werden.
Die zugrundeliegenden Probleme sind nicht ideologischer Art (etwa bestimmte Ausprägungen von Religion oder Nationalismus), sondern vor allem Orientierungslosigkeit, gesellschaftliche Unsicherheit, Perspektivlosigkeit und Identitätsschwäche. Ohne solche Faktoren, die zwar als individuelle erscheinen, aber gesellschaftliche Quellen haben, würden die Propagandisten extremistischer Ideologien kaum Chancen haben, mehr als einzelne Anhänger zu finden. Die Radikalisierung wird nicht über den Verstand in Gang gesetzt, sondern über psychologische Bedürfnisse, die entweder durch radikale Gruppenzusammenhänge oder radikale Ideologien befriedigt werden.
Es ist auch kein Zufall, dass der größte Teil der Salafisten theologisch ausgesprochen ungebildet ist und eher vom elitär-exklusiven Anspruch des Salafismus und seiner intellektuellen Schlichtheit angesprochen werden als von theologischer Reflexion. Der Salafismus ist in Europa oft ein Mittel, die Gruppen von ihrer Umgebung abzugrenzen und die Gruppenidentität zu schärfen, die Gruppenmitglieder von ihrer Umgebung und der Gesellschaft zu isolieren – und dazu sind extremistische Übertreibungen von Vorteil, während theologische Feinheiten wenig zielführend waren. Der politische und dschihadistische Salafismus sind zuerst einmal politisch-soziale Bewegungen, ihre religiösen Aspekte dem nachgeordnet – wenn man die Realität dieser Gruppen zum Maßstab nimmt, nicht ihre Propaganda.
Islamfeindlichkeit ohne Muslime
Genauso drücken die Aktivitäten der islamfeindlichen PEGIDA/LEGIDA-Bewegungen nur nebenbei Islamfeindlichkeit aus, sondern viel mehr: Eine allgemeine Fremdenfeindlichkeit, eine Unzufriedenheit mit dem politischen System, den deutschen Parteien und politischen Bedingungen und eine allgemeine gesellschaftliche Verunsicherung. Das ist auch der Grund dafür, dass in Dresden und Leipzig die Islamfeindlichkeit sehr gut ohne Muslime auskommt – letztlich ist sie nur ein kultureller Marker, um eine viel breitere und tiefere Krise der Befindlichkeit eine Stimme zu geben.
Selbst wenn die Zahl der Muslime in Sachsen von 0,1 Prozent ganz auf null sinken würde, dürfte dies an der gesellschaftlichen Verunsicherung großer Teile der sächsischen Bevölkerung kaum etwas ändern. Der Unterschied zur salafistischen Szene besteht offensichtlich darin, dass PEGIDA ausgesprochen heterogen ist und über keine gemeinsame, integrierende Ideologie verfügt, dazu Vorurteile und Stimmungen aus der Mitte der Gesellschaft aufgreift. Xenophobie, Parteienfeindlichkeit, Unbehagen und Angst vor dem „Anderen“, die Ablehnung „derer da oben“ oder Skepsis gegenüber den Massenmedien sind sicher in großen Teilen der Gesellschaft verbreitet.
Das Spezifische an PEGIDA besteht vielmehr darin, solche Befindlichkeiten zu kombinieren, emotional aufzuladen und zur Mobilisierung zu nutzen. Die ideologischen Details der PEGIDA-Szene sind nebensächlich, der Ausdruck von Unbehagen und Protest zentral. Es ist deshalb kein Wunder, dass bei der kürzlich stattgefundenen Spaltung der Bewegung ein Teil innerhalb weniger Tage das zentrale Themenfeld von „Islamfeindlichkeit“ auf die „Stärkung direkter Demokratie“ verschieben konnte. Die Geschwindigkeit dieses Themenwechsels hat Teile der Anhängerschaft taktisch überfordert, ist aber ein Hinweis darauf, mit welcher Beliebigkeit das gesellschaftliche Unbehagen sich ideologisch unterschiedlich auszudrücken vermag.
Die ideologischen Details der PEGIDA-Szene sind nebensächlich, der Ausdruck von Unbehagen und Protest zentral.
Überlegungen, die kulturellen Erscheinungen wie Fremdenfeindlichkeit, politischen Salafismus und ideologische Radikalisierung insgesamt zurückzudrängen oder ihnen vorzubeugen, sollten nicht an den Symptomen ansetzen, sondern an der Krankheit. Das bedeutet, dass eine rein kulturelle Reaktion zu kurz greifen wurde. Vielmehr sollten kulturpolitische Maßnahmen mit politischen und sozialpolitischen verknüpft werden. Antisemiten über das Judentum oder Islamfeinde über islamische Theologie oder Gebräuche aufklären zu wollen, waren für sich genommen so aussichtslos wie Rassisten gegenüber wissenschaftlich nachzuweisen, dass Rassismus unsinnig und falsch ist.
Die Extremisten wurden schließlich nicht durch Wissenslücken, durch Argumente und logische Abwägungen zu solchen, sondern in der überwältigenden Mehrheit durch eine Mischung von persönlichen oder emotionalen Bedürfnissen, individueller und kollektiver Identitätsbildung und gesellschaftspolitischer Verunsicherung, die sich schließlich eine politisch-ideologische Form gab.
Marginalisierung, Sinnentleerung und mangelnde soziale Einbettung
Eine Auflockerung oder ein Aufbrechen des ideologischen Panzers der extremistischen Basis (nicht unbedingt der Führungskader, deren Ideologisierung sich oft verfestigt und verselbständigt hat) muss auch diese nicht-ideologischen Dimensionen einbeziehen. Langfristig ist es wichtig, die Bedingungen zu bearbeiten, die eine Radikalisierung hervorrufen. Und da tatsächliche oder empfundene Marginalisierung, Sinnentleerung und mangelnde soziale Einbettung in den meisten Fällen zu den Ausgangspunkten der kulturell-politischen Radikalisierung gehören, sollten diese bei der Entwicklung von präventiven und kurativen Entradikalisierungsstrategien besondere Aufmerksamkeit erhalten.
Extremistische Propaganda – rassistische, nationalistische, oder dschihadistische – wirkt nicht auf alle Menschen gleich, sondern radikalisiert nur solche, für die sie eine emotional nützliche Funktion erfüllt. Erfolgreiche Menschen mit einer positiven Lebensperspektive werden in Europa von rassistischer oder dschihadistischer Propaganda kaum erreicht, weil diese für sie kaum Sinn ergibt.
Die primäre Zielgruppe für Präventionsprogramme gegen Radikalisierung sind in Deutschland Gruppen, deren Lebenssituation von Unsicherheit, geringem Sozialprestige, Sorgen vor den zukünftigen Ergebnissen sozialen Wandels, Angst vor potentieller oder realer gesellschaftlicher Marginalisierung und Isolation geprägt sind. Genau diese Gruppen sind aufgrund ihres oft unterdurchschnittlichen Bildungsniveaus (nicht unbedingt aufgrund geringer Intelligenz) besonders schwer durch rein kulturelle Angebote zu erreichen. Sie radikalisieren sich nicht, weil sie von vornherein das Bedürfnis dazu hatten, sondern weil ihnen ihre Radikalisierung scheinbare oder wirkliche Lösungen zur Kompensation ihrer biographischen Fragilität anbietet.
Es wäre daher angebracht darüber nachzudenken, wie sich in den europäischen Gesellschaften der Anteil jener vermindern lässt, die an den Rand der Gesellschaft geraten oder dort verbleiben. Soziale Inklusion auch schwächerer Bevölkerungsgruppen – auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssystem, kulturell – und die Verbesserung der Lebensperspektiven auch von Menschen mit fragilen Biografien sind nicht einfach zu erreichen, wären aber der Kernpunkt einer präventiven Deradikalisierung.
Dies gilt nicht allein für Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei oder arabischen Ländern, sondern auch für Problemviertel großer Städte, etwa in Teilen von Paris und Brüssel sowie in Teilen Ostdeutschlands oder des deutschen Ruhrgebiets. Es geht dabei nicht nur darum, Entwicklungen wie in den französischen Banlieues zu verhindern, sondern das seit Jahren in Europa stattfindende Auseinanderdriften von Arm und Reich und die Verarmung eines Teiles der Gesellschaft umzukehren.
Soziale Inklusion auch schwächerer Bevölkerungsgruppen […] und die Verbesserung der Lebensperspektiven auch von Menschen mit fragilen Biografien sind nicht einfach zu erreichen, wären aber der Kernpunkt einer präventiven Deradikalisierung.
Soziale Unsicherheit ohne Aussicht, die eigene Lage mittel- oder längerfristig verbessern zu können, führt nicht nur auf Dauer bei den Betroffenen selbst zu sozioökonomischer, politischer und kultureller Marginalisierung, sondern untergräbt die Legitimität der Gesellschaft und des politischen Systems. Beides zusammengenommen würde Radikalisierungsprozesse weiter erleichtern und die Zahl potenzieller Rekruten vergrößern. Sollte es dagegen gelingen, den Anteil sozio-ökonomisch prekär Lebender und Marginalisierter an der Bevölkerung deutlich zu vermindern, wäre dies ein wichtiger Beitrag zur langfristigen, präventiven Deradikalisierung. Auf einer solchen Basis entständen dann auch neue Möglichkeiten, durch „kulturpolitische“ Intervention radikale Ideologien zurückzudrängen.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass es immer einzelne Personen gibt und geben wird, die extremistische Positionen vertreten, ob diese aber eine winzige und isolierte Gruppe von „Spinnern“ bleiben oder schrittweise Anhänger gewinnen und zu einem politisch relevanten Faktor werden, hängt davon ob, ob ihre Gesellschaft funktioniert und alle Gruppen integriert, ob das politische System legitim ist oder von breiteren Teilen der Bevölkerung als Fremdkörper empfunden wird.
Im Rahmen einer fairen und funktionierenden Gesellschaft und einer unbestritten legitimen Form von Politik vermag Aufklärung über Minderheiten, über religiöse oder ethnische Gruppen und Dialoge zum Abbau von Konflikten einen wirksamen Beitrag leisten. Ohne diese Voraussetzungen aber muss ihre Wirkung begrenzt bleiben.
Über den Autor
Jochen Hippler
Politikwissenschaftler und Friedensforscher
Dr. Jochen Hippler ist Politikwissenschaftler und Friedensforscher. Von 2019 bis 2022 war er Länderdirektor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Islamabad/Pakistan und zuvor Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität von Duisburg-Essen. Schwerpunkte seiner Arbeit umfassen den Zusammenhang zwischen politischer Gewalt, Governance und politischen Identitäten und militärischen Interventionen durch westliche Länder im Nahen Osten, Afghanistan und Pakistan.
Kulturreport Fortschritt Europa
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