Illustration: Ein Männchen steigt eine Leiter in den Himmel in Richtung Megafon hinauf.

Eine Stimme für die Stimmlosen

Die südafrikanische Regierung setzt auf Kultur, um Zusammenhalt und gegenseitiges Verständnis zu erzielen. In Brasilien wird Musik eingesetzt, um die Jugend von Drogen und Kriminalität wegzulocken. Insbesondere Percussion scheint den Nebeneffekt zu haben, Frustration und Aggression in Harmonie zu verwandeln.

Für viele Sozialwissenschaftler sind kulturelle Phänomene etwas Nebensächliches – ein bloßes Abbild der wirklich wichtigen Faktoren, die das Leben bestimmen: Wirtschaft, Vermögenswerte, der Besitz von Produktionsmitteln und die politische Macht, die auf dieser materiellen Basis beruht. Nach Karl Marx bestimmen materielle Bedingungen die sozialen und kulturellen Verhältnisse einer Zeit. Laut Marx und seinen Anhängern darf derjenige bestimmen, was richtig, schön und gerecht ist, der das Geld und die Macht hat. Das Kulturleben reflektiert lediglich die grundlegenden Macht- und Besitzverhältnisse.

Es gibt unzählige Beispiele für die tiefgreifende Strukturierung von Lebenswelten durch mächtige und einflussreiche Eliten. Und aus diesem Bezugssystem ergeben sich nach wie vor viele aufschlussreiche Fragen und Antworten. Wie jedes andere theoretische Bezugssystem bietet es jedoch nur eine Art, die Wirklichkeit zu betrachten. Eine andere wurde von dem Italiener Antonio Gramsci (1891 bis 1937) entwickelt. In seinen „Gefängnisheften“ dachte er über die Autonomie der Kultur nach, die irgendwann einmal auf eine bestimmte Weise etabliert und definiert wurde. Spätere Autoren, die in der Tradition von dem Deutsch-Österreicher Edmund Husserl (1859 bis 1938) und dem Österreicher Alfred Schütz (1899 bis 1959) schrieben, führten noch detaillierter aus, wie Kultur, die einmal institutionalisiert ist, autonom werden und manchen unmittelbaren Veränderungen der materiellen Bedingungen standhalten kann.

Gramsci führte den Begriff der „Kulturellen Hegemonie“ ein – eine Situation, in der sich eine bestimmte Version oder Definition von Kultur auf die materiellen Bedingungen auswirkt und dabei die Handlungen sowie die Gedanken von Menschen beeinflusst, strukturiert und beschränkt. Nach Gramsci wurde der Inhalt dieser kulturellen Hegemonie fast immer durch Eliten bestimmt, er beschränkte die Möglichkeiten der Armen oder der Arbeiterklasse. Insbesondere Schütz hat ausgeführt, unter welchen Bedingungen bestimmte Verhaltensmuster institutionalisiert werden und so ein gewisses Maß an Unabhängigkeit von materiellen Lebensbedingungen ermöglichen.

Der US-Amerikaner Thorstein Veblen (1857 bis 1929), der etwa zur gleichen Zeit wie Gramsci geschrieben hat, glaubte, dass „feine Leute“ nur deshalb in auffälliger und unproduktiver Weise konsumieren, um sich abzugrenzen und ihren elitären Status neu zu bestätigen.

Zitat von Theodor W. Adorno: Kunst jedoch ist sozial, nicht nur aufgrund der Art ihrer Produktion, in welcher sich die Dialektik von Zwängen und Beziehungen der Produktion konzentriert und auch nicht nur aufgrund der sozialen Herleitung ihres thematischen Materials. Viel wichtiger ist, dass Kunst sozial wird durch ihre Opposition zur Gesellschaft, und diese Position nimmt sie nur als autonome Kunst ein.
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Seiner Meinung nach war die Elitenkultur leer und bedeutungslos und zielte vor allem darauf ab, den Status zu erhalten und wieder neu zu sichern, und eben nicht darauf, zum allgemeinen Wohlergehen beizutragen. Diese Elitenkultur erwuchs nicht einfach aus den materiellen Bedingungen, die sie dann reflektierte, sondern Kultur und Gewohnheiten wirkten vielmehr zurück auf die materiellen Bedingungen.

Der Soziologe deutsch-jüdischer Herkunft Norbert Elias (1897 bis 1990) ging mit dieser Analyse sogar noch einen Schritt weiter, indem er zeigte, dass die oberen Klassen unablässig neue kulturelle Formen und Verhaltensweisen entwickeln, um sich vom Rest der Gesellschaft abzusetzen –, der dann wiederum versucht, die neuesten Eigenheiten der Eliten zu imitieren. Damit beginnt ein nie endendes Katz-und-Maus-Spiel, das immer weniger praktische, vernünftige und zweckmäßige Verhaltensweisen und kulturelle Ausdrucksformen nach sich zieht.

Alle diese Theorien und Bezugssysteme verweisen auf die autonome Macht der Kultur. Kultur, die einmal geschaffen und institutionalisiert worden ist, wirkt sich auch wieder auf die Gedanken und Verhaltensweisen der Menschen aus und bestimmt, was diese für richtig, schön und angemessen halten. Darüber hinaus stimmen die zuvor erwähnten Autoren darin überein, dass Kultur zwar einen Hang zur Elite hat, aber auch das Leben gewöhnlicher Menschen beeinflusst. Denn sie steuert und begrenzt deren Möglichkeiten, auf der sozialen Leiter nach oben zu kommen, indem sie die Gewohnheiten der Reichen nachahmen. Der Statuserhalt ist, in anderen Worten, zum großen Teil performativ, und kulturelle Ausdrucksformen erlauben es, sich dauerhaft abzugrenzen.

Ein solches Bezugssystem erlaubt es auch, über das befreiende Potenzial der Kultur und der Kulturproduktion nachzudenken. Wenn Kultur bis zu einem bestimmten Grad autonom ist und sich auf Möglichkeiten und Werte der Menschen auswirkt, dann besitzt sie auch das Potenzial, ihr Leben in negativer oder positiver Weise zu prägen und zu verändern.

Das entscheidende Element in dieser Gleichung ist der Inhalt der Kultur mitsamt der Werte und Vorlieben, die sie transportiert. Wenn nun normalerweise die Reichen und Mächtigen den Inhalt der Kultur mit ihren Vorlieben bestücken – Vorlieben, welche nicht echt sind, sondern bestimmt von der Notwendigkeit, sich abzugrenzen –, dann kann eine progressive oder revolutionäre Kultur und Kunst, die auf sozialen Wandel, mehr Demokratie, mehr Teilhabe, mehr Selbstbestimmung und mehr Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichberechtigung abzielt, Werte und Vorlieben, die mit diesen Werten verbunden sind, verbreiten und vermitteln.

Die daraus resultierende Utopie ist die „Bürgerkultur und Bürgerkunst“ –, eine Kultur, die zu einer stärkeren und bedeutungsvolleren Demokratie anregt. Die Demokratie erneuert sich schließlich durch Verbindungen, die im öffentlichen Raum gebildet werden, wie der deutsche Philosoph Jürgen Habermas betont hat – und Kultur und Kunst sind öffentliche Ausdruckweisen par excellence.

Dies ist eine Utopie, weil sich die öffentlichen Räume und die Medien, die diese beeinflussen, informieren und sogar aufrechterhalten, in Wirklichkeit meist in Privatbesitz befinden und damit spezifische und nicht allgemeine Interessen vertreten, von denen die meisten kommerzieller Natur sind. Aber Utopie hin oder her –, wenn Kultur und Kunst als potenziell autonom und gesellschaftlich konstruiert wahrgenommen werden, steckt in ihnen ein Potenzial für sozialen Wandel. Und diese Haltung erklärt auch, wie und durch welche Mittel ein solcher Wandel möglich ist.

In einem wahrhaft demokratischen System sollten öffentliche Räume sowie die Medien, die diese herstellen und beeinflussen, demzufolge demokratische, das heißt allgemeine Ziele verfolgen, und sie sollten sich inhaltlich mit Themen wie Bürgerschaft, Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung beschäftigen. Wenn sie dies täten, hätten sie das Potenzial, einen demokratischen öffentlichen Raum zu konstituieren, der eine demokratische Kultur aktiv verbreitet, nicht zuletzt durch die Produktion und Verbreitung demokratischer und aufklärerischer Kunstwerke.

 

Eine Person wird kunstvoll mit dem Aufschrieb "Escape the Ordinary" beleuchtet.
Der Statuserhalt ist zum großen Teil performativ, und kulturelle Ausdrucksformen erlauben es, sich dauerhaft abzugrenzen, Foto: Dollar Gill via unsplash

Welt demokratischer Kultur

In so einer Welt hat die demokratische Kultur das Potenzial, all jene zu beeinflussen, die von ihr erreicht werden und sich mit ihr beschäftigen, und dabei nicht nur ihre Gedanken und Handlungen, sondern auch ihre Normen, Werte und Vorlieben zu prägen.

Wir können die Macht von Kultur und Kunst erkennen, indem wir uns ansehen, welchen Einfluss sie in den Gesellschaften hat, die am stärksten durch den Markt bestimmt werden. Dort besteht ihre hauptsächliche und hegemoniale Funktion darin, Konsumismus, Individualismus und Materialismus zu verbreiten. Diese Art von Marktkultur ist tatsächlich so durchdringend und mächtig, dass sie das kontinuierliche Funktionieren marktwirtschaftlicher Systeme sicherstellt, immer wieder neue Bedürfnisse sowie einen steten Drang nach Konsum erzeugt. Ohne sie könnten Märkte nicht funktionieren und sich konstant erweitern.

Aber was kann die Kultur in Konfliktsituationen erreichen? In einem treffenden Artikel mit dem Titel „Zivilgesellschaft, Pluralismus, Goldlöckchen und andere Märchen in Afrika“ behauptet der amerikanische Politologe Leonard Markovitz (2002), dass die Zivilgesellschaft und infolgedessen auch Kultur und Kunst in Bürgerkriegen und Konfliktsituationen machtlos sind. Wo Waffen sprechen, gehen die oft flüchtigen Stimmen von Künstlern, nachbarschaftlichen Gruppen und zivilen Akteuren unter. Dort, wo sich öffentliche Räume aufgrund von Angst, Hass und gegenseitigem Misstrauen leeren, kann sich demensprechend auch die Demokratie nicht erneuern. Markovitz zeigt auf, ähnlich wie andere Menschen realpolitischer Gesinnung, dass Staaten und Staatsgewalt die grundlegenden Bürgerrechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit erhalten, durchsetzen und schützen müssen, ohne die demokratische Kultur nicht gedeihen kann.

Wenngleich dieses Argument sicherlich einleuchtend ist und viele Situationen erklärt, in denen Kultur und Kunst durch Waffen, Angst und Gewalt an den Rand gedrängt werden, gibt es doch mehrere empirische Beispiele, die dem widersprechen und vielleicht eine Ausnahme zu dieser Regel darstellen. Zusammen betrachtet erlauben diese Beispiele einige vorläufige Schlüsse und Verallgemeinerungen zur autonomen Macht von Kultur und Kunst in Konfliktsituationen.

Eines der auffälligsten Negativbeispiele für die Macht von Kultur und Medien, ist der Bürgerkrieg in Ruanda. Dort konnten Radiosender auf alte Ressentiments zurückgreifen, aktiv eine Kultur des Hasses verbreiten und diese letzten Endes zu einem Genozid steigern. Der Bürgerkrieg in Ruanda zeigt deutlich die Macht der Kultur und der Medien, Menschen zu mobilisieren und ihnen analytische Bezugssysteme aufzuzwingen, die Menschen in ihren Gedanken und Handlungen leiten. Ethno-politische Unternehmer, die von ihren Organisationen unterstützt werden, können die Medien einsetzen und manipulieren, um ihre eigenen Ziele voranzubringen und Zwietracht wie Hass zu verbreiten.

Plattformen für Begegnung

Der Künstler Brian Rolfe restauriert ein Wandgemälde, das den emeritierten anglikanischen Erzbischof Desmond Tutu darstellt.
Der Künstler Brian Rolfe restauriert ein Wandgemälde des emeritierten anglikanischen Erzbischofs Desmond Tutu, Kapstadt, Südafrika, Foto: Nardus Engelbrecht / ASSOCIATED PRESS via picture alliance

Abgesehen von Ruanda haben wir die brutale Macht der Medien in Nazideutschland erlebt, wo sie kulturelle Normen geformt und geprägt haben, und erleben sie überall dort, wo bestimmte Bezugssysteme und Sichtweisen so lange propagiert werden, bis sie zum neuen Mainstream werden. Diese Macht muss jedoch nicht zwangsweise für negative Ziele genutzt werden, da der Inhalt, den die Medien verbreiten, weder vorgegeben noch sonst irgendwie vorab definiert ist.

Ein sehr positives Beispiel für die Macht von Kultur, Medien, Kunst, Zivilgesellschaft und öffentlichem Raum für die Überwindung von Trennung ist das Südafrika nach der Apartheid. Dort begann das neue Ministerium für Kunst und Kultur unmittelbar im Anschluss an die Bekämpfung der Apartheid, kulturelle und künstlerische Veranstaltungen zu unterstützen, die explizit darauf abzielten, die verschiedenen Gruppen Südafrikas zusammenzubringen, die zuvor durch das Gesetz getrennt und auseinandergehalten worden waren.

Ich erinnere mich an ein Treffen mit einem Vertreter der neuen südafrikanischen Regierung in den späten 1990er Jahren, der mie erzählte, dass Südafrikner verschiedener ethnischer Herkunft nun zum ersten Mal zusammenkommen konnten. Kultur und Kunst erwiesen sich als die wichtigsten Bühnen für diese Begegnungen. Es dürfte deshalb keine Überraschung sein, dass Kultur und Kunst in dieser nach wie vor stark gespaltenen Gesellschaft als Bühnen oder Plattformen betrachtet werden, um Zusammenhalt, Austausch, gegenseitiges Lernen und Respekt zu üben.

Im Juni 2012 präsentierte das südafrikanische Ministerium für Kunst und Kultur daher eine „Nationale Strategie für die Entwicklung einer inklusiven und kohäsiven südafrikanischen Gesellschaft“. „Dies ist der Entwurf des Ministeriums für Kunst und Kultur (DAC) für eine nationale Strategie des sozialen Zusammenhalts und der Staatenbildung.“ Unter dem Konzept „Ubuntu“, das so viel bedeutet wie gegenseitige Anteilnahme, Teilen und Einsatz für das soziale Wohlergehen, formuliert dieser Bericht die Vision des Ministeriums für Kunst und Kultur als das Bemühen, „die südafrikanische Kultur zu entwickeln und zu erhalten, um den sozialen Zusammenhalt und die Staatenbildung zu sichern“. Weiter heißt es:

„Dieses Mandat leitet sich ab von seinen Rollen als öffentlicher Wächter der verschiedenen Kulturen, Sprachen und des Erbes der Südafrikaner sowie seiner Rolle als nationaler Führer, der innovative Entwicklungen für das gesamte Spektrum der Künste als kreative, wirtschaftliche und soziale Tätigkeiten und Träger einer dynamischen Gesellschaft öffentlich unterstützt. Demzufolge decken die Programme des Ministeriums die Verwaltung von Kunst und Kultur ab in den Bereichen Gesellschaft, Sprache, Förderung des Erbes, nationale Archive, Aufzeichnungen, Bibliotheken und Wappenkunde.“

Die südafrikanische Regierung setzt also auf Kultur und Kunst als Mittel, um Zusammenhalt, gegenseitiges Verständnis und Respekt zu erzielen und um das lange und schwere Erbe des Kolonialismus und der Apartheid zu überwinden. Indem sie dies tut, betont sie die Bedeutung, Relevanz und Macht von Kultur und Kunst. Diese Macht ist beträchtlich, wie sich am Beispiel der integrativen südafrikanischen Sportarten schnell zeigt. Die Symbolik und der nachhaltige Einfluss von Fußball, Rugby oder Kricket reichen sicherlich über die Menschen hinaus, die unmittelbar an den Spielen teilnehmen. Auch dem Rest der Nation und selbst dem internationalen Sportpublikum wird eine starke Botschaft vermittelt, ihnen werden Werte des Zusammenlebens nahegebracht und es wird die Verbindung gefeiert – und damit errichtet man eine neue demokratische hegemoniale Kultur, die sich positiv auf Werte, Normen und Motivationen von Menschen auswirken kann und somit auch die materiellen Bedingungen ihres Lebens beeinflusst.

Die Symbolik und der nachhaltige Einfluss von Fußball, Rugby oder Kricket reichen sicherlich über die Menschen hinaus, die unmittelbar an den Spielen teilnehmen.

Es gibt viele ähnliche Beispiele für die Macht von Kultur und Kunst, demokratische Werte zu vermitteln, die Orientierung und Motivation für demokratisches Handeln bieten, Werte, die das Potenzial haben, sich auf die materiellen Bedingungen auszuwirken.

In Brasilien wird häufig Musik eingesetzt, um die Jugend von Drogen und Kriminalität wegzulocken. Weithin bekannte Nichtregierungsorganisationen wie Viva Rio, AfroReggae, ISER, Pracatum, Bagunçaço und viele andere bieten alle Musikunterricht nach der Schule an, um die städtische Jugend in armen und marginalisierten Vierteln in positive und konstruktive Tätigkeiten einzubinden. Im Kampf dafür als voller und gleichwertiger Bürger anerkannt und geachtet zu werden, hat sich Musik als mächtiges Werkzeug erwiesen. Musik ist ein Weg, in die Selbstachtung von Gruppen zu investieren, die in der Geschichte schlecht behandelt und nicht respektiert wurden, Opfer eines tief verwurzelten strukturellen Rassismus.

Als Musiker bekommen arme Jugendliche aus den Städten eine Stimme und einen Platz in einem öffentlichen Raum, in einer Plattform – oder, in diesem Fall, auf einer Bühne. Indem ihre Stimmen gehört werden, können sie das ihnen auferlegte Schweigen brechen und sichtbar werden. Ihre Stimmen bereichern den öffentlichen Raum in Brasilien auf wichtige und nachhaltige Weise, indem sie ihn vielfältiger machen und ihn zum Nachdenken über die eigene multikulturelle Gesellschaft anregen.

Insbesondere Percussion scheint den Nebeneffekt zu haben, Frustration und Aggression in Harmonie zu verwandeln. Die brasilianische Percussion-Formation „O Zárabe“, gegründet und geleitet von dem aus Bahia stammenden Musiker Carlinhos Brown, veranschaulicht dieses Potenzial. In einem Fernsehinterview, das Brown in den späten 1990er Jahren gab, erklärte er, dass die 200 Männer, die mit ihm laufen, trommeln und singen, während sie durch die Straßen von Bahia ziehen, ihre Energie ebenso dazu nutzen könnten, zu rauben und zu stehlen, indem sie eine „arrastão“ starten, das heißt einen Überfall, der von einer Gruppe von Dieben angeführt wird, die mitnehmen, was immer ihnen in den Weg kommt. Stattdessen, so erklärte Brown, sei „O Zárabe“ ein friedliches, musikalisches arrastão, das die Energie der jungen Männer in die Musik umleitet (O Zárabe besteht ausschließlich aus jungen schwarzen Männern).

Die Macht der Musik, Spaltungen zu überwinden, kann man auch in den Vereinigten Staaten erleben, wo die Trennungen zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe weltweit mit am schärfsten sind. In Städten wie New Orleans und Memphis, wo Afroamerikaner die Musikszene dominieren, erleben wir, wie Integration ganz praktisch in Bands und auf Karnevalswagen vor sich geht.

Dort beteiligen sich weiße Amerikaner – die ansonsten die Hauptakteure und Profiteure des amerikanischen Rassismus sind – an kulturellen Ausdrucksformen der Schwarzen, und immer wenn sie dies tun, werden sie und ihre schwarzen Bandmitglieder zu einer Einheit.

Beide Städte haben eine wichtige Geschichte schwarzer Musik, zeichnen sich aus durch diesen ansonsten seltenen Kontakt zwischen Schwarz und Weiß, der ihren Musikszenen zu entspringen scheint, aber letztendlich auch ihre Gesellschaften prägt und sie von den anderen amerikanischen Städten abhebt. New Orleans und Memphis zeigen, dass Kultur, Musik und Kunst ansonsten voneinander getrennte Menschen und Gruppen für ein Projekt zusammenbringen können –, sei es, um als Team zu spielen, eine Band zu gründen oder einfach Kulturereignisse wie Karnevals gemeinsam zu genießen. Wann immer dies passiert, bietet die kulturelle Praxis Orientierung, Motivation und praktische Beispiele für gemeinsame Aktionen, die jene verbinden, die so oft nicht miteinander verbunden sind.

Zitat von Joseph Beuys: Kunst hat mit Leben zu tun. Nur aus der Kunst heraus kann ein neues ökonomisches Konzept entworfen werden, mit Bezug auf den Bedarf des Menschen, nicht im Sinne von Gebrauch und Konsum, Politik und Besitz, sondern vor allem im Sinne der Herstellung spiritueller Güter.
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Kultur wird politisch

Der argentinische Denker Enrique Dussel und sein französischer Kollege Jacques Rancière plädieren beide dafür, dass wir überdenken müssen, was „das Politische“ ausmacht. Während Dussel behauptet, dass alles politisch ist, meint Rancière, dass die meisten politischen Probleme ihren Ursprung in der Gesellschaft haben, aber mit politischen Mitteln in Angriff genommen werden können. Die meisten politischen Probleme erwachsen tatsächlich aus sozialen und kulturellen Problemen. Um sie erfolgreich anzugehen, braucht es mehr als politische Lösungen.

Wenn Kultur als Instrument genutzt wird, um gesellschaftliche Trennungen, Argwohn oder sogar Hass zwischen Gruppen abzubauen, wird Kultur tatsächlich politisch, wie Dussel meint. Okwui Enwezor, der künstlerische Leiter der Documenta 11 (2002), erklärt dies in seinem Buch „The Short Century“: Kultur und Kunst haben die Macht, Trennungen zwischen Menschen und Gruppen herbeizuführen, aufzulösen und neu herzustellen. Grundsätzlich ist der Konflikt zwischen Gruppen das Ergebnis, wenn einige Menschen als anders oder besser als andere Menschen dargestellt werden und man damit die Privilegien der Ersteren rechtfertigt. In Krisensituationen wird oft nach dem Staat gerufen, der politisch aktiv werden soll, ein solches Handeln kann aber die Definitionen und Bezugssysteme, die Menschen und Gruppen gegeneinander gerichtet haben, nicht verändern. Kultur und Kunst können es.

Über den Autor
Portrait von Bernd Reiter
Bernd Reiter
Professor für Politikwissenschaft

Bernd Reiter ist Professor für Politikwissenschaft an der Texas Tech University, USA. Seine Ausbildung erhielt Reiter in Politikwissenschaft, Lateinamerikanistik, Soziologie und Anthropologie an der Universität Hamburg und am Graduate Center der City University of New York. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Themen Demokratie, Ethnizität und Dekolonisierung.

Bücher (Auswahl):

  • Decolonizing the Social Sciences and Humanities: An Anti-Elitism Manifesto. New York: Routledge, 2022
  • The Routledge Handbook of Afro Latin American Studies, with John Anton Sanchez. New York: Routledge, 2022
  • Legal Duty and Upper Limits: How to Save our Democracy and our Planet from the Rich. New York: Anthem Press, 2020

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.