Ein Mann harkt Zen-Garten innerhalb eines Kopfes

Erinnern und vergessen

Wie unterscheidet sich die gesellschaftliche Aufarbeitung von Amokläufen in Europa und den USA? Welche Bewältigungsstrategie führt langfristig zu mehr gesellschaftlicher Resilienz: Erinnerung und Aufarbeitung oder Vergessen und Auslöschung?

Wie wurden der Breivik-Prozess und Norwegens Aufarbeitung der Massenmorde in den USA wahrgenommen? Man stelle all dem den Amoklauf in den Vereinigten Staaten, in Aurora, Colorado, vom Juli 2012, gegenüber. Auch er war kein klassischer Amoklauf, sondern – wie Breiviks Tat – eine wohlkalkulierte Mischung aus organisiertem Massenmord, Anschlag und Entfesselung einer angeblichen, proto-kulturellen „Selbstbehauptung“ des Einzelnen gegen die Gemeinschaft.

In Militärkleidung gehüllt, tötete ein ehemaliger Student zwölf Menschen und verletzte 58 weitere. Die insgesamt 70 durch Schussverletzungen in Mitleidenschaft gezogenen Opfer, zwischen sechs und 51 Jahren alt, machten den Fall Aurora zum Amoklauf mit den meisten Opfern in der gesamten US-Geschichte seit 1776.

Da er sich der Attentäter unter günstigen Situations-Bedingungen der Polizei laut um Gnade bittend ergab, wurde er – im Unterschied zur überwiegenden Mehrzahl ähnlicher Fälle in den USA, und im Gegensatz zu einem in Amerika ungeschriebenen Gesetz bei derartigen Fällen – nicht von der Polizei am Tatort getötet, sondern widerstandslos festgenommen. 

In der Woche nach dem Aurora-Massaker stiegen die Waffenverkäufe in Colorado um 43 Prozent gegenüber dem Mittel der Vorwoche, und zwar auf 2.887. Das wären etwas mehr als 150.000 Neukäufe pro Jahr bei einer Gesamtbevölkerung von leicht über fünf Millionen (das heißt relativ genau der Bevölkerungszahl Norwegens entsprechend) und einem bereits vergleichsweise großen Sättigungsgrad.

Amerikanische Bewältigungsstrategien

Den amerikanischen „Bewältigungsstrategen“ des Falls Aurora war klar, dass man dazu vorausgehend eine andere Frage beantworten muss: Wie viele Amokläufe oder Massenmorde pro Jahr gibt es eigentlich in den USA – mit wie vielen Toten? 

Der Unterschied zwischen kleinfamiliären Gesellschaften und größeren Nationen ist hier ausschlaggebend. In Norwegen war der Massenmord Breiviks die Ausnahme, ein Jahrhundertereignis, während er in den USA ein fast alltägliches Kulturphänomen darstellt. Statistisch geschieht in den USA alle zwei Wochen ein Amoklauf oder ein „Massenmord“ – wie es hier im Unterschied zum Serienmord heißt. 

In der Woche nach dem Aurora-Massaker stiegen die Waffenverkäufe in Colorado um 43 Prozent gegenüber dem Mittel der Vorwoche.

Massenmord ist laut der international anerkannten, vom US-Büro für Gerichtsstatistiken (US Bureau of Justice Statistics) Washington DC geprägten Definition, wenn mehr als vier Menschen an ein und demselben Ort „in Tateinheit“ und über einen relativ kurzen Zeitraum hinweg ermordet werden.

Bereits zwischen 1976 und 1985 gab es laut offiziellen Statistiken und Untersuchungen der Universitäten von Virginia und der Northeastern University Boston, geleitet von James Fox und Jack Levin, laut derer das Phänomen erst um das Jahr 1966 als „eingebürgertes, dauerhaftes“ Kulturphänomen begann, in den USA im Durchschnitt drei Massenmorde oder Amokläufe pro Monat, mit mehr als 1700 Opfern allein in den zehn untersuchten Jahren.

Zwischen 2007 und 2009 waren es 79 Amokläufe und Massenmorde, wenn man nur Massenmorde mit mehr als vier Opfern zählt – mit drei Opfern wären es nach vorsichtigsten Schätzungen bereits fünfmal so viele, also 400. Zwischen 2007 und 2009 wurden bereits 1.600 Opfer von Massenmorden gezählt. Allein im Jahr 2008 wurden in den USA 421 Schießereien am Arbeitsplatz („workplace shootings“) registriert, die zum Teil in den Massenmordsektor fallen, und zwischen 2004 und 2008 war der Durchschnitt 564 mit der Arbeit zusammenhängende Morde pro Jahr.

Unter anderem als Folge der unterschiedlichen gesellschaftlichen „Einbettung“ und Häufigkeit sind die „kulturellen“ Bewältigungsstrategien in den USA völlig anders als in Europa, zumal als in Norwegen. 

Während die Vergangenheitskulturen Europas Bewältigung instinktiv durch Erinnern und Präsenthalten des Geschehenen bewerkstelligen wollen, setzt die US-Zukunftskultur, wie es ihrem Geist und Selbstverständnis entspricht, auf die Überwindung von Vergangenheit mittels der „Lösung ein für allemal“ – meist mittels gewalttätiger Beseitigung des Täters. Danach wird das Geschehen mehr oder weniger bewusst der Vergessenheit anheimgegeben, um den Blick auf die Zukunft zu richten.

In Europa steht der Täter, der in den meisten Fällen verhaftet und vor Rache geschützt wird, im Mittelpunkt der Erinnerungs- und Aufarbeitungsbemühung, und seine Psyche wird analysiert und dabei notgedrungen kulturell ausgebreitet; in Amerika wird der Täter in den meisten Fällen getötet und danach systematisch vergessen. Während man sich in Europa an Namen erinnert, bleiben die meisten Massenmörder in den USA unbekannt und bilden wenig kollektive Erinnerung aus. 

Als Folge der unterschiedlichen gesellschaftlichen ‚Einbettung‘ und Häufigkeit sind die ‚kulturellen‘ Bewältigungsstrategien in den USA völlig anders als in Europa.

Ein Grund dafür ist schlicht und einfach die Zahl. Während Norwegen für einen einzigen „Massenmord“ Breiviks 13 Monate „Aufarbeitung“ ansetzte, würden Nationen wie die USA bei ähnlichem – sowohl politischem, psychologischem, kulturellem wie medialem – Aufwand angesichts der Anzahl an Amokläufen und „Massenmorden“ faktisch nichts anderes mehr tun als ständige, unablässige und unaufhörliche „Aufarbeitungsarbeit“ zu leisten.

Aurora war innerhalb dieses Gesamtbildes eine der wenigen Ausnahmen von der ungeschriebenen US-Regel: Wer Amok läuft oder einen Massenmord im öffentlichen Raum begeht, muss mit dem sofortigen Tod rechnen, und nur in Ausnahmefällen mit der Festnahme. Wenn bei der Aktion ein Polizist verletzt wird, ist der Tod noch wahrscheinlicher. Wer lauf Polizisten schießt, wird in den USA laut einem ungeschriebenen Gesetz, das von Republikanern aktiv und von Demokraten schweigend unterstützt wird, mit wenigen Ausnahmen so lange gejagt, bis er getötet ist. 

Aurora: Ausnahme von der Regel?

In den USA wurden 80 Prozent der „Attentäter“ seit 1980 erschossen oder begingen entweder „Selbstmord“ oder „cop suicide“ (gewolltes Erschießenlassen durch Polizisten). Den restlichen 20 Prozent droht – ungleich dem Fall Breivik mit seiner Einsperrung in ein mit Millionenaufwand eigens für ihn gebautes, hochmodern mit allem Komfort ausgestattetes Gefängnis – in vielen Fällen die Todesstrafe, womit dasselbe Prinzip der „Auslöschung“ nur zeitlich verschoben angewandt wird.

Ist dieses – seit der Formung einer spezifischen US-Zivilreligion und -Mythologie auf dem „Weg nach Westen“ vom 17. bis 19. Jahrhundert tief in der US-Kultur verankerte – „Verfahren“ der „Auslöschung, Schlussstrich ziehen, dann weiter“ „weniger geeignet“ als die Erinnerungs- und Aneignungsmethode Europas, wie der norwegische Politiker und Diplomat Jan Egeland meint? 

Mit anderen Worten: Ist Auslöschung und Verdrängung, ist Vergessen kulturell im Prinzip „schlechter“ als Erinnerung und Präsenthalten? Ist die Betonung des Endes weniger zielführend als die Kontinuität der Erinnerung? Mit welchem Verfahren werden Neuanfang und Zukunft eher ermöglicht? Und welche Methode ist zur „Bewältigung“ von traumatischem Geschehen besser geeignet?

Die USA haben auch deswegen ein anderes Verfahren der „Bewältigungs“-Kultur, weil ihr kollektives Unbewusstes ein anderes ist als das europäische – und zwar nicht nur wegen des unterschiedlichen zivilisatorischen Alters der beiden atlantischen Kulturen. Ein dafür ganz wesentlicher, auch und gerade in den USA noch weitgehend unterschätzter, wenn nicht gar verdrängter Faktor besteht in der latenten Gewalttätigkeit des kollektiven US-Unbewussten wegen des verdrängten Völkermords an den Indigenen Amerikas', dem quantitativ vermutlich größten Völkermord der Geschichte.

Erst die Obama-Administration beginnt seit Ende 2011 damit, mit offizieller Entschuldigung und Entschädigungszahlungen für Unrecht, Landenteignung und Mord die Geschehnisse langsam aufzuarbeiten – während alle anderen vorher das Thema verdrängt und sogar mehr oder weniger verleugnet haben.

Wenn man verdrängt und vergisst, wie dies das historische Amerika „mit Gewalt“ tut, um die Zukunft zu betonen, und dafür den Preis der Vergangenheit zu bezahlen in Kauf nimmt, hat das gewisse Vorteile, vor allem hinsichtlich Entwicklungsgeschwindigkeit und Unbelastetheit des gesellschaftlichen Vorwärtsdralls. Es hat aber auch – gerade, wenn man von langfristiger Resilienzfähigkeit von offenen Gesellschaften spricht – den nicht zu unterschätzenden Nachteil, dass sich dadurch, wie wir nicht erst seit den „postmodernen“ Gesellschaftsanalysen von Gilles Deleuze und Félix Guattari, Jean François Lyotard und Jaques Lacan wissen, ein Unbewusstes bildet.

Paradoxon der Gegenwart

In der Tat ist genau dies das zentrale amerikanische Paradoxon der Gegenwart, verankert in seiner Geschichte: Amerika löscht alle Herkunftskulturen; leugnet Minderheiten- und Gruppenrechte zugunsten der Einmaligkeit, Kultur- und Herkunftsunabhängigkeit, Wahrheitsmächtigkeit und Unverwechselbarkeit des Einzelnen; und setzt dafür Zukunft radikal gegen Vergangenheit und Gegenwart mittels des Prinzips der „Löschung“ durch. 

Es hat aber gleichzeitig – eben wegen dieses Verdrängens- und Vergessensprinzips gegenüber dem Kollektiven zugunsten des Individuellen – über Jahrzehnte, ja bereits Jahrhunderte lang ein Unbewusstes ausgebildet, das sich bekanntlich meist mittels Verdrängung aufbaut.

Amerika löscht alle Herkunftskulturen; leugnet Minderheiten- und Gruppenrechte zugunsten der Einmaligkeit, Kultur- und Herkunftsunabhängigkeit, Wahrheitsmächtigkeit und Unverwechselbarkeit des Einzelnen.

Der nicht-aufgearbeitete, verdrängte Völkermord an den Indigenen hat das zukunftsgerichtete Unbewusste Amerikas beeinflusst: Er hat es gegen seinen Willen unbewusst gewalttätig gemacht. Ist das eine Steigerung oder Schwächung von Resilienz? Welche von den beiden Kulturzugängen: Europa oder Amerika, hat die größere, langfristige gesellschaftliche „Widerstandsfähigkeit“ aufzuweisen?

Die Antwort ist – wenigstens aus (zumindest hypothetisch) „dritter“, so weit als möglich unbeteiligter Sicht – ambivalent. Denn beide Zugänge haben Vor- und Nachteile aufzuweisen. Europa hat in gewisser Weise zu viel Erinnerung, Amerika zu wenig.

Europa ist eine Kultur der „universalen Erinnerung“ und daher der Vielschichtenkultur, der Differenzen in Synchronie (und damit des „Einen aus dem Verschiedenen“). Amerika ist eine Kultur der „permanenten Mnemosyne“, und daher der Eindimensionalitätskultur, der „einen“ Zukunft der (vielen verschiedenen) Individualitäten in Monochronie (und daher der „Einheit aus dem Verschiedenen“, was etwas ganz Anderes als das europäische Konzept ist).

Weshalb Europa auch noch heute eine Vergangenheitskultur, Amerika eine Zukunftskultur ist. Europas Übertreibung in der erinnernden, „archivierenden“ Aufarbeitungsbemühung schafft immer mehr mythologischen Ballast, der es letztlich belastet, wie der zu einer Negativ-Ikone gewordene Breivik. Amerikas Auslöschung von Gegenwart und Vergangenheit, um Raum für Zukunft zu schaffen, erzeugt dagegen Verdrängung und damit ein problematisches Unbewusstes, das unterschwellig weiterarbeitet, weil es nicht mit sich fertig wird.

Verdrängen für die Zukunft?

Provokant formuliert, könnte man einerseits behaupten: Vergangenheit, und sei sie noch so „aufgearbeitet“, trennt. Denn sie ist mit Sichtweisen verbunden, die in freien Gesellschaften insofern unversöhnlich sind und auch bleiben müssen, als das Geschehene nicht mehr verändert werden kann.

Zukunft dagegen, errungen selbst um den Preis der Auslöschung, vereint die Menschen, weil sie mit Möglichkeiten und Ambitionen verbunden ist. Ebenso wie Kultur in ihrer Einheit mit Politik und Grenzen des Gemeinwesens im Sinn der klassischen Nationalstaaten die einige Menschheit, die die einzige Möglichkeit für das 21. Jahrhundert ist, verhindert, weil sie trennt; und wie Technologie, die Kultur immer stärker zu ersetzen beginnt, die Menschheit eint, indem sie das Vergangene auslöscht. Beides ist, ohne Ausnahme auf keiner Seite, im Prinzip tragisch. Und daher ist beides zutiefst schmerzhaft – nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gemeinschaft.

Vergangenheit, und sei sie noch so ‚aufgearbeitet‘, trennt.

Offene Gesellschaften, die auf Vergangenheit gebaut sind wie die europäischen, sind, eben weil das Vergangene trennt, auf das Prinzip eines nicht abschließbaren „Widerstreits“ gebaut, wie das der französische Philosoph Jean-François Lyotard in seinem gleichnamigen politikphilosophischen Hauptwerk überzeugend herausgearbeitet hat. Ihre Gegenwart wird als dreidimensional, „körperlich“, reich und unendlich angereichert, weil in ihnen alles Vergangene anwesend ist und sich die Anschauung der Gegenwart so anfühlt, dass eine reiche Vergangenheit das Gegenwärtige hervorgebracht hat, und dieses ist nun deren Frucht – also gleichsam „unendlich“ wertvoll.

Offene Gesellschaften dagegen, die auf Zukunft gebaut sind wie die amerikanische, sind auf das Prinzip einer lebendig „motivierenden“ Zivilreligion gegründet: auf unmittelbar breitenwirksame Ideale, die in ihrem Zentrum das Künftige erschließen – wie im Fall Amerikas das Recht zur Verfolgung des eigenen Glücks, zur eigenständigen Erschließung von Räumen, zur „Ausbreitung“ und Ausweitung der Individualität, zum freien Streben hin zum Besten, was man sich vorstellen kann. Diese zivilreligiösen Ideale wirken im Prinzip vereinigend – und zwar mittels Ambition und der Freude, ja des vorwegnehmenden Stolzes auf das, was künftig möglich sein kann.

Amerikanische Willenskultur

Weil Amerika eine Willenskultur ist, wird Zivilreligion in den USA als unmittelbar mit der Willensbewegung sowohl des Einzelnen wie der Gesellschaft verbunden erlebt. Ohne Zivilreligion, das heißt das Vertrauen auf die unmittelbare Erlebbarkeit der Zukunftsmöglichkeit und ihre gemeinschaftliche mythologische Legitimation und Verankerung, können laut grundlegendem amerikanischen Empfinden Krisen und Traumata nicht bewältigt werden.

Daher auch die viel höhere Wertigkeit von Motivation und „Aktivierung von Idealen“ als Reaktion auf traumatische Ereignisse in den USA – während Europa „Besinnung auf Werte“ eher als Rückgriff auf feststehende Sicherheiten im Sinn einer „vertiefenden Durchdringung“ in den Vordergrund stellt. Damit sind zwei grundverschiedene Gesten sozialer Betrachtung und Bewältigung verbunden.

Nun ist aber Zivilreligion untrennbar von kollektiven Ursprungsmythen. In gewisser Weise ist sie sogar deren säkularer Ausdruck, wenn auch in den USA und Europa auf ganz unterschiedliche Weisen. Für die USA liegt dieser Zusammenhang unmittelbar auf der Hand: Die amerikanische Verfassung ist direkter Ausdruck freimaurerisch-rosenkreuzlerischer und aufklärerischer Ideale, und zwar ausdrücklich und bewusst, was die amerikanischen Gründerväter selbst stets aktiv betont haben und die internationale Forschung sehr gut nachgewiesen hat.

Auch für Europas Geistes-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte gilt: Ohne gemeinschaftsstiftende Mythologie keine Zivilreligion, ohne Zivilreligion kein gesellschaftlicher Kit und keine tragende gemeinsame Ideengrundlage für den Bestand von Gesellschaft – auch wenn sich diese tragende Rolle in Europa viel zurückhaltender und „unsichtbarer“ als in den USA vollzieht.

Wir müssen daher davon ausgehen, dass Widerstandsfähigkeit oder „Resilienz“ einer Gesellschaft zumindest in ihren tieferen Schichten und im Prinzip auch von Zivilreligion abhängig ist und daher letztlich auch von dem Grad, der Art und Weise und der Bewusstheit ihrer kollektiven Mythen. 

Während dies für die Realpolitiken der USA ein täglich präsentes, ja selbstverständliches Faktum ist und auch direkt in Tagespolitiken, Argumentationsformen oder Wahlkampagnen umgesetzt wird, hat Zentraleuropa unter dem Eindruck der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, die unter anderem auf einer Usurpation des Politischen durch (falsche) proto- und zivilreligiöse Überlegenheitsansprüche begründet waren, diese zu Recht lange Zeit skeptisch oder gar mit Zurückweisung betrachtet. Sicherer als die Arbeit mit zivilreligiösen Komponenten schien die Arbeit mit säkularen tagespolitischen Themen.

Wir müssen davon ausgehen, dass Widerstandsfähigkeit oder ‚Resilienz‘ einer Gesellschaft zumindest in ihren tieferen Schichten und im Prinzip auch von Zivilreligion abhängig ist und daher letztlich auch von dem Grad, der Art und Weise und der Bewusstheit ihrer kollektiven Mythen.

Das Besondere am Fall Breivik liegt darin, dass als eine der ersten „postmodernen“ und säkularen europäischen Nationen Norwegen die tragende, grundlegende Bedeutung der zivilreligiösen Schicht vielleicht erstmals in der europäischen Nachkriegsgeschichte nicht nur erkannt, sondern vollends ernst genommen und politisch realisiert hat, und daher auch in bis dahin beispielloser Weise systematisch in seine „Heilungs“-Bemühungen einbezog. Die norwegische Betonung der „Wertepolitik“ gegen das Massentrauma war nichts anderes als der Ausdruck der Wiederentdeckung – und Aktivierung – von Zivilreligion als breiter politischer Kraft in Europa.

Über den Autor
Roland Benedikter
Politikwissenschaftler und Soziologe

Roland Benedikter ist ein Südtiroler Politikwissenschaftler und Soziologe. Seit 2017 ist er Co-Leiter des Centers for Advanced Studies von Eurac Research in Bozen und seit 2022 UNESCO-Lehrstuhlinhaber für Interdisziplinäre Antizipation und Global-Lokale Transformation. Er gilt als Vordenker einer interdisziplinären Erziehung für die Anforderungen der Globalisierung.

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