Im Herbst dieses Jahres will die Europäische Kommission einen neuen Pakt für den Mittelmeerraum vorstellen. Unterdessen beobachten die prodemokratischen Bewegungen in den südlichen Nachbarländern der EU mit Unbehagen, wie die Union die demokratischen Prinzipien und Menschenrechte aufgibt, die der Barcelona-Erklärung zugrunde lagen. Mit dieser Erklärung wurde vor dreißig Jahren der Rahmen für die Beziehungen der Union zu dieser Region geschaffen.
Für die demokratischen Kräfte, die die EU seit langem als natürlichen Verbündeten betrachten, mag diese Entwicklung überraschend sein – zumal die Vereinigten Staaten seit ihrer Invasion im Irak im Jahr 2003 als positiver Akteur an Glaubwürdigkeit verloren haben. Doch globale und regionale Ereignisse haben zu diesem Zeitpunkt geführt.
Der neue Pakt der EU sollte wirtschaftliche, sicherheitspolitische und migrationspolitische Interessen mit der Förderung inklusiver Regierungsreformen in Einklang bringen. Das bedeutet, sich sowohl in der Außen- als auch in der Innenpolitik der Verbündeten entschlossen zu engagieren, Einfluss zu nehmen und Reformen voranzutreiben. Es bedeutet auch, eine Gruppe gleichgesinnter pro-demokratischer Akteure zu bilden und demokratische Kräfte – auch bei Meinungsverschiedenheiten – zu unterstützen.
Demokratie auf dem Rückzug
Der südliche Mittelmeerraum unterscheidet sich heute stark von dem des Jahres 1995: Der Rückschritt der Demokratie ist in vollem Gange, während rohe Militärmacht erneut dominiert. Nach dem Scheitern der demokratischen Revolutionen des Arabischen Frühlings in den 2010er Jahren ist der Autoritarismus stärker geworden und die Zivilgesellschaft ist weitgehend isoliert und auf begrenzte öffentliche Räume beschränkt.
Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) haben sich als zentrale Mächte behauptet, während die Türkei ihre Einflusszonen konsolidiert hat. Israel hat sich zu einer hegemonialen Militärmacht entwickelt und die Träume des Iran von regionaler Vorherrschaft wurden durch das Ziel ersetzt, das Regime am Leben zu erhalten.
Sicherheit und Eindämmung statt Zusammenarbeit
Die seit über einem Jahrzehnt andauernde Welle des islamistischen Terrorismus sowie die massive Ankunft arabischer und muslimischer Flüchtlinge im Jahr 2015 haben dazu geführt, dass sich die EU-Politik gegenüber der Region mehr auf Sicherheit und Eindämmung als auf Zusammenarbeit konzentriert.
Diese Realitäten haben die EU zu Recht zu der Erkenntnis geführt, dass sie mehr Partner braucht. Aber Partnerschaften auf Kosten der Stabilität und Widerstandsfähigkeit der Verbündeten Europas zu schmieden, wird zwangsläufig spektakulär nach hinten losgehen. Die Union muss erkennen, dass eine Strategie für den südlichen Mittelmeerraum, die Autoritarismus und Instabilität fördert, ein strategischer Fehler wäre, da sie drei Realitäten ignorieren würde.
Die Union muss erkennen, dass eine Strategie für den südlichen Mittelmeerraum, die Autoritarismus und Instabilität fördert, ein strategischer Fehler wäre, da sie drei Realitäten ignorieren würde.
Erstens kann sich die EU nicht von den Auswirkungen des Autoritarismus und der Unterdrückung in ihrer südlichen Nachbarschaft abschotten. Beides hat in der Region zu Instabilität und wirtschaftlicher Misswirtschaft geführt und wiederholt Volksaufstände und Konflikte ausgelöst, deren Auswirkungen Europa bis heute zu spüren bekommt.
Zweitens hat eine transaktionale Beschwichtigungspolitik steigende Kosten und sinkende Erträge zur Folge. Die EU ist in ihren Möglichkeiten begrenzt, autoritären Regimes etwas anzubieten. Deren Forderungen werden nur noch zunehmen, je mehr Europa von ihnen abhängig wird. Der relative Wert des Angebots der EU wird zudem durch die wirtschaftlichen und technologischen Fortschritte Chinas sowie die militärische und wirtschaftliche Stärke aufstrebender regionaler Mächte geschmälert.
Drittens werden sich die Regime in den südlichen Nachbarländern Europas irgendwann ändern, einige davon radikal. Indem die EU ausschließlich auf die derzeitigen Machthaber setzt, riskiert sie, die Fehleinschätzungen aus dem Arabischen Frühling zu wiederholen, als Verbündete über Nacht verschwanden und Europa sich bemühen musste, mit neuen Akteuren in Kontakt zu treten. Die EU darf auch die Desillusionierung unter den jungen Menschen in der Region nicht unterschätzen. Viele von ihnen werden eines Tages einflussreiche Positionen bekleiden.
Vision von Wohlstand und Stabilität
Wenn die EU bereit ist, Maßnahmen zur Verwirklichung dieser Vision zu ergreifen, gibt es noch immer sinnvolle Möglichkeiten, wie ihr neuer Pakt die Demokratie, die Menschenrechte sowie andere geopolitische und sicherheitspolitische Interessen unterstützen kann. Zunächst muss Europa anerkennen, dass sich Politik nicht in einzelne Bereiche unterteilen lässt. Die EU-Politik kann Entwicklungshilfe und wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht von politischen Realitäten trennen, seien diese nun außen- oder innenpolitischer Natur.
Die Union muss ihren Einfluss ausbauen, indem sie klare Erwartungen an realistische politische Reformen als Gegenleistung für Zusammenarbeit formuliert.
Die Migrationspolitik muss sich beispielsweise nicht darauf beschränken, Menschen daran zu hindern, nach Europa zu kommen. Sie kann auch Schutzmechanismen umfassen. Finanzielle Unterstützung für autoritäre Regierungen sollte mit einem Verständnis für den Grad der Beteiligung und den Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft einhergehen. Die Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit kann Möglichkeiten zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit und zur Stärkung unabhängiger Medien schaffen.
Frustration über Doppelmoral
Europäische Staats- und Regierungschefs, die die Vision einer wertebasierten Außenpolitik teilen, sollten ihren eigenen „Team Europe”-Ansatz verfolgen. Während einige Länder in Bezug auf die Förderung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit im südlichen Mittelmeerraum an Glaubwürdigkeit oder Interesse verloren haben, werden andere – darunter Belgien, Irland, Slowenien und Spanien – viel positiver gesehen. Sie sind gut positioniert, um eine Agenda voranzutreiben, die Demokratie und Menschenrechte sowohl innerhalb der EU als auch durch koordinierte Bemühungen zur Bekämpfung antidemokratischer Akteure fördert.
In einer Zeit des erbitterten geopolitischen Wettbewerbs in einer zunehmend volatilen Welt muss die EU ihre Südflanke stärken. Dies kann sie nur durch die Förderung starker und widerstandsfähiger Beziehungen erreichen, die auf gemeinsamen Werten und breiter öffentlicher Unterstützung beruhen.