Die Illustration zeigt eine Sanduhr durch die kleine gelbe Uhren und der Schriftzug "Democracy" laufen. Im blauen Hintergrund ist die Freiheitsstatue zu sehen.

Gegen das Virus der Selbstgefälligkeit

Die Aufgabe Europas in der Ukraine ist keineswegs rein militärischer Natur: Dies ist auch ein Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit, den Pessimismus und die schleichende Anziehungskraft der Autokratie, die bisweilen im Gewand einer verlogenen Sprache des „Friedens“ daherkommt.

Als Historikerin und Journalistin bin ich jemand, die versucht, diese Welt zu erklären und zu verstehen. [...] Ich hatte das Glück, mit meiner historischen Forschung in den 1990er Jahren zu beginnen, als sich Überlebende und Historiker frei äußern konnten und es so schien, als könne auf dem Fundament der historischen Wahrheiten [...] ein neues Russland errichtet werden.

Diese Hoffnung verflog sehr schnell. Ich kann Ihnen sogar den exakten Zeitpunkt nennen, an dem sie sich endgültig erledigt hatte: Es war der Morgen des 20. Februar 2014, als russische Truppen völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim besetzten. Von da an wurde die Arbeit der russischen Geschichtsschreibung wieder gefährlich. In diesem Moment prallten Vergangenheit und Gegenwart aufeinander und die Vergangenheit wurde einmal mehr zur Blaupause für die Gegenwart.

Keine Historikerin einer Tragödie möchte den Fernseher einschalten und sehen, dass ihre Arbeit zum Leben erweckt wurde. Als ich in den 1990er Jahren in den sowjetischen Archiven die Geschichte des Gulag erforschte, glaubte ich, dass sie der fernen Vergangenheit angehörte. Als ich einige Jahre später über den sowjetischen Angriff auf Osteuropa schrieb, nahm ich an, dass ich eine abgeschlossene Epoche schilderte. Und als ich die Geschichte der ukrainischen Hungerkatastrophe erforschte, jener Tragödie, die im Mittelpunkt von Stalins Versuch stand, die Ukraine als Nation auszulöschen, ahnte ich nicht, dass sich diese Geschichte zu meinen Lebzeiten wiederholen könnte oder würde.

Keine Historikerin einer Tragödie möchte den Fernseher einschalten und sehen, dass ihre Arbeit zum Leben erweckt wurde.

Doch 2014 wurden aus eben diesen sowjetischen Archiven alte Pläne hervorgeholt, entstaubt und wieder zum Einsatz gebracht. Für diejenigen, die sich nicht genau an die Annexion der Krim erinnern, möchte ich die Ereignisse noch einmal kurz skizzieren. Die russischen Soldaten kamen in nicht markierten Fahrzeugen und trugen Uniformen ohne Hoheitszeichen. Sie besetzten staatliche Gebäude, setzten die örtlichen Volksvertreter ab und verboten ihnen den Zutritt zu ihren Büros. Einige Tage lang war die Welt perplex: Handelte es sich um den Aufstand von „Separatisten“? Oder um „pro-russische“ Ukrainer?

Politische Täuschungsmanöver

Für mich war die Antwort klar. Ich wusste, dass es sich um eine russische Besetzung der Krim handelte, weil sie genauso ablief wie die Besetzung Polens siebzig Jahre zuvor, im Jahr 1944. Damals waren die Mitwirkenden sowjetische Soldaten in polnischen Uniformen, eine von der Sowjetunion gestützte Kommunistische Partei, die vorgab, für alle Polen zu sprechen, ein manipuliertes Referendum und eine Reihe von politischen Täuschungsmanövern, die nicht nur die Menschen in Polen blenden sollten, sondern auch die Verbündeten Polens in London und Washington.

Die Besetzung selbst war erst der Anfang. Nach 2014 und wieder nach dem Überfall vom Februar 2022 wiederholte sich das vertraute Muster. Zunächst auf der Krim, dann in Donezk und Luhansk und schließlich beim Einmarsch in die Bezirke Charkiw, Cherson, Sumy und Kiew behandelte die russische Armee gewöhnliche ukrainische Bürger wie Feinde und Spione. Mit willkürlicher Gewalt terrorisierte sie die Menschen von Butscha und anderswo. Sie internierte Bürger grundlos oder wegen kleinster Vergehen – etwa weil sie an ihr Fahrrad ein Band mit den Farben der ukrainischen Fahne gebunden hatten. Sie baute Folterkammern auf und Filtrationslager, die man auch als Konzentrationslager bezeichnen könnte. Sie richtete kulturelle Einrichtungen, Schulen und Universitäten nach der nationalistischen und imperialistischen Ideologie des neuen Regimes aus. Sie entführte Kinder nach Russland und gab ihnen eine neue Identität, genau wie es die Nationalsozialisten in Polen getan hatten. Sie nahm den Ukrainern alles, was sie zu Menschen macht, was sie lebendig und einzigartig macht.

In der Vergangenheit verwendete man unterschiedliche Bezeichnungen für Angriffe dieser Art. Früher sprach man von Sowjetisierung, heute nennt man es Russifizierung. Auch die deutsche Sprache hat ein Wort dafür: Gleichschaltung. Doch wie man es auch nennt, es läuft immer gleich ab. Ziel ist die Durchsetzung autoritärer Willkürherrschaft: ein Staat ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne Grundrechte, ohne Rechenschaftspflicht, ohne Gewaltenteilung.

Ziel ist die Durchsetzung autoritärer Willkürherrschaft: ein Staat ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne Grundrechte, ohne Rechenschaftspflicht, ohne Gewaltenteilung.

Es geht einher mit der Zerstörung sämtlicher Regungen einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Es ist der Aufbau eines totalitären Regimes, das Mussolini bekanntermaßen so definierte: „Alles im Staate, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat“.

Im Jahr 2014 war Russland bereits auf dem Weg in eine totalitäre Gesellschaft, nach zwei brutalen Kriegen in Tschetschenien, der Ermordung von Journalistinnen und der Verhaftung von Kritikern. Doch ab 2014 beschleunigte sich dieser Prozess. Der Überfall auf die Ukraine ebnete den Weg für eine schärfere Politik in Russland selbst. In den Jahren nach der Annexion der Krim wurde die Opposition stärker unterdrückt und unabhängige Einrichtungen wurden vollständig verboten. Dazu zählte auch die von Irina Scherbakowa gegründete Menschenrechtsorganisation Memorial.

Vorgehen mit Methode

Die Verbindung von Autokratie und imperialen Eroberungskriegen hat Methode. Wer glaubt, dass er und sein Regime das Recht hat, alle Institutionen, Informationen und Organisationen zu kontrollieren; dass man Menschen nicht nur ihre Grundrechte nehmen kann, sondern auch ihre Identität, ihre Sprache, ihr Eigentum und ihr Leben, der glaubt natürlich auch, dass er das Recht hat, jedem nach Belieben mit Gewalt zu begegnen. Und er hat keine Einwände gegen den menschlichen Preis eines solchen Kriegs: Wenn gewöhnliche Menschen keine Rechte, keine Macht und keine Stimme haben, warum sollte es dann eine Rolle spielen, ob sie leben oder sterben?

Diese Verbindung ist keineswegs neu. Schon vor zwei Jahrhunderten beschrieb Immanuel Kant, diese Beziehung zwischen Despotismus und Krieg. Und vor mehr als zwei Jahrtausenden schrieb Aristoteles: „Auch beständig Kriege zu erregen ist der Tyrann geneigt“, um sein Machtmonopol zu festigen. Dieser Gedanke und eben dieses Zitat findet sich auch in einem Flugblatt der Weißen Rose aus dem Jahr 1942. Auch der deutsche Journalist und Aktivist Carl von Ossietzky war ein entschiedener Kriegsgegner, nicht zuletzt aufgrund der Folgen des Krieges für seine Kultur und sein Land. Im Jahr 1932 schrieb er: „Aber nirgendwo glaubt man so inbrünstig wie in Deutschland an den Krieg als vornehmstes politisches Mittel, nirgendwo ist man eher geneigt, über seine Schrecken hinwegzusehen und seine Folgen zu missachten, nirgendwo feiert man kritikloser das Soldatentum als die gelungene Höchstzüchtung menschlicher Tugenden.“

Tausende wurden verurteilt, weil sie sich gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen hatten. Ihr heldenhafter Kampf findet meist im Verborgenen statt. Weil das Regime die völlige Kontrolle über die Information in Russland hat, sind ihre Stimmen nicht zu hören.

Seit der Besetzung der Krim im Jahr 2014 wurde Russland von derselben Militarisierung und Kriegsbegeisterung erfasst. Russische Schulen bilden kleine Kinder heute zu Soldaten aus. Das russische Fernsehen schürt den Hass auf Ukrainer und stellt sie als Untermenschen dar. Die russische Wirtschaft wurde militarisiert: Rund 40 Prozent der Staatsausgaben entfallen heute auf die Rüstung. Beim Kauf von Raketen und Munition macht Russland Geschäfte mit dem Iran und Nordkorea, zwei der brutalsten Diktaturen der Welt. Die dauernden Meldungen vom Krieg in der Ukraine haben den Krieg in Russland zur Normalität werden lassen und andere Kriege wahrscheinlicher gemacht. Russische Politiker sprechen heute wie beiläufig davon, Atomwaffen gegen ihre Nachbarn einzusetzen, und drohen ihnen regelmäßig mit militärischer Gewalt.

Wie in von Ossietzkys Deutschland ist die Kritik am Krieg in Russland nicht nur unerwünscht – sie ist sogar strafbar. Mein Freund Wladimir Kara-Murza traf 2022 die mutige Entscheidung, nach Russland zurückzukehren und dort gegen die Invasion zu protestieren. Warum? Weil in den Geschichtsbüchern stehen sollte, dass irgendjemand gegen den Krieg war. Er zahlte einen hohen Preis. Er wurde verhaftet. Seine Gesundheit nahm Schaden. Er kam wiederholt in Isolationshaft. Als er und andere zu Unrecht Verurteilte schließlich freikamen und gegen eine Gruppe von russischen Spionen und Kriminellen ausgetauscht wurden, darunter der verurteilte Tiergartenmörder, warnten ihn seine Häscher, er solle vorsichtig sein, denn in Zukunft könne man ihn vergiften. Er hatte allen Grund, die Drohung ernst zu nehmen, denn Angehörige der russischen Geheimpolizei hatten bereits zwei Giftanschläge auf ihn verübt. Doch er war nicht allein. Seit 2018 wurden mehr als 116.000 Russen angeklagt, weil sie ihre Meinung kundgetan hatten. Tausende wurden verurteilt, weil sie sich gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen hatten. Ihr heldenhafter Kampf findet meist im Verborgenen statt. Weil das Regime die völlige Kontrolle über die Information in Russland hat, sind ihre Stimmen nicht zu hören.

Aber was ist mit uns? Was ist mit uns hier? Was ist mit den übrigen Europäern – was sollen wir tun? Unsere Stimmen werden nicht unterdrückt. Wir werden nicht verhaftet und vergiftet, wenn wir unsere Meinung kundtun. Wie sollen wir auf die Wiederkehr einer Regierungsform reagieren, von der wir glaubten, dass sie von diesem Kontinent verschwunden war? Die Besetzung und Zerstörung der Ostukraine findet eine 24-stündige Autofahrt oder einen zweistündigen Flug entfernt von Deutschland statt – das heißt, es wäre ein zweistündiger Flug, wenn die Flughäfen offen wären. Das ist kaum weiter entfernt als London.

In den ersten aufgewühlten Tagen des Krieges stimmten viele in den Chor der Unterstützer ein. Im Fernsehen sahen die Menschen in Europa Szenen, die sie nur aus Geschichtsbüchern kannten: auf Bahnhöfen kauernde Frauen und Kinder, über Felder rollende Panzer, bombardierte Städte. Damals schien Vieles klar. Worte wurden rasch zu Taten. Mehr als fünfzig Nationen bildeten eine Koalition, um die Ukraine militärisch und wirtschaftlich zu unterstützen, das Bündnis entstand mit beispielloser Geschwindigkeit. In Kiew, Odessa und Cherson sah ich mit eigenen Augen die Wirkung der Lebensmittellieferungen, der Militärhilfe und der europäischen Unterstützung. Es schien ein Wunder.

Einschleichende Zweifel

Doch mit der Fortdauer des Krieges schlichen sich Zweifel ein. Vielleicht sollte uns das nicht verwundern. Seit 2014 ist das Vertrauen in demokratische Institutionen und Bündnisse dramatisch geschwunden, sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten. Vielleicht spielte unsere Gleichgültigkeit gegenüber der Besetzung der Ukraine hierbei eine größere Rolle als wir glauben. Die Entscheidung, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland auch nach der Besetzung der Krim auszubauen, leistete Korruption und Zynismus Vorschub. Dieser Zynismus wurde wiederum verstärkt durch eine russische Desinformationskampagne, die verharmlost oder gar nicht wahrgenommen wurde.

Die Entscheidung, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland auch nach der Besetzung der Krim auszubauen, leistete Korruption und Zynismus Vorschub. Dieser Zynismus wurde wiederum verstärkt durch eine russische Desinformationskampagne, die verharmlost oder gar nicht wahrgenommen wurde.

Heute stehen wir vor der größten Herausforderung für unsere Werte und Interessen zu unseren Lebzeiten, und die demokratische Welt schwankt. Viele wünschen sich, der Krieg möge auf magische Weise enden. Andere sprechen lieber über den Nahen Osten, einen weiteren schrecklichen und tragischen Konflikt, auf den wir Europäer jedoch weit weniger Einfluss haben und in dem wir kaum etwas bewirken können.

Eine Hobbes'sche Welt fordert unsere ganze Solidarität. Ein größeres Engagement in einer Tragödie bedeutet nicht Gleichgültigkeit gegenüber anderen Tragödien. Wir müssen tun, was wir können, wo unser Tun etwas bewirkt. Allmählich gewinnt eine andere Gruppe an Einfluss, vor allem hier in Deutschland. Das sind Menschen, die weder unterstützen noch verurteilen, sondern vorgeben, über der Debatte zu stehen – weil sie ihre Position für moralisch halten – und die verkünden: „Wir wollen Frieden“. Einige verweisen dazu auf die „Lehren aus der deutschen Geschichte“. Doch der Ruf nach Frieden ist nicht immer ein moralisches Argument. Und die Lektion der deutschen Geschichte bedeutet nicht, dass die Deutschen Pazifisten sein müssen.

Im Gegenteil: Seit fast einem Jahrhundert wissen wir, dass der Ruf nach Pazifismus angesichts einer aggressiven Diktatur oft nichts anderes ist als Appeasement und Hinnahme dieser Diktatur. Ich bin nicht die erste, die das sagt. Thomas Mann, entsetzt über die Situation in Deutschland und die Selbstgefälligkeit der freiheitlichen Demokratien, prangerte 1938 aus dem Exil einen Pazifismus an, der „den Krieg herbeiführt, statt ihn zu bannen“. Und George Orwell geißelte 1942 seine Landsleute, die von Großbritannien verlangten, den Krieg zu beenden: „Pazifismus ist objektiv profaschistisch“, sagte er. „Das ist ganz weitgehend unumstritten. Wenn du die Kriegsanstrengung der einen Seite untergräbst, dann hilfst du automatisch der anderen.“

Und in den frühen achtziger Jahren wandte sich der österreichisch-französische Schriftsteller und Sozialphilosoph Manès Sperber gegen die falsche Moral der Pazifisten jener Zeit, die Deutschland und Europa trotz der sowjetischen Bedrohung abrüsten wollten: „Wer glaubt und glauben machen will, dass ein waffenloses, neutrales, kapitulierendes Europa für alle Zukunft des Friedens sicher sein kann, der irrt sich und führt andere in die Irre.“

Diese Aussprüche treffen heute wieder zu. Viele der Menschen in Deutschland und Europa, die angesichts der russischen Angriffe Pazifismus verlangen, sind in der Tat „objektiv prorussisch“, um es mit Orwell zu sagen. Logisch zu Ende gedacht bedeutet ihre Forderung, dass wir die Eroberung der Ukraine, ihre kulturelle Zerstörung, die Errichtung von Konzentrationslagern und die Entführung von Kindern aus der Ukraine akzeptieren sollten. Sie bedeutet, dass wir die Gleichschaltung hinnehmen sollten. Wir befinden uns im dritten Kriegsjahr – was hätte es Anfang 1942 bedeutet, Frieden zu fordern? Ging es den Männern und Frauen des deutschen Widerstands nur um Frieden? Oder wollten sie etwas Wichtigeres erreichen? Lassen Sie es mich noch klarer sagen: Wer „Pazifismus“ fordert und nicht nur Gebiete an Russland abtreten will, sondern auch Menschen, Prinzipien und Ideale, der hat rein gar nichts aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt.

Der Satz „Nie wieder!“ hat uns schon in der Vergangenheit blind gemacht für die Wirklichkeit. In den Wochen vor dem Einmarsch im Februar 2022 hielt man in Deutschland, genau wie in vielen anderen europäischen Nationen, einen Krieg für so unwahrscheinlich, dass sich die Bundesregierung weigerte, Waffen an die Ukraine zu liefern. Und genau das ist die Ironie: Hätten Deutschland und die übrigen NATO-Staaten die Ukraine im Vorfeld mit Waffen unterstützt, dann hätten sie eine Invasion vielleicht verhindern können. Vielleicht wäre es nie dazu gekommen. Vielleicht war auch dies eine Form des Pazifismus, der „den Krieg herbeiführt, statt ihn zu bannen“, wie Thomas Mann sagt.

Hass auf Militarismus

Um es klar zu sagen: Mann verabscheute den Krieg und das Regime, das ihn führte. Orwell hasste den Militarismus. Sperber und seine Familie waren selbst vor dem Krieg geflohen. Aber gerade weil sie den Krieg so leidenschaftlich ablehnten, und weil sie den Zusammenhang zwischen Krieg und Diktatur erkannten, sprachen sie sich dafür aus, die von ihnen so geschätzten freiheitlichen Demokratien zu verteidigen. Im Jahr 1937 forderte Mann einen „militanten Humanismus, welcher gelernt hat, dass das Prinzip der Freiheit und Duldsamkeit sich nicht ausbeuten lassen darf von einem schamlosen Fanatismus; dass er das Recht und die Pflicht hat, sich zu wehren“. Orwell schrieb: „Um zu überleben, muss man kämpfen, um zu kämpfen, muss man sich schmutzig machen. Der Krieg ist ein Übel, aber manchmal das kleinere.“ Und Sperber erklärte 1983: „Wir alten Europäer aber, die den Krieg verabscheuen, wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren.“

Ich zitiere diese alten Aussprüche und Reden, um Sie davon zu überzeugen, dass die Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht so neu sind, wie sie scheinen. Wir haben uns schon mehrfach an diesem Punkt befunden, weshalb die Worte unserer freiheitlichen und demokratischen Vorgänger zu uns sprechen. Schon früher bedrohten aggressive Diktaturen die freiheitlichen Gesellschaften Europas. Schon früher haben wir gegen sie gekämpft. Und diesmal ist Deutschland eine der freiheitlichen Gesellschaften und kann den Kampf mit anführen.

Um zu verhindern, dass Russland sein autokratisches politisches System verbreitet, müssen wir der Ukraine zum Sieg verhelfen, und zwar nicht nur für die Ukraine. Wenn wir die Möglichkeit haben, mit einem militärischen Sieg diesen schrecklichen Gewaltkult in Russland zu beenden, so wie ein militärischer Sieg den Gewaltkult in Deutschland beendet hat, dann sollten wir sie nutzen. Die Folgen wären auf dem gesamten Kontinent und in aller Welt zu spüren. Nicht nur in der Ukraine und ihren Nachbarstaaten, in Georgien, Moldawien und Belarus. Und nicht nur in Russland, sondern auch unter seinen Verbündeten, in China, dem Iran, Venezuela, Kuba und Nordkorea.

Die Aufgabe ist keineswegs rein militärischer Natur: Dies ist auch ein Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit, den Pessimismus und die schleichende Anziehungskraft der Autokratie, die bisweilen im Gewand einer verlogenen Sprache des „Friedens“ daherkommt.

Wer die Zerstörung fremder Demokratien akzeptiert, ist weniger bereit, gegen die Zerstörung der eigenen Demokratie zu kämpfen. Selbstgefälligkeit ist wie ein Virus, das sich schnell über Grenzen hinweg ausbreitet.

Die Behauptung, dass Autokratie sicher und stabil ist, während Demokratien Kriege schüren, oder dass Autokratien traditionelle Werte bewahren, während Demokratien „entarten“ – auch dieses Gerede wird von Russland und der autokratischen Welt verbreitet, aber auch von Menschen in unseren eigenen Gesellschaften, die bereit sind, das vom russischen Staat verursachte Blutvergießen und Vernichtungswerk hinzunehmen. Wer die Zerstörung fremder Demokratien akzeptiert, ist weniger bereit, gegen die Zerstörung der eigenen Demokratie zu kämpfen. Selbstgefälligkeit ist wie ein Virus, das sich schnell über Grenzen hinweg ausbreitet.

Die Versuchung des Pessimismus ist groß. Angesichts eines nicht enden wollenden Krieges und der Propagandaflut ist es einfacher, den Gedanken des Niedergangs zu akzeptieren. Aber erinnern wir uns, was auf dem Spiel steht, und wofür die Ukrainer kämpfen – und dass sie es sind, die diesen Kampf führen, und nicht wir. Sie kämpfen für eine Gesellschaft wie die unsere, in der eine unabhängige Justiz die Bürger vor Willkür schützt; die das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit wahrt; in der Bürger am öffentlichen Leben teilhaben können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen; deren Sicherheit durch ein breites Bündnis von Demokratien garantiert und deren Wohlstand in der Europäischen Union verankert ist.

Autokraten wie der russische Präsident fürchten diese Grundsätze, weil sie ihre Macht gefährden. Unabhängige Gerichte können die Machthaber zur Rechenschaft ziehen. Eine freie Presse kann Korruption auf höchster Ebene aufdecken. Ein politisches System, das Bürger an der Macht beteiligt, gibt ihnen auch die Möglichkeit, die Regierung abzuwählen.

Internationale Organisationen können den Rechtsstaat stützen. Deshalb werden die Propagandisten autokratischer Regime alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Sprache der freiheitlichen Ordnung auszuhöhlen und die Institutionen, die unsere Freiheit wahren, zu untergraben, zu verhöhnen und schlechtzumachen, ob zuhause oder bei uns.

Neue deutsche Erfahrung

Mir ist klar, dass es für die Deutschen eine neue Erfahrung ist, wenn sie um Hilfe gebeten werden, oder wenn sie Waffen liefern sollen, um einer aggressiven Militärmacht Einhalt zu gebieten. Doch das ist die eigentliche Lehre aus der deutschen Geschichte: Nicht, dass Deutsche nie wieder Krieg führen dürfen, sondern dass sie eine besondere Verantwortung dafür haben, sich für die Freiheit einzusetzen und dabei auch Risiken einzugehen. Wir alle in der demokratischen Welt, nicht nur die Deutschen, haben gelernt, unsere Politiker und unsere Gesellschaft kritisch und skeptisch zu sehen, und vielleicht stutzen wir, wenn wir nun aufgefordert werden, unsere Grundprinzipien zu verteidigen. Aber bitte hören Sie mich an: Lassen Sie nicht zu, dass Skepsis zu Nihilismus wird. Der Rest der demokratischen Welt braucht Sie. Im Kampf gegen die hässliche, aggressive Diktatur auf unserem Kontinent sind unsere stärksten Waffen unsere Grundsätze, unsere Ideale und die Bündnisse, die wir um sie herum aufgebaut haben.

Im Kampf gegen die hässliche, aggressive Diktatur auf unserem Kontinent sind unsere stärksten Waffen unsere Grundsätze, unsere Ideale und die Bündnisse, die wir um sie herum aufgebaut haben.

Gegen das Wiedererstarken des Autoritarismus sind wir in der demokratischen Welt natürliche Verbündete. Daher müssen wir heute für unsere gemeinsame Überzeugung einstehen, dass die Zukunft besser sein kann, dass wir diesen Krieg gewinnen können, und dass wir die Diktatur einmal mehr überwinden können; unsere gemeinsame Überzeugung, dass Freiheit möglich ist, und dass wahrer Frieden möglich ist, auf diesem Kontinent und überall auf der Welt.

Dieser Text geht auf Anne Applebaums Dankesrede im Rahmen der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2024 zurück.

Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer.

Literaturhinweis:
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2024 – Anne Applebaum
Ansprachen aus Anlass der Verleihung
Hrsg. vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels
im Verlag der MVB, Frankfurt am Main 2024,
ISBN 978-3-7657-3446-5, deutsch / englisch, 104 S
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Über die Autorin
Portrait von Anne Applebaum
Anne Applebaum
Journalistin und Historikerin

Anne Applebaum ist eine US-amerikanisch-polnische Journalistin, Kolumnistin und Historikerin. Sie ist Mitarbeiterin von The Atlantic und Senior Fellow an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies und dem SNF Agora Institute. Applebaum ist im Vorstand des National Endowment for Democracy und Kuratorin der Ukrainian History Global Initiative. 2024 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

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