Mann hebt großes Smartphone vor rosa Hintergrund

Hebel oder Hemmschuh

Soziale Medien erleichtern Migranten die Integration – oder behindern sie? Sie bieten Vernetzung und Zugang zu Wissen, können aber auch soziale Abgrenzung verstärken. Der digitale Raum ersetzt keine echten Begegnungen und stellt den gesellschaftlichen Zusammenhalt vor neue Herausforderungen.

Eine oft wiederholte Plattitüde ist, dass soziale Medien Menschen zusammenbringen; doch auf viele Weisen bringen sie Menschen auch auseinander. Seit den Anfängen des Internets prophezeien Technikoptimisten, die digitale Kommunikation werde zu einer befreienden Kraft für die Menschheit, werde uns zusammenbringen wie nie zuvor. Zyniker dagegen prognostizierten eine Welt künstlicher Beziehungen und einsamer, unerfüllter Bürger. Während der Traum der 1990er-Jahre vom Informationszeitalter zur Realität des frühen 21. Jahrhunderts wurde, verstanden wir, dass die digitalen Fortschritte, die unsere Gesellschaften so radikal verändern, weder Vorboten eines großen Desasters waren noch die ersten Schritte in Richtung Utopia. Sie waren einfach Motoren für einen komplexen Wandel.

Soziale Medien reißen nicht die Barrieren ein, die Menschen voneinander trennen – und dies wird auch keine absehbare digitale Kommunikationstechnologie schaffen. Wie der amerikanische Sozialwissenschaftler und Kommunikationsexperte Howard Rheingold 1993 über das Internet sagte: „Jede neue Kommunikationstechnologie [...] bringt Menschen auf neue Weisen zusammen und entfernt sie in anderen voneinander. Wenn wir als Gesellschaft gute Entscheidungen über ein mächtiges neues Kommunikationsmedium treffen wollen, dürfen wir nicht darauf verzichten, auf das menschliche Element zu schauen.“

Der tiefgreifende Einfluss sozialer Medien auf dieses „menschliche Element“ ist der Grund dafür, dass es im Zusammenhang mit Integration immer wichtiger wird. Soziale Medien sind auf vielerlei Weise ein Werkzeug der Stärkung, insbesondere für neue Migranten. Die immer größere Rolle, die sie in unserem Leben spielen, bringt aber einige grundlegende Dynamiken in Gefahr, die einzelne Bürger innerhalb der Gesellschaft zusammenbringen – Dynamiken, die das Herzstück des sozialen Zusammenhalts bilden. Dass soziale Medien auf mancherlei Weise womöglich soziale Netzwerke bedrohen, scheint der eigenen Intuition zu widersprechen. Um also zu verstehen, warum dies so ist, muss zunächst einmal geklärt werden, warum wir hier überhaupt über Integration sprechen.

Warum wir über Integration sprechen

Im Allgemeinen konzentrieren sich öffentliche Debatten über Integration – sowohl die mit ihr sympathisierenden als auch die gegen sie gerichteten – beinahe immer ausschließlich auf Details des Verhaltens von Migranten. In den Diskussionen geht es etwa darum, inwieweit die Neuankömmlinge die Sprache des Gastlands sprechen, ob sie sich in den lokalen Communitys assimilieren oder ob sie in Übereinstimmung mit den Werten ihres neuen Zuhauses handeln. Einer der Gründe, warum der Diskurs im Vereinigten Königreich so ertraglos ist, liegt darin, dass wir selten weitreichendere Aspekte der Integration diskutieren. Aufgrund der Oberflächlichkeit dieser Debatte ist es ziemlich einfach, einen der wesentlichen Gründe dafür zu vergessen, warum Integration so wichtig ist: die Rolle, die sie für den sozialen Zusammenhalt spielt.

Integration zwischen Ethnien, religiösen Gruppen oder auch anderen Teilen der Gesellschaft ist wichtiger als die Annehmlichkeit, eine Sprache zu teilen oder den gleichen Zugang zu Dienstleistungen zu haben. Sie bietet Individuen signifikante ökonomische Möglichkeiten, wie der amerikanische Soziologe Mark Granovetter in „The Strength of Weak Ties“ gezeigt hat, und für die Gesellschaft als Ganzes, wie der ebenfalls amerikanische Politologe Francis Fukuyama in „Trust: The Social Virtues and the Creation of Prosperity“ (Dt. Titel: „Konfuzius und Marktwirtschaft. Der Konflikt der Kulturen“) ausführt.

Dabei sind Beiträge zur Gesellschaft noch bedeutender, die das Herzstück des sozialen Zusammenhalts ausmachen. Die Gesellschaft wird zusammengehalten von der gegenseitigen Integration ihrer Bürger. Auf der nationalen oder lokalen Ebene erlaubt sie uns, gegenseitig Rechte anzuerkennen und für gemeinsame Ziele erfolgreich zusammenzukommen. Dabei stärkt sie das Vertrauen in unsere Institutionen und politischen Repräsentanten, und ermöglicht letzten Endes erfolgreiche Regierungsführung, die ansonsten unmöglich wäre. Integration betrifft im Grunde alle Menschen einer Gesellschaft, denn durch sie funktioniert sie überhaupt.

Integration betrifft im Grunde alle Menschen einer Gesellschaft, denn durch sie funktioniert sie überhaupt.

Es gibt viele Verbindungen, die Gesellschaften zusammenhalten können. Eine gemeinsame Sprache, Kultur, Ethnie, Religion, politische Weltsicht und viele andere Faktoren bilden mögliche Ebenen des sozialen Zusammenhalts. In den meisten entwickelten Ländern gibt es jedoch keine homogene ethnische oder religiöse Identität im Zentrum des sozialen Zusammenhalts mehr – wenn es sie überhaupt jemals gegeben hat. Und so kann auch eine gemeinsame politische Weltsicht in einer vielfältigen, toleranten und modernen Demokratie nicht die Basis für sozialen Zusammenhalt sein, zumindest nicht über den „überlappenden Konsens“ in Bezug auf grundlegende Prinzipien der Gesellschaft hinaus, wie ihn sich der US-Philosoph John Rawls vorstellt.

Eine bürgerliche Identität

Liberale Demokratien benötigen vor allem eine bürgerliche Identität, die es unterschiedlichen Menschen erlaubt, als ein einziges verbundenes Ganzes zusammenzukommen. Eine bürgerliche Identität basiert auf etwas, das alle Angehörigen eines Staats teilen können: auf den lokalen und nationalen Institutionen, die uns repräsentieren, auf den Diensten, die wir in Anspruch nehmen, auf gemeinsamen sozialen Normen, Gebräuchen und Gesetzen, auf unseren formalen Verpflichtungen wie dem Wohlfahrtstaat und unseren alltäglichen sozialen Interaktionen beziehungsweise Manieren.

Viele dieser Kernelemente einer bürgerlichen Identität hängen von einer gemeinsamen Basis ab, die immer archaischer erscheint: einem Territorium. Wenn unsere Gesellschaft durch den Wert unserer Gesetze zusammengehalten wird, durch unsere Rechte und Verantwortlichkeiten und unsere Zivilgesellschaft, dann hängt sie ab von dem physischen Raum, den wir bewohnen, von den Institutionen eines modernen Staats. Wir haben vielleicht nicht alle die gleiche Religion, Ethnie oder dieselben Überzeugungen, aber wir achten ein gemeinsames Gesetz und gemeinsame Gebräuche, erkennen bestimmte Verantwortlichkeiten und Freiheiten, die alle durch ein gemeinsames Territorium definiert und garantiert sind.

Liberale Demokratien benötigen vor allem eine bürgerliche Identität, die es unterschiedlichen Menschen erlaubt, als ein einziges verbundenes Ganzes zusammenzukommen.

All dies – die Bedeutung gemeinsamer Werte, physischer Nähe, territorialer Souveränität – kann veraltet erscheinen. Seit langer Zeit prognostizieren, antizipieren oder genießen politische Kommentatoren und Akademiker den bevorstehenden Tod des Nationalstaats durch den Internationalismus, den aufkommenden „Marktstaat“ oder das Internet. Während eine moderne liberale Demokratie von der Geografie abhängt, scheint die immer ausgefuchstere digitale Kommunikation, die unsere globalisierte Gesellschaft stützt, den Tod der Geografie zu versprechen, das Ende des physischen Raums als wichtigen Faktor in menschlichen Interaktionen.

Relativ günstige, direkte Kommunikation ist inzwischen breit verfügbar. In Europa haben rund 75 Prozent der Bevölkerung Zugang zum Internet. Annähernd 40 Prozent sind in sozialen Medien präsent. Dieser technologische Wandel hat deutliche Auswirkungen auf die Rolle des physischen Raums in unseren alltäglichen Interaktionen. Auf vielfältige Weise können soziale Medien Individuen quer durch die Gesellschaft stärken. Regierungen oder NGOs zum Beispiel können sie nutzen, um das politische Bewusstsein zu schärfen und die Wahlbeteiligung anzukurbeln. Tatsächlich machen die spezifischen Eigenschaften sozialer Medien diese zu einem besonders nützlichen Mittel, über das die am schwersten zu erreichenden Communitys – inklusive neuer Migranten – politisch mobilisiert werden können.

Dies hat vor kurzem ein Projekt des britischen Think Tanks Demos, „Like, Share, Vote“, gezeigt. Soziale Medien sind nicht nur ein Medium, über das man das Establishment verkauft. Beppe Grillos Partei MoViemento 5 Stelle in Italien, das ursprünglich aus Beppe Grillos Blog und „Meetups“ lokaler Aktivisten, die über meetup.com organisiert wurden, entstanden ist, stellt ein Beispiel dar für eine mächtige, zerstreute Netzwerk Bewegung, die ohne soziale Medien nicht hätte entstehen können.

Migranten folgen Migranten

Soziale Medien können ein besonders wirkmächtiges Werkzeug für Migranten sein. Sie bieten einen besseren Zugang zu Informationen über die neuen Communitys, in die Migranten hineinkommen. Und was noch wertvoller ist: Sie bieten informelle gruppenbasierte Netzwerke für Information, Beratung und Unterstützung. Diese informelle Unterstützung kann so aussehen, dass man allgemeines gesellschaftliches Wissen innerhalb einer Online-Community austauscht oder Individuen Zugang ermöglicht zu Wissen, das ein neuer Migrant braucht, etwa über die Arbeitsmärkte oder rechtliche Voraussetzungen für Dienstleistungen, zu denen ein Migrant ansonsten vielleicht keinen Zugang hätte.

Soziale Medien verbessern den Zugang zu sozialem Kapital und zu den schwachen sozialen Bindungen, die Migration erleichtern. Soziales Kapital war für Einwanderung immer schon entscheidend. Kettenmigration bezieht sich auf den kumulativen Prozess, bei dem Migranten einer Region anderen Migranten aus derselben Region an den gleichen Ort im neuen Land folgen. Sie tun dies, weil soziale Bindungen zwischen Migranten das soziale Kapital bieten, das Migration beschleunigt. Die Folge ist: Migranten folgen Migranten. Soziale Medien können auch den sozialen Preis senken, den ein Migrant zahlt, wenn er oder sie das Herkunftsland verlässt.

Soziale Medien verkörpern „den Tod der Entfernung“, den beinahe völligen Bedeutungsverlust von Geografie für die Kommunikation. Es ist nicht wichtig, ob ein Freund oder Familienmitglied in demselben Gebäude lebt wie man selbst oder irgendwo sonst auf der Welt. Man kann sich auf Facebook immer noch in Echtzeit mit ihnen unterhalten und sich über ihre täglichen Aktivitäten auf dem Laufenden halten, denn das Web 2.0 ist ein entterritorialisierter Raum. Digitale Kommunikation kann noch nicht die Unterhaltung von Angesicht zu Angesicht ersetzen, aber kann es einem Migranten erleichtern, starke Verbindungen mit Familien und Freunden im Heimatland aufrechtzuerhalten, deren Verlust vielleicht eher von Migration abgehalten hätte.

Neue digitale Kommunikationsmittel können Migranten dabei helfen, kulturelle, politische und soziale Verbindungen aufrechtzuerhalten. Ausgerüstet mit sozialen Medien können neue Migranten viel leichter an den politischen Debatten ihrer Heimatländer teilnehmen. Soziale Medien haben auch zur Entwicklung einer immer größeren Gruppe von Bürgern beigetragen, die sich transnationale Identitäten erhalten. Dabei kann eine Person sich mit einer bestimmten nationalen Gruppe identifizieren, ohne im Land oder der Region, die mit dieser Identität verbunden wird, anwesend zu sein.

In vielen Fällen ist die Situation sogar noch komplexer. Menschen können Online-Communitys bilden, die zwar nicht auf starken sozialen Bindungen mit einem bestimmen physischen Raum basieren, aber auf einer gemeinsamen Identifizierung damit innerhalb der Gruppe. Digitale Communitys brauchen keine parallelen sozialen Realitäten offline, und oftmals kann eine rigide Unterscheidung zwischen Online und Offline-Communitys sogar in die Irre führen. Dies sind nur einige von unzähligen Möglichkeiten, wie soziale Medien uns zusammenbringen können. Wie aber können sie uns auch auseinanderbringen?

Sicher, soziale Medien ermöglichen Aufbau und Aufrechterhaltung sozialer Netzwerke, aber sie erlauben es uns auch, bei der Bildung dieser Bindungen selektiv vorzugehen. Sie bieten eine einfache Alternative zur Bildung von Bindungen, die auf einem neuen physischen Raum basieren. Ein Beispiel: Ein Migrant kommt in eine neue Community. Soziale Medien machen es möglich, die Verbindungen mit Freunden und Familie ohne Bezug auf Lokalität oder Nationalität zu erhalten. Und doch hängen diese Verbindungen mit der Geografie zusammen. Deshalb sind es die lokalen Communitys und die vom physischen Raum abhängigen Institutionen, die den sozialen Zusammenhalt erzeugen, der den modernen liberalen Staat zusammenhält.

Soziale Medien verbessern den Zugang zu sozialem Kapital und zu den schwachen sozialen Bindungen, die Migration erleichtern.

Soziale Medien könnten für die Integration ein Hindernis sein, denn sie bieten Migranten eine verführerische Alternative dazu, innerhalb ihrer neuen Gesellschaft neue Verbindungen zu knüpfen. Man kann sogar ein früheres Netzwerk sozialer Verbindungen durch das Web 2.0 erhalten, ohne die Notwendigkeit, neue Kontakte knüpfen zu müssen. Das soll nicht heißen, dass ein Mensch nicht sowohl internationale als auch nationale soziale Bindungen haben kann. Der Druck, neue Verbindungen zu knüpfen ist jedoch geringer, weil man leichten Zugang zu den alten hat. Sogar, wenn neue soziale Bindungen eingegangen werden, könnten die Eigenschaften sozialer Medien neue Migranten dazu motivieren, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen – nämlich neue soziale Verbindungen zu knüpfen, die auf dem schon existierenden sozialen Netzwerk aufbauen, das die Migration ermöglicht hat, statt auf Bindungen größerer sozialer Netzwerke der Communitys, in die sie migrieren.

Zweimal abwesend in der Filterblase

Die Dynamik sozialer Medien kann, ohne dass man etwas tut, diese Art sozialer Abgeschlossenheit verstärken, etwa durch das Phänomen der „Filterblase“. Dieser Begriff, den der Aktivist Eli Pariser geprägt hat, bezieht sich auf die Personalisierung des Medienkonsums, der durch die Algorithmen der sozialen Medien und intelligente digitale Technologie ermöglicht wird. Ein Algorithmus – zum Beispiel der Algorithmus, der festlegt, was auf dem eigenen Facebook-Feed erscheint, macht selektive Berechnungen zur Art des Contents, der einem präsentiert wird und zwar auf der Basis einer Reihe von Faktoren: wo man sich befindet, was man bisher gesucht hat und welche Inhalte man bis dahin geliked, geteilt oder angesehen hat. Wenn man sich mit einer bestimmten Art von Inhalten beschäftigt oder bestimmte Eigenschaften zeigt, dann wird man mehr Inhalte von der gleichen Art präsentiert bekommen und weniger von anderen Arten.

Diese Personalisierung isoliert den Nutzer von gegenteiligen Ansichten und anderen Erfahrungen und stellt gleichzeitig Ansichten zur Verfügung, mit denen man übereinstimmt, und mit Material, das einem bereits zuvor gefallen hat. Auf diese Art und Weise kann die Filterblase ideologische, kulturelle und soziale Speicher schaffen. Wenn intelligente Algorithmen User mit Meinungen und Medieninhalten versorgen können, die ihre Überzeugungen bekräftigen, und wenn es möglich ist, in unseren sozialen Interaktionen so selektiv zu sein, ist es nicht schwer zu verstehen, wie soziale Medien eine Herausforderung für den sozialen Zusammenhang darstellen können.

Soziale Medien könnten für die Integration ein Hindernis sein, denn sie bieten Migranten eine verführerische Alternative dazu, innerhalb ihrer neuen Gesellschaft neue Verbindungen zu knüpfen.

Klar ist auch, warum dieses Problem für neue Migranten besonders gravierend sein kann, die weniger Zugang zu den auf Geografie basierenden, die gesellschaftliche Struktur stärkenden, sozialen Netzwerken anderer Bürger haben. Migranten werden traditionell beschrieben als „zweimal abwesend“. Sie sind von ihren Heimatländern abgeschnitten, aber stehen auch vor Herausforderungen bei der Integration in ihre neuen Communitys. Soziale Medien führen sicher dazu, dass Migranten weniger weit weg von Zuhause sind, aber es ist nicht sicher, dass sie durch diese auch weniger abwesend sind von ihrer neuen Gesellschaft.

Wie der Anthropologe Lee Komito vom Dubliner University College hervorgehoben hat, haben Migranten die Möglichkeit, eher „virtuelle Migranten“ als „vernetzte Migranten“ zu sein. „Ihre physische Lokalisierung kann irrelevant sein für ihre Identität, da sie weiterhin an [...] ihrer Heimat-Community teilhaben, unabhängig davon, wo sie aktuell leben“. Die möglichen Herausforderungen, die soziale Medien für die Integration neuer Migranten bedeuten, lassen die Herausforderungen für den sozialen Zusammenhalt in einer größeren Gesellschaft durch eine Technologie, welche die Art und Weise, wie wir miteinander in Verbindung treten, transformiert, deutlich hervortreten. Indem wir mehr online und weniger offline unter Leute kommen, werden unsere Normen und Werte zunehmend innerhalb von Interessennetzwerken herausgebildet statt durch Netzwerke des „vorherigen Kennenlernens“, eher durch geteilte Meinungen als durch die notwendige, offene Verbindung. Die Filterblase fördert dies.

Unsere vielfältige Gesellschaft wird definiert durch ihre bürgerliche Identität und reihum durch die Reichweite ihres physischen Territoriums, ihrer Stadtviertel und gemeinsamen Räume. Deshalb gibt es überzeugende Gründe, warum die Art des durch soziale Medien geförderten sozialen Kapitals möglicherweise unsere Fähigkeit zu Toleranz verringert und den sozialen Zusammenhalt untergräbt. Tatsächlich geschieht dies vielleicht schon. Die sozialen Medien sind nur einer von vielen Faktoren, die verändern, wie wir miteinander interagieren. Es ist weniger wahrscheinlich, dass Briten sich mit anderen Briten verbunden fühlen als noch vor zehn Jahren, und es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass sie ihre Identitäten eher im Hinblick auf ihre Interessen und persönlichen Meinungen definieren als im Hinblick auf ihre Nationalität.

Darüber hinaus werden die Verbindungen innerhalb von Interessens- und Meinungsgruppen stärker, während die Verbindungen durch Nationalität und eine gemeinsame Kultur schwächer wer - den. Auch die Einsamkeit nimmt zu. Da - bei sind die jungen Menschen von allen die einsamsten und das ist immer häufiger so. „Wir brauchen mehr Untersuchungen“, lautet ein geläufiger Refrain, aber im Fall des Einflusses sozialer Medien auf die Gesellschaft als Ganzes, ist besorgniserregend, wie wenig Forschung die seismischen Veränderungen, die stattgefunden haben, begleitet hat. Damit wären wir wieder bei Howard Rheingold. Wenn wir in Technologie und Gesellschaft gute Entscheidungen treffen wollen, können wir es uns nicht leisten, das menschliche Element zu vernachlässigen.

Über den Autor
Louis Reynolds
DOI Policy Global Lead für KI und AR/VR bei Meta

Louis Reynolds ist globaler Leiter der DOI-Politik für KI und AR/VR bei Meta. Er interessiert sich für bürgerliches Engagement, Politik im Online-Bereich, Populismus und Terrorismus. Er hat einen Master in Intelligence and International Security vom King’s College in London und einen Abschluss in War Studies von der Universität Birmingham.

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