Im Kampf um die Meinungsfreiheit und wo ihre Grenzen liegen, starben in der Geschichte der Menschheit tausende von Menschen. Der griechische Philosoph Sokrates wurde vom Athener Rat im Jahr 399 v. Chr. wegen Leugnung der staatlich anerkannten Götter und Verführung der Jugend zum Tod verurteilt. Der katholische Mönch Giordano Bruno starb wegen seiner kosmologischen Ideen, die der damaligen Lehre der katholischen Kirche widersprachen, die sich aber letztlich als richtig erwiesen, im Jahr 1600 auf dem Scheiterhaufen. Der iranische Blogger Ruhollah Zam wurde im Jahr 2020 im Iran hingerichtet, unter anderem wegen „regierungsfeindlicher Propaganda“ und „Beleidigung des Islam“.
Der iranische Blogger Ruhollah Zam wurde im Jahr 2020 im Iran hingerichtet, unter anderem wegen ‚regierungsfeindlicher Propaganda‘ und ‚Beleidigung des Islam‘.
In autoritär regierten Systemen sind regierungskritische Aussagen in Wort und Schrift seit jeher gefährlich und werden häufig mit Gefängnis oder gar dem Tod bestraft. Aber auch in den Demokratien dieser Welt ist die Frage, was durch die freie Meinungsäußerung gedeckt ist und wo ihre Grenzen liegen, zunehmend umstritten. Der amtierende US-Vizepräsident JD Vance etwa warf auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2025 europäischen Regierungen und der EU vor, sie gefährdeten die freie Meinungsäußerung.
Was freie Meinungsäußerung bedeutet und wo ihre Grenzen liegen, ist nicht allein eine juristische Frage. Mehr und mehr ist sie Teil eines Kulturkampfes und eine Auseinandersetzung um politische Überzeugungen und moralische Werte geworden.
In den USA etwa wird das Recht auf freie Meinungsäußerung weit ausgelegt und hat als erster Verfassungszusatz einen besonders hohen Rang. Der Staat darf nur in extremen Ausnahmefällen einschränkend eingreifen. Selbst Beleidigungen gegenüber anderen Menschen, auch Politikern, oder Lügen fallen dort weitgehend unter den Schutz der freien Meinungsäußerung, wie auch diskriminierende Äußerungen oder sogenannte Hassreden. Das hat auch damit zu tun, dass in der US-amerikanischen Gesellschaft der Glaube stark verwurzelt ist, eine Art von unsichtbarer Hand einen möglichst freien Markt der Ideen am besten regulieren würde.
Ob das tatsächlich zutrifft, wird auch in den USA selbst bezweifelt, wo diskriminierende Aussagen gegenüber als schwächer wahrgenommenen Gruppen (Minderheiten, bestimmte Ethnien, Hautfarben, Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen) nicht mehr ohne weiteres hingenommen werden.
Insbesondere von Vertretern konservativerer und politisch rechter Seite kritisieren diese sprachliche Sensibilisierung wiederum als Teil einer „Cancel Culture“, die die freie Meinungsäußerung behindere. Selbst rassistische, frauen- oder homosexuellenfeindliche Aussagen seien demnach durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt.
Während der Covid-Pandemie wurde in vielen Ländern Europas und auch in den USA eine heftige Debatte darüber geführt, wie man mit dem Thema auch in den Medien oder etwa im Internet, in den sozialen Medien, umgehen solle. Während auf der einen Seite „Covid-Skeptiker oder -leugner“, die die Pandemie für einen Schwindel bestimmter Interessensgruppen in den Regierungen oder etwa der Pharmaindustrie hielten oder ihre Gefahren für übertrieben, ihre Sicht auf das Thema verbreiten wollten, plädierten all die, die die Pandemie für gefährlich hielten dafür, Nachrichten oder Berichte, die Covid leugneten oder klein redeten, einzuschränken.
Mit dem Ziel, „Fake-News“, Falschinformationen, Lügen oder unbewiesene Behauptungen nicht zuzulassen, weil sie eine wirksame Bekämpfung der Pandemie verhinderten, wurde auch in den USA von Regierungsseite Druck auf die großen Anbieter sozialer Medien im Internet ausgeübt, bestimmte Nachrichten zu löschen oder bestimmte Kanäle auf Twitter, Facebook oder YouTube zu blockieren.
Mehr und mehr ist [freie Meinungsäußerung] Teil eines Kulturkampfes und eine Auseinandersetzung um politische Überzeugungen und moralische Werte geworden.
Oft handelte es sich dabei um Angebote sogenannter „Verschwörungstheoretiker“ oder rechtsextremer Personen und Gruppierungen. Die Verschwörungstheorie des einen ist die Wahrheit des anderen. Und so wurde in diesem Konflikt von Covid-Skeptikern auch das Recht auf freie Meinungsäußerung ins Feld geführt, dass jegliche Beschränkung der Debatte nicht erlaube. Eine der lautesten Stimmen in diesem Streit war ausgerechnet der jetzt wieder amtierende US-Präsident Donald Trump, aber auch sein Vize J.D. Vance oder der momentan reichste Mensch der Welt, Elon Musk, der 2022 die Nachrichtenplattform Twitter kaufte.
Auch um, wie er sagte, die Redefreiheit zu verteidigen, ließ er wieder viele Accounts reaktivieren, die vorher wegen rassistischen, transfeindlichen oder gewaltverherrlichenden Inhalten und Verschwörungserzählungen gesperrt worden waren.
Heißt das nun, dass die freie Meinungsäußerung für die neue US-Regierung über allem steht? Die wütenden Reaktionen von Donald Trump gegenüber Politikern und Journalist*innen, die seine Aussagen in Zweifel ziehen, sein Vorgehen gegen Universitäten, der Versuch, gegen Kritiker seiner Politik in der Verwaltung oder auch in den Medien und Universitäten vorzugehen, aber auch der Umgang mit Kritikern der momentanen Israelpolitik in Gaza in den USA, denen schnell Antisemitismus unterstellt wird, weist eher auf das Gegenteil hin. Freie Meinungsäußerungen gelten für diejenigen, die eine bestimmte politische Richtung unterstützen. Das kennt man auch aus autoritären Staaten.
Doch so einfach ist die Sache nicht, wie gerade die Debatte um das Thema Antisemitismus, „Israelkritik“ und Kritik an der Regierung Israels zeigt.
Viele europäische Länder haben eine eingeschränktere Ansicht darüber, was durch die Meinungsfreiheit gedeckt ist und was nicht. In Deutschland ist die Meinungsfreiheit eigentlich durch Artikel 5 des Grundgesetzes geschützt. Insbesondere nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus sollte der Schutz der Meinungsfreiheit einen hohen Stellenwert im seit 1949 geltenden Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland erhalten.
Man hat diese Meinungsfreiheit aber mit gesetzlichen Schranken versehen, etwa bei Volksverhetzung, Beleidigung, Verleumdung oder übler Nachrede. Diese sind strafbar. Der Schutz Einzelner oder von Gruppen vor Diskriminierung beziehungsweise ihrer Persönlichkeitsrechte ist in der Rechtstradition Deutschlands stärker verankert als in den USA. Das gilt auch für weitere europäische Länder.
Das bedeutet, dass diskriminierende Äußerungen gegenüber Gruppen, etwa Geflüchteten, oder auch bewusste negative Falschmeldungen über sie in Deutschland nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sind und strafbar sein können. Auch die Verbreitung von Lügen über einzelne Personen können geahndet werden, insbesondere auch im Internet. Personen des öffentlichen Lebens und insbesondere Politiker genießen in Deutschland einen besonderen Schutz und können auch gegen Beleidigungen vorgehen. Das ist in den vergangenen Jahren häufig geschehen.
So wurde ein ehemaliger Zivilrichter etwa im Dezember 2024 zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er den ehemaligen Wirtschaftsminister Robert Habeck im Internet mehrfach als Vollidioten bezeichnete und geschrieben, der Grünen-Politiker sei so beliebt wie Hundekot. In den USA wären derartige Aussagen vom Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt, in Deutschland sind sie es nicht.
Dass die Auslegung der freien Meinungsäußerung auch mit kulturellen und historischen Umständen zu tun hat, und nicht nur damit, ob ein Land autoritär oder demokratisch regiert wird, zeigt auch die gerade in Deutschland intensiv geführte Debatte um das Thema Antisemitismus oder auch den Nationalsozialismus. Gerade durch die Erfahrungen der Verfolgung und Ermordung von Menschen jüdischen Glaubens sind antisemitische Handlungen in Deutschland ein Straftatbestand, ebenso das Zeigen und Tragen von Symbolen, die hierzulande als verfassungsfeindlich eingestuft werden.
Insbesondere seit dem Beginn des Krieges in Gaza nach dem Angriff von Hamas-Terroristen auf Israel am 7. Oktober 2023 haben die Proteste dagegen auf der Straße und die Debatten im Internet darüber immer wieder dazu geführt, dass Menschen auch wegen antisemitischer Aussagen oder wegen des Tragens angeblich antisemitischer oder verfassungsfeindlicher Symbole, etwa des „Palästinensertuches“ festgenommen und bestraft wurden. Wo legitime Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza endet und wo Antisemitismus beginnt, ist umstritten und auch von der politischen Meinung Einzelner abhängig.
Dass Deutschland gegenüber dem Staat Israel eine besondere Verantwortung fühlt und hat, ist aus der Geschichte erklärbar. Doch wie unterscheidet man deutlich zwischen legitimer Opposition zum Krieg und den darin stattfindenden Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen von Antisemitismus und Volksverhetzung.
Wo legitime Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza endet und wo Antisemitismus beginnt, ist umstritten und auch von der politischen Meinung Einzelner abhängig.
Wann kann die Fotomontage einer ehemaligen Bundeskanzlerin im Hijab mit der Bildunterschrift „Volksverräterin“ oder Zeichnungen von Politikern am Galgen als Aufruf zur Gewalt oder als zu krasse Beleidigung gewertet werden, wann ist sie von der „freien Meinungsäußerung geschützt? Sollten erfundene Geschichten über gewalttätige Ausländer davon gedeckt sein? Auch das sind Fragen, die manchmal mit der unterschiedlichen Rechtskultur in verschiedenen Ländern beantwortet werden können.
Dennoch hat sowohl eine vollkommen uneingeschränkte Meinungsäußerung, in der alles gesagt werden kann, damit niemand, auch keine Regierung dieses Recht einschränken darf, genauso ihre Tücken, wie ihre Einschränkung – selbst, wenn diese mit den besten Intentionen zum Schutz bestimmter Gruppen oder Individuen erfolgt. Denn in vielen Ländern sind einschränkende Regelungen das Einfallstor zu Unterdrückung und Autoritarismus – im Namen einer Religion, im Namen der Staatssicherheit, im Namen des Friedens.
In Ruanda, das 1994 einen schrecklichen Genozid mit zwischen 500.000 und einer Million Ermordeter erlebte (wie viele Menschen genau umkamen, ist im Übrigen in Ruanda sehr umstritten) wird offiziell von einem Genozid an der Volksgruppe der Tutsi gesprochen, auch wenn zwischen April und Juli 1994 auch Hutu ermordet worden. Heute soll man nicht mehr von Hutu und Tutsi sprechen, sondern nur von Ruandern, um die Stabilität des Landes nicht zu gefährden. Die öffentliche Erwähnung der unterschiedlichen Zuschreibungen kann als Divisionismus bestraft werden. Offizielles Ziel ist es, einen nationalen gesellschaftlichen Neubeginn nicht zu gefährden.
Das ist verständlich angesichts der Tatsache, dass genau diese Trennung in ethnische Gruppen einer der Gründe für den Völkermord in Ruanda war. Andererseits wird die Unterdrückung der Debatte um ethnische Zuschreibungen und die Verhinderung eines zukünftigen Völkermords vom autoritären Regime des ruandischen Staatspräsidenten Paul Kagame auch dazu benutzt, um seine Macht zu festigen.
In Marokkos Staatskreisen wird die Region Westsahara als Teil Marokkos anerkannt und muss auf Landkarten so angezeigt werden. Für viele Sahraouis aus Westsahara ist das ein Affront, da sie weiterhin auf Unabhängigkeit oder zumindest Autonomie pochen. Und auch die Vereinten Nationen haben nicht anerkannt, dass Westsahara ein Teil Marokkos sei.
Sollte man also die Ansprüche der Sahraouis beachten und die Westsahara auf Landkarten als getrenntes Gebiet von Marokko auszeichnen oder nicht? Wessen Befindlichkeiten oder wessen territoriale Vorstellungen haben einen höheren Stellenwert?
Wenn es um die christlichen Kirchen geht, darf Kritik und selbst Verunglimpfung oder Verletzung der Gefühle Gläubiger sehr weit gehen – zumindest in vielen säkularisierten Gesellschaften. Das 2012 erschienene Titelbild in einem deutschen Satiremagazin mit einer Karikatur des damaligen Papstes Benedikt mit gelbem Fleck auf der Soutane und der Unterschrift: „Hurra, die undichte Stelle im Vatikan ist gefunden“, die Bezug auf den Verrat von Geheimnissen im Vatikan nahm, wurde durch das deutsche Recht auf Meinungsfreiheit geschützt – auch wenn viele Katholiken daran Anstoß nahmen und der Vatikan gegen das Magazin klagen wollte.
Ein weiteres obszönes Titelbild, in einer Ausgabe vom Dezember 2020 bestand aus einer Zeichnung des damaligen Papstes Franziskus mit einem Kruzifix im Anus. Hinter ihm steht Jesus, dessen Gemächt unterm Gewand hervorlugt. Der Papst sagt „Mon Dieu!“ (Mein Gott), und Jesus erwidert in einer Sprechblase „Denkst Du wieder an ihn?“ Diesmal klagte zwar nicht der Vatikan, doch der US-amerikanische Internet-Suchdienst Google sperrte das Titelbild in seinem App Store wegen Obszönität.
Karikaturen des islamischen Propheten Mohamed in einer dänischen Tageszeitung waren dort durch die Meinungsfreiheit geschützt. In der islamischen Welt sorgten sie für Aufruhr und zu Protesten mit vielen Toten.
Was sollte durch die Meinungsfreiheit geschützt werden? Wann sollten die Gefühle von Menschen geachtet werden, obwohl man sie im Namen der Meinungsfreiheit rechtlich verletzen dürfte? Wo beginnt Diskriminierung bestimmter Gruppen und wie viele beleidigende Aussagen sollte jemand ertragen können? Wann wird eine Begrenzung der Meinungsfreiheit zur Einschränkung eines kritischen Diskurses oder gar zur Unterdrückung unliebsamer Stimmen genutzt? Wann zur Durchsetzung von machtpolitischen Interessen?
Und wann wird die Forderungen nach freier Meinungsäußerung benutzt, um bestimmten politischen Strömungen Auftrieb zu verschaffen, populistischen oder links- oder rechtsextremen, die offen zum Ziel haben, eine staatliche Ordnung anzugreifen? Sollten Lügen und Fake News eingeschränkt werden oder zugelassen, in der Hoffnung, dass sich die Wahrheit am Ende durchsetzen wird?
Antworten auf diese Fragen bleiben streitbar, doch nur durch einen offenen Diskurs kommt man Antworten näher. Und nicht alles, was gesagt werden kann, muss auch gesagt werden. Anstand und Mitgefühl verbieten manche Aussagen, die andere verletzen könnten. Am Ende geht es auch um Empathie und den Versuch, die Meinungen und Gefühle anderer Menschen zu respektieren und zu verstehen. Doch selbst dann: wie können wir über politische, wissenschaftliche oder religiöse Themen Ideen diskutieren, wenn wir einer Seite ihre Aussagen verwehren?
Nicht alles, was gesagt werden kann, muss auch gesagt werden. Anstand und Mitgefühl verbieten manche Aussagen, die andere verletzen könnten.
Das Ringen um die Freiheit und Grenzen der Meinungsäußerung geht weiter. Doch wir sollten uns bewusst sein, dass unsere persönliche Meinung häufig keinen universellen Anspruch hat und schon von unserem Nächsten nicht unbedingt geteilt wird. Die Hoffnung ist, dass wir friedlich über die verschiedenen Sichtweisen unserer Mitmenschen diskutieren können und sie respektieren, auch wenn sie nicht unseren eigenen entsprechen mögen.
Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.