Der Westbalkan liegt im Herzen Europas – und wird doch vielerorts kaum wahrgenommen. Warum wissen wir so wenig über eine Region, die für die Zukunft Europas zentral ist? Der Beitrag beleuchtet Wissenslücken, Migration, Digitalisierung – und zeigt Wege für eine europäische Nachbarschaft auf Augenhöhe.
Der Westbalkan gehört geografisch zu Europa, ist kulturell vielfältig und ein ständiger Gegenstand politischer Debatten über die Erweiterung der Europäischen Union (EU). Dennoch bleibt die Region in weiten Teilen Europas ein „blinder Fleck“. Das Wissen über die Region ist oberflächlich, fragmentiert und von Stereotypen geprägt. Und dies, obwohl der Westbalkan für die Sicherheits-, Migrations- und Erweiterungspolitik der EU von großer Bedeutung ist.
Hier soll es um die Frage gehen, warum man in Europa weithin zu wenig über den Westbalkan weiß, wie sich das ändern lässt und welche Rolle dabei neue Migrationsbewegungen, der ins Stocken geratene EU-Beitrittsprozess sowie Wissenschaftskooperationen und Digitalisierung spielen.
Das Wissen über die Region ist oberflächlich, fragmentiert und von Stereotypen geprägt. Und dies, obwohl der Westbalkan für die Sicherheits-, Migrations- und Erweiterungspolitik der EU von großer Bedeutung ist.
Das Ziel ist aufzuzeigen, wie fundierte Kenntnisse über die Region nicht als technokratisches Instrument, sondern als Grundlage für gleichberechtigte Beziehungen und neue Formen europäischer Nachbarschaft erlangt werden können.
Im Herzen Europas
Die Staaten des Westbalkans – Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien – liegen im Herzen Europas. Historisch, kulturell und wirtschaftlich bestehen zahlreiche Verflechtungen mit den Mitgliedstaaten der EU. Dennoch wird die Region in der vorherrschenden Wahrnehmung als Randgebiet betrachtet und mit Krisen, Konflikten und Korruption in Verbindung gebracht.
Diese Wahrnehmung ist nicht nur durch die aktuelle Berichterstattung in den Medien bedingt, sondern auch historisch verankert. In Schulen und Universitäten wird der Westbalkan kaum thematisiert. In den einschlägigen Thinktanks wird die Region vor allem aus sicherheits- oder migrationspolitischer Perspektive betrachtet. In den vorherrschenden Debatten der Länder im Westen des Kontinents wird die Bevölkerung der Region als Adressat von „Hilfe“ betrachtet, nicht als Mitgestalter der gemeinsamen europäischen Zukunft.
Auch die politische und ethnische Fragmentierung der Region spiegelt sich in diesem „Halbwissen“ wider: Nationalistische Narrative prägen die Geschichtsschreibung und die Konflikte und Kriege der 1990er Jahre wirken nach. Diese Gemengelage erschwert die Entwicklung eines umfassenden und differenzierten europäischen Wissensfundus über die Region.
Seit dem Zerfall des Kommunismus und insbesondere während und nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien haben Millionen Menschen ihre Heimatländer auf dem Westbalkan verlassen. Viele von ihnen leben heute in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Skandinavien und haben die Staatsbürgerschaft ihrer neuen Heimatländer angenommen. Die heterogene Community der Menschen vom Westbalkan ist ein integraler Bestandteil der europäischen Gesellschaften geworden.
Die heterogene Community der Menschen vom Westbalkan ist ein integraler Bestandteil der europäischen Gesellschaften geworden.
Diese Migrationsgeschichte spiegelt sich heute auf neue Weise in den alten Heimatländern wider. Die erste Generation der Auswanderer, die als „Gastarbeiter“ stigmatisiert statt integriert wurden, reist heute mit ihren Kindern und Enkeln als Touristen in ihre Herkunftsländer oder betätigt sich dort als Unternehmer. Noch bedeutender ist jedoch die zweite Generation. Es sind junge Menschen mit Wurzeln auf dem Balkan, die im Westen Europas aufgewachsen sind. Sie haben weder den Eisernen Vorhang noch die jugoslawischen Zerfallskriege erlebt und entwickeln jetzt ein wachsames Interesse für ihre Wurzeln.
Fremd und doch vertraut
Zum ersten Mal reisen viele bewusst in die Heimatländer ihrer Eltern und entdecken eine ihnen fremde und doch vertraute Kultur. Diese Reisen sind mehr als nur Familientreffen: Es sind informelle Bildungsreisen, die das Bild von der Region im Westen des Kontinents allmählich verändern. Denn die „Heimaturlauber“ reisen mit Partnern, Freunden oder Kollegen, die bis dahin keine Verbindung zum Westbalkan hatten.
So entstehen neue Begegnungen, die nicht über diplomatische oder akademische Kanäle generiert werden, sondern im Alltag. Der Westbalkan wird so nicht als abstrakter Krisenraum, sondern als lebendiger Ort mit Menschen, Landschaften, Geschichten und Perspektiven erfahren.
Blick auf die historische Altstadt von Mostar, Bosnien und Herzegowina, Foto: Gabriele Thielmann via ImageBroker/picture alliance.
Der Tourismus spielt dabei eine immer größere Rolle. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Touristen in Ländern wie Albanien, Montenegro, Nordmazedonien oder Serbien exponentiell gestiegen. Die albanische Riviera zieht jährlich Zehntausende junge Reisende an, die mit dem Bus oder dem Billigflieger kommen und ihre Reiseerlebnisse ausgiebig in den sozialen Medien teilen. Auch Stätten des Natur- und Weltkulturerbes der UNESCO wie Ohrid in Nordmazedonien oder Mostar in Herzegowina werden immer populärer.
Insbesondere Plattformen wie Instagram und TikTok tragen zur größeren Sichtbarkeit der Region bei. Unter Hashtags wie #visitbalkans oder #hiddeneurope entstehen neue digitale Karten einer Region, die jahrzehntelang im Schatten lag. Dieser Trend ist nicht nur oberflächlich. Er führt dazu, dass sich junge Menschen über die Geschichte, Sprache, Küche und Kultur des Westbalkans informieren. Reiseführer werden durch Podcasts ergänzt und Kulturereignisse durch Videos von Influencern.
Doch diese Entwicklung birgt auch Risiken. Ohne die Vermittlung von fundiertem Wissen und die Reflexion der jüngeren Geschichte droht der Westbalkan zum exotischen Reiseziel in unmittelbarer Nachbarschaft zu werden: eine Billigdestination für westliche Backpacker, die soziale und politische Kontexte nicht berücksichtigen. Deshalb ist es so wichtig, den Tourismus als Chance für nachhaltigen Austausch zu nutzen: über Homestays und Kulturprogramme, Begegnungsprojekte und lokale Vermittlungsleistungen.
Akademiker verlassen die Region
Wissenschaft ist ein fundamentales Instrument zur Vermittlung von Wissen, auch von Alltagswissen. Doch mit Blick auf den Westbalkan zeigen sich gravierende Schwächen. Gemeinsame Forschungsprojekte zwischen EU-Staaten und Ländern des Westbalkans sind selten, langfristige institutionelle Kooperationen noch seltener.
Der Hauptgrund dafür ist der sogenannte „Brain Drain“. Viele gut ausgebildete Akademiker verlassen die Region. Was für die Betroffenen eine Verbesserung ihrer individuellen Lebensbedingungen bedeuten mag, führt zur Verarmung der lokalen Wissenschaftslandschaften. Knappe Forschungsbudgets, instabile politische Verhältnisse und Hochschulen, die vom Wohlwollen der Herrschenden abhängig sind, verschärfen dieses Problem zusätzlich.
Gemeinsame Forschungsprojekte zwischen EU-Staaten und Ländern des Westbalkans sind selten, langfristige institutionelle Kooperationen noch seltener.
Auch die Sprachbarriere spielt eine Rolle. Viele wissenschaftliche Publikationen, die vor Ort entstehen, erscheinen nur in den Sprachen der Region und werden international kaum rezipiert. Auf der anderen Seite wird die internationale Forschung von englischsprachigen Veröffentlichungen geprägt, die meist eine „Außenperspektive“ bieten, da ihre Autoren nicht aus der Region selbst stammen. Förderinstrumente der EU wie „Horizon Europe“ und „Erasmus+“ könnten Abhilfe schaffen, erreichen bisher aber kaum die lokalen und regionalen Strukturen. Dort fehlt es nicht an Talent, sondern an nachhaltiger Strukturförderung. Erforderlich sind gleichberechtigte Partnerschaften und ein Austausch auf Augenhöhe.
Der stockende Prozess der EU-Erweiterung ist zudem nicht hilfreich, um das Wissen über die Region zu mehren. Obwohl die Länder des Westbalkans EU-Kandidaten sind, kommt der Beitrittsprozess seit Jahren nicht voran.
Länder wie Nordmazedonien oder Albanien haben bei den Verhandlungen die erforderlichen Fortschritte nachgewiesen, kommen dem Beitritt aber faktisch nicht näher. Serbien und Montenegro verhandeln zwar, aber dort fehlt es noch mehr an Dynamik. Im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina wird die Beitrittsperspektive durch innere Blockaden und Zerfallserscheinungen der fragilen staatlichen Strukturen vollends verdunkelt. Hinzu kommen wachsende Skepsis in den EU-Staaten gegenüber einer weiteren Erweiterungsrunde, bilaterale Blockaden – etwa Bulgarien gegen Nordmazedonien – sowie institutionelle Ermüdung innerhalb der EU.
Diese Verzögerung hat Folgen. Sie nährt die Frustration in der Region, stärkt EU-skeptische und autoritäre Kräfte und schwächt das Vertrauen in die europäischen Institutionen. Darüber hinaus werden Initiativen und Reformprozesse gebremst, da sie ohne eine reale Beitrittsperspektive ihre Dynamik verlieren. Auch die Vermittlung von Wissen über die Region leidet. Warum sollte man sich eingehend mit einer Region befassen, deren europäische Zukunft ungewiss ist?
Dennoch bleibt der Westbalkan eine ausgesprochen europäische Region – nicht nur geografisch, sondern auch aufgrund des Wirkens der Diaspora sowie seiner Geschichte und kulturellen Dichte. Es ist an der Zeit, aus dieser Erkenntnis Konsequenzen zu ziehen. Der Beitrittsprozess darf nicht länger nur als technische Übung, sondern muss als politische Chance und kulturelle Verpflichtung verstanden werden. Wer den Westbalkan integrieren will, muss ihn kennen, verstehen und ernst nehmen.
Wissen zugänglich machen
Wie kann diese Wissenslücke geschlossen werden? Der erste Schritt ist die Anerkennung, dass der Westbalkan nicht marginal, sondern integraler Bestandteil europäischer Realität ist. Dies muss sich in Curricula, Forschungsagenden und Medien widerspiegeln. Ein zweiter Schritt ist, lokale Stimmen hörbar zu machen. Viele junge Wissenschaftler, Aktivisten und Künstler in der Region leisten hervorragende Arbeit. Sie benötigen Plattformen, um an die Öffentlichkeit zu treten, sowie Zugang zu europäischen Netzwerken. Hier können Kultureinrichtungen, NGOs und Medien viel bewegen. Auch Archive, Datenbanken und Oral-History-Projekte können dazu beitragen, komplexes Wissen zugänglich zu machen. Dabei ist es wichtig, nicht nur Wissen über den Westbalkan zu sammeln, sondern auch Wissen aus dem Westbalkan ernst zu nehmen.
Mittelfristig könnten Kooperationen zwischen Städten und Universitäten, Schulen und Museen eine neue europäische Nachbarschaft begründen. Denn Wissen über eine Region entsteht nicht allein durch Forschung, sondern im gleichen Maße durch Begegnung, Dialog und geteilte Erfahrung.
[Es ist] wichtig, nicht nur Wissen über den Westbalkan zu sammeln, sondern auch Wissen aus dem Westbalkan ernst zu nehmen.
Digitale Medien haben das Potenzial, Wissen schneller und breiter zugänglich zu machen. Auch für den Westbalkan bieten sich hier Chancen: Online-Konferenzen, Open-Access-Publikationen, soziale Netzwerke und kollaborative Datenplattformen senken die Eintrittsschwellen. Gleichzeitig zeigen sich jedoch auch neue Ungleichheiten. Nicht alle Universitäten verfügen über eine ausreichende digitale Infrastruktur. Viele lokale Initiativen sind von internationalen Plattformen wie Facebook oder Google abhängig. Zudem ersetzt digitale Sichtbarkeit nicht den strukturellen Austausch, sondern muss ihn ergänzen.
Es gibt einige positive Beispiele. So erreichen virtuelle Museen, digitale Archive und Podcasts aus der Region ein internationales Publikum. Doch diese Projekte sind oft unterfinanziert. Gerade im Bereich der digitalen Kulturarbeit ist gezielte Förderung notwendig. Denn der Westbalkan ist kein ferner Ort, sondern Teil der europäischen Gegenwart. Wer Europa verstehen will, muss den Westbalkan kennen.
Wissen über die Region ist kein Selbstzweck. Es schafft die Grundlage für Vertrauen, Zusammenarbeit und gemeinsame Entwicklung. Die Kreativität der jungen Balkan-Europäerinnen und -Europäer, die Dynamik des Tourismus und die Initiativen der „Digital Natives“ können Impulse geben. Entscheidend ist jedoch, ob Politik und Gesellschaft in den EU-Staaten bereit sind, zuzuhören, zu lernen und Partnerschaften ernst zu nehmen. Die Aufgabe lautet nicht, den Westbalkan besser zu verwalten, sondern ihn als Nachbarn auf Augenhöhe zu verstehen.
Über den Autor
Beqë Cufaj
Autor, Journalist, Botschafter a. D.
Beqë Cufaj ist kosovo-albanischer Schriftsteller und Journalist. An der Universität Pristina studierte er albanische Sprach- und Literaturwissenschaft und war viele Jahre für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) als Autor tätig. Daneben hat er Romane und Essay-Bücher veröffentlicht. Cufaj war 2018 bis 2021 Botschafter der Republik Kosovo in Deutschland und ist seit 2023 Gastdozent an der Macromedia University of Applied Sciences in Berlin.
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