Valery Nechay ist Journalist in St. Petersburg und arbeitet unter anderem für den prominentesten unabhängigen Hörfunksender in Russland, „Echo Moskau“.
Seit langem stellt sich die Frage nach den Unterschieden zwischen Russland und Europa. Besonders heftig wurde darüber im 19. Jahrhundert diskutiert, als die russische Gesellschaft in zwei Hauptgruppen gespalten war: die Westler – Menschen, die glaubten, dass die russische Kultur der europäischen sehr nahesteht – und die Slawophilen, die Russland als Land mit einer einzigartigen Mischung aus europäischen und asiatischen Kulturen betrachteten. Man kann darin einen Widerspruch sehen, aber einige Slawophile wie etwa der berühmte russische Schriftsteller und Philosoph Fjodor Dostojewskij lehnten die Idee einer gemeinsamen russischen und europäischen Kultur nicht ab. Sie glaubten, die russische Kultur habe ihre Wurzeln in Europa.
Diese Debatten endeten jedoch nach der sowjetischen Revolution. Denn in der kommunistischen Ära war Russland nahezu isoliert von Europa und dem Rest der Welt. Inzwischen sind seit dem Fall des Eisernen Vorhangs mehr als 20 Jahre vergangen, und über die Frage nach Russland und Europa wird wieder diskutiert.
Vor einigen Jahren untersuchte eines der größten russischen Meinungsforschungsinstitute, WCIOM, wie Russen über Europa denken. Demnach glauben Russen zwar im Allgemeinen, dass ihnen die europäische Kultur viel näher steht als die amerikanische. Doch fast die Hälfte der Russen meint, dass Russland eher in geografischer und historischer als in kultureller Hinsicht ein Teil von Europa ist.
Kultur besteht aus Werten und Vorgehensweisen, die in der Gesellschaft sinnstiftend wirken.
Währenddessen fragen sich in Europa einige Politiker, warum Europa Zeit und Geld für Initiativen in Russland zu Kultur, Bildung und Zivilgesellschaft ausgeben sollte, wenn diese Programme doch für die Bürger ihrer Länder keinen unmittelbaren Nutzen haben.
Meiner Ansicht nach bilden nur Entdeckung, Austausch und die gegenseitige Bereicherung durch die Werte des jeweiligen Partners eine solide Basis für die Beziehungen zwischen beiden Ländern. Sie geben Sicherheit und schaffen Vertrauen, das für beide Dialogpartner von großer Bedeutung ist. Dieser Dialog hat viele Facetten. Ich möchte mich hier auf einige spezifische Punkte in Kultur und Bildung konzentrieren.
Kultur besteht aus Werten und Vorgehensweisen, die in der Gesellschaft sinnstiftend wirken. Der Kulturdialog ist deshalb ein Grundstein für den Bau von Brücken zwischen Ländern. Mit seiner Hilfe können Regierungen durch den Kontakt zwischen Menschen Vertrauen und gegenseitiges Verständnis fördern.
Man geht allgemein davon aus, dass es in Russland eine große Nachfrage nach europäischer Kultur gibt. Tatsächlich besuchen Russen sehr gerne Gastspiele europäischer Theater, Tourneen von Musikstars und Ausstellungen europäischer Museen. Wenngleich berühmte britische Theater noch nicht in Russland gastiert haben, werden ihre Vorstellungen hier im Kino gezeigt. Es ist kein Wunder, dass zu den profitabelsten Veranstaltungen für das „Aurora-Kino“ in St. Petersburg die Liveübertragungen aus dem „National Theatre“ in London zählten: „Frankenstein“ in der Inszenierung von Danny Boyle mit Benedict Cumberbatch und Jonny Lee Miller, „The Audience“ mit Helen Mirren und „Hamlet“ mit Rory Kinnear in der Titelrolle. Vom großen Interesse der russischen Öffentlichkeit an britischem und europäischem Theater zeugten die Menschen, die Schlange standen, um an eine Karte für die Vorstellung zu kommen.
Wie die Liveübertragungen des „National Theatre“ zog auch das erste „International Winter Theatre Festival“ im Dezember 2013 mehrere Tausend Menschen an. Alle Vorstellungen gingen in einem vollen Haus über die Bühne. Während des Festivals wurde ein sehnsüchtig erwartetes Stück gezeigt: „Der Tod in Venedig“ in der Inszenierung von Thomas Ostermeier. Die Schauspieler, die an dieser Geschichte über die Liebe eines alten Mannes zu einem Jungen mitwirkten, befürchteten, auf der Grundlage eines neuen russischen Gesetzes gegen Homosexuelle bestraft zu werden. Statt einer Bestrafung aber erhielten sie Applaus.
Russland hat genügend Räumlichkeiten, um diese Art von Veranstaltungen durchführen zu können: das Alexandrinskij-Theater in St. Petersburg hat eine neue Bühne, auf der zeitgenössische Aufführungen gezeigt werden können; es gibt eine Reihe kreativer Projekte (etwa das „Loft Project ETAGI“ in St. Petersburg, die „Ural Vision Gallery“ in Jekaterinburg, das Museum für zeitgenössische Kunst in Perm etc.) sowie viele Orte in den russischen Regionen, wo sich die Kreativwirtschaft entwickeln konnte.
Leider muss man auch auf einige Hindernisse hinweisen, die es all diesen großen Plänen und Ideen schwer machen zu überleben. Erstens ist die russische Regierung nicht dafür, diese Initiativen zu unterstützen. Im vergangenen Jahr beispielsweise gab der russische Präsident Wladimir Putin der sogenannten „kreativen Klasse“ die Schuld am sinkenden Leseniveau und an komplizierten Lehrplänen.
Zweitens ist der Weg nach Russland sehr teuer und ein Visum zu bekommen schwierig. Inzwischen nutzen jedoch Persönlichkeiten des Kulturlebens einen neuen Weg, um ohne Visum nach Russland zu reisen. Dies ist auf der Basis neuer Bestimmungen erlaubt, wenn sie mit der Fähre aus Helsinki ankommen.
Drittens ist die Situation der Minderheitenrechte in Russland äußerst unbefriedigend und diskriminierend, insbesondere für die LGBT-Community („Lesbian, Gay, Bisexual and Trans-Community“).
Bildung ist natürlich einer der wichtigsten Katalysatoren des Fortschritts. Sie fördert nicht nur die Entwicklung in der Kultur, sondern auch in der Wirtschaft, in der Politik und im Sozialwesen. Trotz des anfänglichen Enthusiasmus der Euro-Optimisten angesichts des Bologna-Prozesses ist dieser übrigens in der europäisch-russischen Perspektive nicht der Motor für Wandel, Offenheit und Kooperation geworden, wie man es erwartet hatte.
Es ist wichtig, europäische Universitäten, die ja selbst mit Herausforderungen durch Curricula und Finanzreformen zu kämpfen haben, dazu anzuregen, auf verschiedenen Ebenen neue Verbindungen mit russischen Universitäten einzugehen – nicht nur über den regulären Zulassungsprozess, sondern auch durch kurz- und langfristigen akademischen Austausch, doppelte Abschlüsse und Programme für Doktoranden.
Man könnte meinen, dass diese Angelegenheit von jeder Universität einzeln in Angriff genommen werden kann. Aber unserer Meinung nach ist es wichtig, eine Art Rahmenvereinbarung und Infrastruktur zu schaffen, vergleichbar zum Beispiel mit dem Programm Erasmus Mundus. Dies könnte die Mobilität von Akademikern, Studenten und jungen Forschern auf allen Ebenen erhöhen.
Zudem ist festzuhalten, dass sich aufgrund einiger neuerer Initiativen der russischen Regierung – etwa Fördergelder, um führende Wissenschaftler an russische Bildungseinrichtungen zu holen und Zuschüsse für Top-Universitäten, die ihre Position in internationalen Rankings sichern sollen – eine Reihe russischer Universitäten herauskristallisiert, die an solchen Formen der Zusammenarbeit sehr interessiert sind, insbesondere in neuen Trendgebieten wie Informationstechnologie und Datenwissenschaft, Computational Social Science (CSS), Digitale Geisteswissenschaften, Neue Medien und Bioinformatik, in denen Wissenschaftler und – was noch wichtiger ist – Institutionen flexibler sind, jung sowie kooperationsbereit.
Abgesehen von einem allgemeinen Rahmenwerk für die Zusammenarbeit ist es für die weitere Entwicklung auch von zentraler Bedeutung, Zugang zu neuen Ideen und Herangehensweisen zu eröffnen. Besonders wichtig ist dies in den Sozial- und Geisteswissenschaften, die hohe Ideale von Toleranz und Gleichheit erforschen, fördern und erweitern. Öffentliche Vorlesungen und spezielle Kurse europäischer Professoren an russischen Universitäten könnten die öffentliche Diskussion stärken und neue Ideen verbreiten.
Einige Experten meinen, es gäbe nicht genügend Beihilfen und Stipendien für ausgezeichnete russische Studenten, die nach Beendigung ihres Studiums nach Russland zurückkommen wollen. Mit diesem Thema müssen sich die russischen Behörden beschäftigen. Die Rückkehr ist ein besonders wunder Punkt. Europa sollte Wege finden, diese Menschen davon abzuhalten, die Migranten der Zukunft zu werden. Das zweite Problem ist das Visum. Gelöst werden kann Kones nicht ohne Veränderungen auf höchster Ebene. Könnte man Studenten und Lehrern bevorzugt kurzfristige Visa geben? Und in welchem Ausmaß sollte diese Politik umgesetzt werden? Trägheit ist leider typisch in solchen Prozessen. Deshalb vergehen Jahre, bis wir Ergebnisse sehen.
Fragen Sie sich selbst, ob Sie sich bezaubernde Bilder von Russland vorstellen können – statt der schrecklichen Szenen über die Mafia, Bären auf den Straßen der Städte und allgemeine Armut, die in den Köpfen der Menschen aufblitzen, wenn sie das Wort ,Russland‘ hören.
Es gibt jedoch ein fantastisches Beispiel für eine Institution, deren Arbeit zu wichtigen Ergebnissen geführt hat. Es handelt sich um eine private Initiative für die Förderung russischer Kultur in Europa mit dem Namen „Calvert“, die auch umgekehrt funktionieren könnte.
Nichts bewegt sich, solange du dich nicht bewegst. Diese Worte beschreiben ausgezeichnet die aktuelle Lage. Unserer Meinung nach bemüht sich die russische Regierung nicht genug darum, den interkulturellen Dialog zwischen Russland und Europa zu fördern. Ein Vakuum wird für gewöhnlich ausgefüllt. Im öffentlichen Leben geschieht dies normalerweise durch öffentliche Initiativen und die Zivilgesellschaft.
Vor einigen Jahren entschied die in Russland geborene Wirtschaftswissenschaftlerin Nonna Materkova, die mehr als ein Jahrzehnt in Großbritannien gelebt hatte, eine Wohltätigkeitsstiftung zu gründen, um die zeitgenössische russische Kunst zu fördern. Der Idee von „Calvert 22“ schienen sich zunächst mindestens zwei wichtige Hindernisse in den Weg zu stellen: der weitverbreitete Glaube, dass es in Russland überhaupt keine zeitgenössische Kunst gibt und die Behauptung, dass in Russland nichts „Gutes“ existiert. Die europäischen Medien haben sich an diese Mythen gewöhnt – wie auch die Menschen in Europa: Fragen Sie sich einmal selbst, ob Sie sich bezaubernde und herrliche Bilder von Russland vorstellen können – statt der schrecklichen Szenen über die Mafia, Bären auf den Straßen der Städte und allgemeine Armut, die in den Köpfen der Menschen aufblitzen, wenn sie das Wort „Russland“ hören. Das Ziel der Stiftung war, diese Mythen zu sprengen, indem man das Banner hochhielt: „Russland ist viel besser, als du denkst.“
Stereotype zu zerstören, ist eine sehr schwierige und fast unmögliche Aufgabe. Sie erfordert langwierige und anstrengende Arbeit, die manchmal zu keinen Ergebnissen führt. Aber mit der richtigen Herangehensweise kann es zu fantastischen Resultaten kommen. Die Stiftung, die im Jahr 2009 nur eine kleine Galerie war, hat nun mehrere langfristige Projekte zur modernen russischen Kunst: das online publizierte „The Calvert Journal“, ein Bildungsprogramm für hervorragende Studenten, Künstler und Akademiker aus Russland sowie das Calvert Forum, der größte Think Tank der Kreativindustrie.
Es gibt ein Programm mit Vorträgen und Berichten zur Rolle des kreativen Unternehmens für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Russland und Osteuropa. Die Stiftung „Calvert 22“ ist heute eine der bekanntesten Institutionen, die zeitgenössische russische Kunst in Westeuropa bekannter macht. Dieses Beispiel vermittelt uns eine Vorstellung davon, wie wichtig die neuen Initiativen sind, um enge Verbindungen zwischen Künstlern und Öffentlichkeit herzustellen und internationale kreative Netzwerke aufzubauen. So sehen gute Wege in der Kulturdiplomatie aus, die von europäischen Kulturinstituten eingeschlagen werden können.
Eine der wichtigsten Ursachen von Konflikten liegt darin, dass beide Seiten für gewöhnlich nicht genug übereinander wissen. Statt in einen Dialog zu treten, igeln sie sich ein, ergehen sich in haltlosen Verdächtigungen und teilen sich in Gruppen, die „recht“ oder „unrecht“ haben. Dies erzeugt einen Teufelskreis. So entstehen Stereotype, die man irgendwann nicht mehr auflösen kann. Um dem vorzubeugen, müssen beide Seiten ihre Spekulationen beenden, die Türen öffnen und anfangen, miteinander zu reden. Wir haben eine klare und verständliche Sprache, die es Menschen möglich macht, Gemeinsamkeiten zu finden. Man nennt sie Kultur. Möglicherweise hilft genau sie dabei, die Frage zu beantworten, ob Russland nun Europa ist oder nicht.
Valery Nechay ist Journalist in St. Petersburg und arbeitet unter anderem für den prominentesten unabhängigen Hörfunksender in Russland, „Echo Moskau“.
Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.