Die Illustration zeigt eine Frau, über deren Kopf eine Denkblase mit Taube und Peace Zeichen schwebt. Hinter ihr sind zerstörte Gebäude zu sehen

„Wer schreibt, trifft schon eine Wahl“

Der heute inhaftierte algerische Schriftsteller Boualem Sansal schildert in seiner eindringlichen Rede Algeriens leidvolle Geschichte zwischen Krieg, Diktatur und Freiheitsdrang – ein kraftvoller Appell an Erinnerung, Mut und die transformative Kraft der Sprache im Kampf um Würde und Selbstbestimmung.

Im Kontext der heutigen Zeit ist dies, die Verleihung des Friedenspreises, eine rührende, eine aufmunternde Geste, denn sie zeugt davon, dass Sie sich dafür interessieren, wie wir Völker des Südens versuchen, uns vom Joch unserer bösartigen und archaischen Diktaturen zu befreien, in dieser arabisch-muslimischen Welt, die einst ruhmreich und tatkräftig war. Nun aber schon so lange verschlossen und erstarrt ist, dass wir schon vergessen haben, dass wir Beine haben und einen Kopf, und dass man auf seinen Beinen stehen und gehen und laufen kann, oder auch tanzen, wenn einem der Sinn danach steht, und dass man mit seinem Kopf jenes unvorstellbar Zauberhafte tun kann, nämlich sich eine Zukunft ersinnen und diese dann auch leben, hier, in der Gegenwart, in Frieden, in Freiheit, in Freundschaft. 

Welch berauschende, erlösende Macht: Wir erfinden die Zukunft, während die Zukunft uns erfindet. Es ist schon ein Glück, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, innerhalb des unergründlichen und unbewältigbaren Vorhabens, das wir Leben nennen, aus eigenem Willen heraus zu agieren. Uns überrascht nur etwas im Grunde Banales: Das Leben ist eine fortlaufende, revolutionäre Erfindung, und wir sind lebende romantische und surrealistische Gedichte und tragen in uns zeitlose Wahrheiten und unendliche Versprechen; auf dieser Ebene muss man uns sehen. Der freie Mensch hat eigentlich keine andere Wahl als wie ein Gott zu handeln, ein wagemutiger Schöpfer, der immer weiter voranschreitet, weil er sonst dem Nichts von Fatalismus, Sklaverei und Untergang verfällt.

Camus, der Franko-Algerier, der Revoltierende, ermahnte uns, nicht zu resignieren, und das nehmen wir uns mehr denn je zu Herzen; in diesen Zeiten von Terror und Hoffnung bleibt uns nichts übrig, als mutig zu sein, denn Mut ist gleichbedeutend mit aufrechtem Leben, und daher sehen wir voller Vertrauen in die Zukunft.

Das hat für mich gerade jetzt eine besondere Bedeutung, wo durch unsere arabische Heimat ein frischer Wind geht, der jene aus der Freiheit geborenen und damit universellen humanistischen Werte mit sich führt, auf die mein Engagement sich gründet. Literarische Meriten, so groß sie auch sein mögen, haben meiner Ansicht nach erst dann einen wirklichen Wert, wenn sie einer großen Sache dienen, der Förderung einer Sprache, einer Kultur, eines politischen oder philosophischen Projekts. 

Beseelt vom Geist der Freiheit

Ich gebe mich der Hoffnung hin, dass all das, was wir Schriftsteller, Filmemacher, Dichter , Philosophen und Politiker getan haben, wenigstens einen winzig kleinen Beitrag zum Aufkommen jenes Arabischen Frühlings geleistet hat, der uns träumen und auch ungeduldig werden ließ, weil er doch beseelt ist von einem Geist der Freiheit und des wiedergefundenen Stolzes, und einem Geist des Mutes, denn bisher hat er allen Drohungen und auch allen Versuchen der Instrumentalisierung standgehalten, und wenn ich dazu ein bisschen etwas habe beisteuern können, dann als einer unter vielen arabischen Intellektuellen und Künstlern, deren Verdienste ungleich größer sind als meine. Einige von ihnen genießen ganz besonderes Ansehen, und die bloße Erwähnung ihrer Namen kann Menschenmengen in Bewegung setzen.

Einige arabische Künstler und Intellektuelle genießen ganz besonderes Ansehen, und die bloße Erwähnung ihrer Namen kann Menschenmengen in Bewegung setzen.

Im Jahr 2000 wurde hier meine Landsfrau Assia Djebar geehrt, die viel für die Durchsetzung des eigentlich selbstverständlichen Gedankens getan hat, dass auch bei uns in den arabisch-muslimischen Ländern die Frau ein freies Wesen ist, und dass es ohne Frauen im Vollbesitz ihrer Freiheit keine gerechte Welt geben kann, sondern nur eine kranke, lächerliche und gehässige Welt, die ihr Dahinsterben nicht wahrnimmt. Ich kann hier sagen, dass der Kampf hierfür seine Früchte getragen hat: Echter Widerstand, also ein Widerstand voller Würde und Zähigkeit, wird in Algerien heute hauptsächlich von Frauen geleistet. 

Während des Bürgerkriegs in den neunziger Jahren, dem schwarzen Jahrzehnt, wie wir jene Zeit nennen, waren Frauen eine bevorzugte Zielscheibe der islamistischen Horden, aber zugleich sah das andere Lager, also die Machthaber und ihre Klientel, in ihnen die Wurzel all unserer andauernden Übel und suchte sie mit aller Kraft des Gesetzes und der Propaganda zum Schweigen zu bringen. Die Frauen aber haben großartigen Widerstand geleistet, und mit ihrem Bemühen, einen permanent schwierigen Alltag zu bewältigen, bauen sie unsere Zukunft auf.

Sie können sich vorstellen, wie sehr die Nachricht von dem Preis mich verunsichert hat. Ich war geschmeichelt, aber eben doch verunsichert. Bedeutet sie doch einen Quantensprung in eine andere Welt, in der man mehr in der Öffentlichkeit steht, als einem vielleicht lieb ist, und in der der Mensch hinter dem Bild verblasst, das andere sich von ihm machen. Eine Welt auch großer Verantwortung, die wiederum große Ambitionen abverlangt.

Das Leben hat etwas Offenbarendes an sich, heißt es; jeden Tag wird man mehr zu dem ... was man ist. Erst am Ende werden wir wissen, wer wir schon zu Anfang waren.

Echter Widerstand, also ein Widerstand voller Würde und Zähigkeit, wird in Algerien heute hauptsächlich von Frauen geleistet.

Wieder die Relativität. Glauben Sie mir, ich habe mich sehr hinterfragt. Ich soll einen Friedenspreis bekommen, habe ich mich gefragt, ausgerechnet ich, der ich seit jeher im Krieg lebe, in meinen Büchern nichts anderes behandle als den Krieg und vielleicht auch an nichts anderes glaube als an den Krieg. Denn der Krieg ist stets auf unserem Weg, und eigentlich existieren wir nur durch ihn, denn er lässt uns das Leben wertschätzen, lässt uns vom Frieden träumen und nach dem Frieden streben, und unsere algerische Geschichte ist nun mal leider so, dass wir im Lauf der Jahrhunderte nie die Wahl zwischen Krieg und Frieden hatten, sondern nur zwischen Krieg und Krieg. 

Wie bei einer Matrjoschka-Puppe

Und was waren das für Kriege, sie wurden uns allesamt aufgezwungen, und jeder davon hätte uns beinahe vollständig aufgerieben; da war von 1954 bis 1962 der lange, furchtbare Befreiungskrieg gegen den Kolonialismus, der – wie wir im Lauf der Massaker erfahren mussten – wie bei einer Matrjoschka-Puppe noch andere Kriege enthielt; in dem Unabhängigkeitskrieg, der in noblem Gewand daherkam, versteckte sich ein schändlicher, grausamer Bürgerkrieg, wir kämpften gegen die Kolonialtruppen und gegen uns selbst, es kämpften FLN (Front de Libération Nationale) gegen MNA (Mouvement National Algerien), Araber gegen Berber, Religiöse gegen Laizisten, und so bereiteten wir künftigem Hass und künftigen Spaltungen schon den Boden, und dann war da noch ein Krieg, nämlich der heimtückische, niederträchtige Krieg, den die Führer der Nationalbewegung bereits um die spätere Macht führten, und was dabei völlig auf der Strecke blieb, das waren die Freiheit und die Würde, für die unsere Eltern zu den Waffen gegriffen hatten.

Wir kämpften gegen die Kolonialtruppen und gegen uns selbst, Araber gegen Berber, Religiöse gegen Laizisten, und so bereiteten wir künftigem Hass und künftigen Spaltungen schon den Boden.

Nach acht Jahren Krieg kam tatsächlich der Friede, doch war es ein seltsamer Friede, und er währte auch nur einen Tag. Denn da kam auch schon ein Putsch, der erste einer ganzen Reihe; sofort nach der am 5. Juli 1962 verkündeten Unabhängigkeit Algeriens wurde dem Volk die mit dem Blut errungene Freiheit wieder gestohlen. 

So wie man Armen ihr Geld wegstiehlt, verachtungsvoll und brutal, und so begann für uns ein obskurer, trauriger, unendlich langer Grabenkrieg, in dem das Volk einer unsichtbaren Armee gegenüberstand, nämlich einer allgegenwärtigen politischen Polizei, die sich auf eine wuchernde Bürokratie stützte, gegen die nichts auszurichten war, so dass man lediglich mit Geduld und List widerstehen und überleben konnte.

Befreiung ohne Freiheit

Die Befreiung brachte keine Freiheit, und Freiheiten schon gar nicht. Sie brachte nur Einschränkung, geistige und materielle. Daran schluckten wir schwer. Und danach, ohne einmal durchatmen und wenigstens die psychologischen Schäden jener langen, erniedrigenden Unterwerfung ermessen zu können, sind wir 1991 in den schlimmsten aller Kriege geraten, den Bürgerkrieg, jene von den islamistischen Horden und dem Militär- und Polizeikomplexgewollte blindwütige Barbarei, die Hunderttausende von Menschen das Leben gekostet, unser Volk ruiniert und das Zauberband, das eine Nation zusammenhält, zerstört hat.

Diese Barbarei ist heute im Rückgang begriffen, ihre Protagonisten (die Turbane und die Schirmmützen, wie sie der Volksmund nennt), haben einen lukrativen Deal geschlossen und das Land und die Erlöse aus dem Erdölgeschäft unter sich aufgeteilt. Gedeckt wurden diese mafiösen Arrangements durch famose Gesetze, mit denen sich die öffentliche Meinung im Westen, und war sie auch noch so anspruchsvoll, trefflich beschwichtigen ließ, zielten jene Gesetze doch auf einen Bürgerfrieden hin, eine nationale Aussöhnung.  

Kurz gesagt auf den Frieden, einen vollständigen, brüderlichen, glücksseligen Frieden, der jedoch in Wirklichkeit nichts anderes war als eine Kriegslist, die die Mörder belohnt, den Opfern den Garaus macht und die Wahrheit und die Gerechtigkeit mit ihnen zusammen ein für alle Mal begräbt. Sie haben sich als perfekte Strategen erwiesen und die westlichen Demokratien zu betören vermocht, was uns den Rest gab, mussten wir doch begreifen, dass das Gute und die Wahrheit nirgends zu finden waren.

Als erstes wurden die Demokratien von den Turbanen verführt, die sich 1991 mit einer angeblichen Legitimität brüsteten, die ihnen durch die – in Wirklichkeit allerdings manipulierten – Wahlurnen zugekommen sei und um die die Militärs sie betrogen hätten. 

Und als später ihre wahre, von Hass und Verschlagenheit gekennzeichnete fürchterliche Natur zum Vorschein kam, begannen nunmehr die medaillenbehängten Schirmmützen den westlichen Ländern schöne Augen zu machen, die ja auch wirklich leicht zu verführen waren oder aber im Namen der Realpolitik sündigten. 

Die Mililärs argumentierten damit, dass sie in der Lage seien, die westlichen Länder vor islamistischem Terror und illegaler Einwanderung zu schützen, obwohl doch diese – ebenso wie die explosionsartige Entwicklung des Schmuggels – nichts anderes waren als Abfallprodukte ihrer eigenen katastrophalen Führung des Landes. Innerhalb dieser neuen internationalen Arbeitsteilung waren Willkür, Folter und Mord in unseren Ländern abgesegnet.

Verteilte Rollen

Die Rollen waren verteilt, der Süden war die Herkunftsstätte der Eindringlinge, das Schreckgespenst par excellence, der Norden wiederum das eingekreiste, bedrohte Paradies, und als Gipfel der Unvernunft wurden unsere gemeingefährlichen und unersättlichen Diktatoren in den Rang von weltweiten Friedenswächtern erhoben, von Wohltätern der Menschheit, sowie Osama Bin Laden einer für die Millionen von brachliegenden Seelen sein konnte, die aus jenem Milieu kommen, das im Orient „die arabische Straße“ und im Westen „Problemviertel“ genannt wird.

Dem durch Jahre Terror und Lüge zermürbten algerischen Volk wiederum bot man jene Art Frieden an, die einem echten Frieden am allerwenigsten gleicht, nämlich eine Grabesruhe, jene fade Suppe, die aufs Vergessen vorbereitet und auf einen banalen Tod. Wir hatten die Wahl: entweder das oder wieder nur Krieg, Krieg und Krieg. So ließen auch wir uns überreden, denn wir waren erschöpft und allein. 

Doch haben wir auch aus Unwissenheit gesündigt, denn niemand hatte uns je gesagt, dass es eines Minimums an Demokratie bedürfe, damit in einem Land der Friede zu einer glaubwürdigen Alternative werden könne, und dass auch noch andere Ingredienzien nötig seien, damit jener rudimentäre Friede gemeinsam gelebt werde und zu jedermanns Vorteil sei: Man braucht ein wenig Weisheit in den Köpfen der Kinder, ein wenig Tugend in den Herzen der durch ihre Leiden verbitterten Alten, ein wenig Zurückhaltung bei den Reichen, ein wenig Toleranz bei den Gläubigen, ein wenig Demut bei den Intellektuellen, ein wenig Redlichkeit bei den staatlichen Institutionen, ein wenig Aufmerksamkeit von Seiten der internationalen Gemeinschaft. 

In einem Land, das nichts anderes kennengelernt hat als die Diktatur, nämlich die der Waffen und der Religion, besteht die einzige Vorstellung, die man sich vom Frieden machen kann, aus Unterwerfung, Selbstmord oder endgültiger Emigration. Das Fehlen von Freiheit ist ein Schmerz, der einen auf Dauer verrückt macht. Er reduziert den Menschen auf seinen eigenen Schatten und macht seine Träume zu Alpträumen. 

Von dem Maler Giorgio de Chirico stammt der merkwürdige Satz: Im Schatten eines Mannes, der in der Sonne geht, sind mehr Rätsel als in allen Religionen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Das ist gut möglich und stimmt wohl auch, doch im Schmerz eines Menschen, der auf seinen Schatten reduziert ist, steckt nichts Mystisches, sondern reine Scham. 

Wer nicht frei ist, wird niemals einen anderen achten, weder den Sklaven, denn dessen Unglück erinnert ihn an seine eigene Erniedrigung, noch den freien Menschen, denn dessen Glück ist für ihn eine Beleidigung. Nur das Streben nach Freiheit rettet ihn vor Hass und Verbitterung. Ohne dieses Streben sind wir keine Menschen und es steckt nichts Wahres in uns.

Wer nicht frei ist, wird niemals einen anderen achten, weder den Sklaven, denn dessen Unglück erinnert ihn an seine eigene Erniedrigung, noch den freien Menschen, denn dessen Glück ist für ihn eine Beleidigung.

So ist mein Land unglücklich und zerrissen. Ich weiß nicht, wer das so gewollt hat, das Schicksal, die Geschichte, sein Volk; ich würde eher sagen, seine politischen Führer, die zu allem fähig sind. Mein Land ist eine Summe unauflöslicher Paradoxien, von denen die meisten tödlich sind. Im Absurden zu leben, macht einen schwachsinnig, man torkelt von einer Wand an die andere wie ein Betrunkener. Für junge Menschen, die sich eine Zukunft suchen müssen und einen klaren Kurs brauchen, um sich orientieren zu können, ist dies dramatisch, und es zerreißt einem das Herz, wenn man sie verzweifelt heulen hört wie Wölfe tief in der Nacht.

Das erste Paradox besteht darin, dass Algerien ein unheimlich reiches Land ist, und die Algerier furchtbar arm. Das ist ebenso fatal, wie inmitten eines tiefen, erfrischenden Sees zu verdursten. Was nicht durch Verschwendung verlorengeht, verschwindet garantiert durch Korruption. 

Das zweite Paradox ist, dass Algerien eine perfekt gestaltete Demokratie darstellt, mit Parteien jeglicher Couleur bis zu den originellsten Schattierungen, mit einer Presse, die so frei ist, wie man es nur sein kann, mit einem völlig legal gewählten Präsidenten und allen Arten von Institutionen, deren anerkanntes Anliegen darin besteht, für Recht, Transparenz, Gewaltenteilung und einen Öffentlichen Dienst zu sorgen, während aber zugleich das Volk in der alltäglichen Realität dem grausamsten Despotismus ausgesetzt ist, dem berühmt- berüchtigten orientalischen Despotismus, den im Laufe der Jahrhunderte nichts hat humanisieren können.

Unerklärlicher Akt des Selbsthasses

 Das dritte und in meinen Augen schlimmste, da unwiderrufliche seelische Schäden hervorrufende Paradox ist das folgende: Algerien hat eine außerordentlich reiche und bereichernde Geschichte, es hat mit allen Kulturen des Mittelmeerraums in Kontakt gestanden und sie alle leidenschaftlich geliebt und sich zu eigen gemacht, und sie doch auch alle voller Stolz bekämpft, die griechische Kultur, die phönizische, die römische, die vandalische, die byzantinische, die arabische, die osmanische, die spanische, die französische, doch bei der Unabhängigkeit, als der Moment gekommen war, all die Völker des Landes zu vereinen, inklusive auch die zuletzt angekommenen, die europäisch-stämmigen Pied-Noirs, und alle Kräfte zu mobilisieren, um vorwärts zu kommen, da hat das Land mit einem Schlag seine Fähigkeit des Erinnerns gelöscht. 

In einem unerklärlichen Akt des autoodi, des Selbsthasses, nicht nur seine uralte berberische und jüdisch-berberische Identität, sondern überhaupt alles verleugnet, was ihm durch seine jahrtausendealte Geschichte zuteilgeworden war, und hat sich in einen engen historischen Rahmen gesperrt und sich dabei ausgiebig bei der Mythologie bedient, aber kaum bei der Realität. 

Und warum das? Es ergab sich so aus der Logik eines totalitären Systems heraus. Die Einheitspartei wollte ihre eigene Religion, ihre eigene Geschichte, ihre eigene Sprache, ihre eigenen Helden, ihre eigenen Legenden, und sie bastelte sich diese im kleinen Kreis zusammen und ließ sie per Dekret durchsetzen. Propaganda und Drohung bewirkten dann, was nötig ist, damit solche Totgeburten trotzdem funktionieren, nämlich dass die Leute aus Angst heraus allem zustimmen.

Der Kampf um die Anerkennung unserer Identität war lang und schmerzlich, Hunderte von Aktivisten sind durch Repressionen zu Tode gekommen, insbesondere in der seit jeher unbezähmbaren Kabylei. Folter und Gefängnis haben Tausende von Menschenleben gebrochen und ganze Volksgruppen ins Exil getrieben. Ihrer eigenen Logik gehorchend, hat sich die Repression auf Frankophone ausgedehnt, auf Juden, Laizisten, Intellektuelle, Homosexuelle, auf freiheitsliebende Frauen, auf Künstler, Ausländer, kurzum auf alle, die durch ihre bloße Existenz die erträumte Identität gefährdeten. 

Die Vielfalt des menschlichen Spektrums ist zu einem Fall von Identitätsbeleidigung geworden. Der Kampf ist noch nicht vorbei, und das Schwerste steht uns noch bevor, nämlich dass wir uns endgültig befreien und uns neu definieren, in einem demokratischen, offenen, großzügigen Staat, der jedem einen Platz gewährt und niemandem etwas aufzwingen will.

Es ist bekannt, dass es durch all diese Gewalt, diese endlosen Schikanen, diese furchtbare Einmischung in unser Privatleben, zu der Serie von feuerwerksartigen Revolten in unseren Ländern gekommen ist. Diese Ereignisse bringen auch viel Unglück mit sich, doch wir nehmen das hin, denn am Ende des Weges steht die Freiheit.

Weil ich jene allseits bekannten Dinge niedergeschrieben habe, sind meine Bücher in Algerien verboten worden. Es gehört zu den Absurditäten, aus denen Diktaturen sich speisen, dass meine Bücher längst verboten waren, ich selbst aber in meinem Land lebte und frei reisen durfte. Falls über meinem Kopf ein Damokles-Schwert hing, so sah ich es zumindest nicht. Dass meine Bücher trotz allem im Land zirkulieren, ist der unsichtbaren und sehr riskanten Arbeit einiger Buchhändler zu verdanken. 

In einem Brief an meine Landsleute, der 2006 unter dem Titel „Postlagernd: Algier“ veröffentlicht wurde, habe ich folgendes geschrieben:

„Wäre die Angst nicht da, sie (ich meine die Intoleranten) zum Äußersten zu treiben, würde ich ihnen sagen, dass ich nicht als Algerier, Muslim und misstrauischer und stolzer Nationalist geschrieben habe, und hätte ich dies getan, so hätte ich sehr wohl gewusst, was und wie es auf diskrete Weise zu sagen wäre, ich habe vielmehr als menschliches Wesen (Mensch) geschrieben, als ein Kind der Ackerscholle und der Einsamkeit, verstört und mittellos, das nicht weiß, was die Wahrheit ist, in welchem Land sie wohnt, wer sie besitzt und wer sie verteilt. 

Ich suche sie, und offen gestanden suche ich nichts, ich verfüge nicht über diese Mittel, ich erzähle Geschichten, einfache Geschichten von schlichten Menschen, die das Unglück siebenhändigen Strolchen gegenübergestellt hat, die sich für den Nabel der Welt halten, nach Art derjenigen, die feist grinsend über unseren Köpfen sitzen, die sich unserer Leben und unserer Güter bemächtigt haben, und die als Zuschlag unsere Liebe und unsere Anerkennung beanspruchen. 

Ich würde ihnen gern sagen, dass mich der bürokratische und frömmelnde Polizeistaat, den sie mit ihren Aktionen unterstützen, nicht so sehr stört wie die Blockade des Denkens. Im Gefängnis sitzen, okay, aber den Kopf frei zum Vagabundieren, das ist es, was ich in meinen Büchern schreibe, das hat nichts Schockierendes oder Subversives.“

In Camus’ „Der Mensch in der Revolte“ heißt es: „Wer schreibt, trifft schon eine Wahl.“ Und das habe ich auch getan, ich habe mich fürs Schreiben entschieden. Ich habe recht damit gehabt; die Diktatoren fallen um wie die Fliegen.

Dieser Text geht auf Boualem Sansals Dankesrede im Rahmen der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2011 zurück.

Aus dem Französischen von Gerhard Meier.

Über den Autor
Foto von Boualem Sansal
Boualem Sansal
Schriftsteller

Boualem Sansalist ein frankophoner algerischer Schriftsteller. Er studierte Ingenieurwissenschaften und Wirtschaft und arbeitete lange Zeit als hoher Beamter im algerischen Industrieministerium. Internationale Bekanntheit als Schriftsteller erlangte er mit Romanen wie „Der Schwur der Barbaren“, „Das Dorf des Deutschen“ und „2084 – Das Ende der Welt“, in denen er totalitäre Strukturen, Gewalt und religiösen Fanatismus thematisiert. Wegen seiner regimekritischen Haltung wurde Sansal in jüngerer Zeit verhaftet und sitzt derzeit in Algerien in Haft.

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