Illustration: Eine Taube umschließt mit ihren Flügeln die Erde.

Angriff auf den Liberalismus

Viktor Orbán in Ungarn, Narendra Modi in Indien und Donald Trump in den Vereinigten Staaten: sie alle haben liberale Institutionen in Frage gestellt. Auch aus dem linken Lager gibt es Kritik an fehlender sozialer Gerechtigkeit am Liberalismus. Welche langfristige Gefahr geht von dem progressiven Illiberalismus aus?

Heute ist man sich weitgehend darüber einig, dass die Demokratie in vielen Teilen der Welt angegriffen wird oder sich auf dem Rückzug befindet. Nicht nur autoritäre Staaten wie China und Russland stellen sie in Frage, sondern auch Populisten, die in vielen für sicher gehaltenen Demokratien gewählt worden sind.

Die „Demokratie“, die heute angegriffen wird, ist eine Abkürzung für die liberale Demokratie, und was wirklich am meisten bedroht ist, ist die liberale Komponente dieses Wortpaares. Der demokratische Teil bezieht sich darauf, dass diejenigen, die politische Macht haben, rechenschaftspflichtig sind, durch Mechanismen wie freie und faire Mehrparteienwahlen mit allgemeinem Wahlrecht für Erwachsene. Der liberale Teil hingegen bezieht sich in erster Linie auf eine Rechtsstaatlichkeit, die die Macht der Regierung einschränkt und vorschreibt, dass selbst die mächtigsten Akteure im System nach denselben allgemeinen Regeln handeln wie die normalen Bürger.

Mit anderen Worten: Liberale Demokratien verfügen über ein verfassungsmäßiges System der gegenseitigen Kontrolle, das die Macht der gewählten Politiker begrenzt.

Der aktuelle Angriff auf den Liberalismus reicht jedoch viel weiter als die Ambitionen einer Handvoll populistischer Politiker. Sie wären nicht so erfolgreich, wenn sie nicht auf einer Welle der Unzufriedenheit mit einigen der grundlegenden Merkmale liberaler Gesellschaften reiten würden.

Die Demokratie selbst wird von autoritären Staaten wie Russland und China in Frage gestellt, die freie und faire Wahlen manipulieren oder auf sie verzichten. Die heimtückischere Bedrohung geht jedoch von Populisten innerhalb bestehender liberaler Demokratien aus, die ihre durch Wahlmandate erlangte Legitimität nutzen, um liberale Institutionen in Frage zu stellen oder zu untergraben.

Politiker wie Viktor Orbán in Ungarn, Narendra Modi in Indien und Donald Trump in den Vereinigten Staaten haben versucht, die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben, indem sie Gerichte mit politischen Anhängern besetzten. Sie haben offen gegen Gesetze verstoßen oder versucht, der Presse ihre Legitimität abzusprechen, indem sie die Mainstream-Medien als „Feinde des Volkes“ bezeichneten. Sie haben versucht, professionelle Bürokratien zu demontieren und sie in parteipolitische Instrumente zu verwandeln. Nicht zufällig stellt sich Orbán selbst als Verfechter einer „illiberalen Demokratie" dar.

Der aktuelle Angriff auf den Liberalismus reicht jedoch viel weiter als die Ambitionen einer Handvoll populistischer Politiker. Sie wären nicht so erfolgreich, wenn sie nicht auf einer Welle der Unzufriedenheit mit einigen der grundlegenden Merkmale liberaler Gesellschaften reiten würden. Um dies zu verstehen, müssen wir uns die historischen Ursprünge des Liberalismus, seine Entwicklung im Laufe der Jahrzehnte und seine Grenzen als Regierungsdoktrin ansehen.

Das Prinzip des Liberalismus

Der klassische Liberalismus lässt sich am besten als institutionelle Lösung für das Problem des Regierens über die Vielfalt hinweg verstehen. Oder anders ausgedrückt: Er ist ein System für den friedlichen Umgang mit Vielfalt in pluralistischen Gesellschaften. Er entstand in Europa im späten 17. und 18. Jahrhundert als Reaktion auf die Religionskriege, die auf die protestantische Reformation folgten; Kriege, die 150 Jahre lang andauerten und große Teile der Bevölkerung Kontinentaleuropas auslöschten.

 

Eine Bibel in braunem Leder liegt auf einem weißen Tisch.
Der Liberalismus entstand in Europa im späten 17. und 18. Jahrhundert als Reaktion auf die Religionskriege, die auf die protestantische Reformation folgten, Foto: Hucklebarry via pixabay

Zwar wurden die Religionskriege in Europa von wirtschaftlichen und sozialen Faktoren angetrieben, doch ihre Heftigkeit rührte daher, dass die kriegführenden Parteien verschiedene christliche Sekten vertraten, die der Bevölkerung ihre jeweilige Auslegung der religiösen Lehre aufzwingen wollten. Es war eine Zeit, in der Anhänger verbotener Sekten verfolgt wurden – Ketzer wurden regelmäßig gefoltert, gehängt oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt – und ihre Geistlichen gejagt.

Die Begründer des modernen Liberalismus wie Thomas Hobbes und John Locke strebten danach, die Ansprüche der Politik herunterzuschrauben, und zwar nicht, um ein gutes Leben im Sinne der Religion zu fördern, sondern um das Leben selbst zu bewahren, da sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht darüber einigen konnten, was das gute Leben sein soll. Dies war der entfernte Ursprung der Formulierung „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ in der Unabhängigkeitserklärung.

So verstanden, war der Liberalismus einfach ein pragmatisches Instrument, um Konflikte in unterschiedlichen Gesellschaften zu lösen, das die Temperatur der Politik senken sollte, indem es bestimmte Fragen vom Tisch nahm und in die Sphäre des Privatlebens verlagerte.

Das grundlegendste Prinzip des Liberalismus ist jenes der Toleranz: Man muss nicht mit seinen Mitbürgern über die wichtigsten Dinge übereinstimmen, sondern nur darin, dass jeder Einzelne selbst entscheiden darf, was diese Dinge sind, ohne dass man selbst oder der Staat sich einmischt. Die Grenzen der Toleranz sind erst dann erreicht, wenn der Grundsatz der Toleranz selbst in Frage gestellt wird oder wenn die Bürger Gewalt anwenden, um ihren Willen durchzusetzen.

So verstanden, war der Liberalismus einfach ein pragmatisches Instrument, um Konflikte in unterschiedlichen Gesellschaften zu lösen, das die Temperatur der Politik senken sollte, indem es bestimmte Fragen vom Tisch nahm und in die Sphäre des Privatlebens verlagerte. Dies ist auch heute noch eines der wichtigsten Verkaufsargumente:

Wenn sich vielfältige Gesellschaften wie Indien oder die Vereinigten Staaten von liberalen Grundsätzen entfernen und versuchen, die nationale Identität auf Herkunft, ethnische Zugehörigkeit oder Religion zu gründen, laden sie dazu ein, zu möglicherweise gewalttätigen Konflikten zurückzukehren. Die Vereinigten Staaten hatten während ihres Bürgerkriegs unter solchen Konflikten zu leiden, und Modis Indien lädt zu kommunaler Gewalt ein, indem es seine nationale Identität auf den Hinduismus ausrichtet.

Es gibt jedoch ein tieferes Verständnis des Liberalismus, das sich in Kontinentaleuropa entwickelte und in die moderne liberale Doktrin eingeflossen ist. Nach dieser Sichtweise ist der Liberalismus nicht nur ein Mechanismus, um gewaltsame Konflikte pragmatisch zu vermeiden, sondern auch ein Mittel zum Schutz der grundlegenden Menschenwürde.

Liberalismus und Menschenwürde

Die Grundlage der Menschenwürde hat sich im Laufe der Zeit verschoben. In aristokratischen Gesellschaften war sie nur ein Attribut für Krieger, die ihr Leben im Kampf riskierten. Das Christentum verallgemeinerte das Konzept der Würde auf der Grundlage der Möglichkeit menschlicher moralischer Entscheidungen: Der Mensch hatte einen höheren moralischen Status als die übrige geschaffene Natur, aber einen niedrigeren als Gott, weil er zwischen richtig und falsch wählen konnte. Im Gegensatz zu Schönheit, Intelligenz oder Stärke war diese Eigenschaft universell und machte die Menschen vor Gott gleich.

Der Liberalismus erkennt die gleiche Würde jedes Menschen an, indem er ihm Rechte zugesteht, die seine individuelle Autonomie schützen.

In der Zeit der Aufklärung wurde die Fähigkeit zur Wahl oder individuellen Autonomie von Denkern wie Rousseau („Perfektibilität“) und Kant (ein „guter Wille“) in eine säkulare Form gebracht und zur Grundlage für das moderne Verständnis des Grundrechts auf Würde, das in viele Verfassungen des 20. Jahrhunderts eingeschrieben ist.

Der Liberalismus erkennt die gleiche Würde jedes Menschen an, indem er ihm Rechte zugesteht, die seine individuelle Autonomie schützen: das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Recht, sich zu versammeln, die Religionsfreiheit und schließlich das Recht, sich an der Selbstverwaltung zu beteiligen.

Der Liberalismus schützt also die Vielfalt, indem er absichtlich keine höheren Ziele des menschlichen Lebens festlegt. Der Liberalismus gewährt außerdem allen Menschen, die als vollwertige Menschen betrachtet werden aufgrund ihrer individuellen Entscheidungsfähigkeit, die gleichen Rechte.

Der Liberalismus tendiert also zu einer Art Universalismus: Liberale kümmern sich nicht nur um ihre eigenen Rechte, sondern auch um die Rechte anderer, die sich außerhalb ihrer jeweiligen Gemeinschaft befinden. So trug die Französische Revolution die Menschenrechte durch ganz Europa.

Von Anfang an drehten sich die wichtigsten Auseinandersetzungen unter den Liberalen nicht um dieses Prinzip, sondern darum, wer als rechtstragende Individuen gelten sollte, wobei verschiedene Gruppen – ethnische Minderheiten, Frauen, Ausländer, Besitzlose, Kinder, Geisteskranke und Kriminelle – von diesem magischen Kreis ausgeschlossen wurden.

Auf einer Säule stehen die Begriffe "liberté égalité fraternité".
Die Französische Revolution trug die Menschenrechte durch ganz Europa, Foto: falco via pixabay

Liberalismus und Moderne

Ein letztes Merkmal des historischen Liberalismus war seine Verbindung mit dem Recht auf Eigentum. Eigentumsrechte und die Durchsetzung von Verträgen durch rechtliche Institutionen wurden zur Grundlage für das Wirtschaftswachstum in Großbritannien, den Niederlanden, Deutschland, den Vereinigten Staaten und anderen Staaten, die nicht unbedingt demokratisch waren, aber Eigentumsrechte schützten. Deshalb wird der Liberalismus stark mit Wirtschaftswachstum und Modernisierung in Verbindung gebracht.

Eine unabhängige Justiz schützte die Rechte und konnte sich zur Durchsetzung auf die Macht des Staates berufen. Richtig verstanden, bezog sich Rechtsstaatlichkeit sowohl auf die Anwendung alltäglicher Regeln, die die Interaktionen zwischen Individuen regelten, als auch auf die Gestaltung politischer Institutionen, die die politische Macht durch Verfassungen formell zuwiesen. Die Klasse, die sich dem Liberalismus historisch am stärksten verpflichtet fühlte, war die Klasse der Grundbesitzer, nicht nur die Agrargrundbesitzer, sondern auch die Myriaden von Geschäftsinhabern und Unternehmern aus der Mittelschicht, die Karl Marx als Bourgeoisie bezeichnen würde.

Liberalismus und Demokratie

Der Liberalismus ist mit der Demokratie verwandt, da er die Autonomie des Einzelnen schützt, was letztlich das Recht auf politische Entscheidungen und das Wahlrecht beinhaltet. Aber es ist nicht dasselbe wie die Demokratie.

Der Liberalismus ist mit der Demokratie verbunden, ist aber nicht dasselbe wie sie. Es gibt Regime, die liberal, aber nicht demokratisch sind: Man denke nur an Deutschland im 19. Jahrhundert und an Singapur und Hongkong im späten 20. Jahrhundert. Es kann auch Demokratien geben, die nicht liberal sind, wie die, die Viktor Orbán und Narendra Modi zu schaffen versuchen, und einige Gruppen gegenüber anderen privilegieren.

Der Liberalismus ist mit der Demokratie verwandt, da er die Autonomie des Einzelnen schützt, was letztlich das Recht auf politische Entscheidungen und das Wahlrecht beinhaltet. Aber es ist nicht dasselbe wie die Demokratie.

Seit der Französischen Revolution gab es radikale Befürworter demokratischer Gleichheit, die bereit waren, die liberale Rechtsstaatlichkeit ganz aufzugeben und die Macht einem diktatorischen Staat zu übertragen, der die Ergebnisse ausgleichen würde. Unter dem Banner des Marxismus-Leninismus wurde dies zu einer der großen Bruchlinien des 20. Jahrhunderts. Selbst in erklärtermaßen liberalen Staaten, wie in vielen in Europa und in Nordamerika Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, gab es mächtige Gewerkschaftsbewegungen und sozialdemokratische Parteien, die mehr an wirtschaftlicher Umverteilung interessiert waren als daran, Eigentumsrechte strikt zu schützen.

Liberalismus und Nationalismus

Der Liberalismus erlebte neben dem Kommunismus auch den Aufstieg eines weiteren Konkurrenten: des Nationalismus. Die Nationalisten lehnten den Universalismus des Liberalismus ab und versuchten, nur der von ihnen bevorzugten Gruppe, definiert durch Kultur, Sprache oder ethnische Zugehörigkeit, Rechte zu gewähren.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts organisierte sich Europa um von einer dynastischen zu einer nationalen Basis, mit der Vereinigung Italiens und Deutschlands und mit wachsender nationalistischer Agitation innerhalb des multiethnischen Osmanischen und Österreich-Ungarischen Reiches. Dies führte 1914 zum Ersten Weltkrieg, der Millionen von Menschen das Leben kostete und den Grundstein legte für einen zweiten globalen Flächenbrand im Jahr 1939. Die Niederlage Deutschlands, Italiens und Japans im Jahr 1945 ebnete den Weg dafür, den Liberalismus als herrschende Ideologie in der demokratischen Welt wiederherzustellen.

Die Europäer sahen ein, dass es unsinnig war, Politik um ein exklusives und aggressives Verständnis von Nation herum zu organisieren, und gründeten die Europäische Gemeinschaft, später dann die Europäische Union, um die alten Nationalstaaten einer kooperativen transnationalen Struktur unterzuordnen. Die Vereinigten Staaten spielten ihrerseits eine zentrale Rolle, als eine neue Reihe internationaler Institutionen geschaffen wurde, darunter die Vereinten Nationen (und die mit ihnen verbundenen Bretton-Woods-Organisationen wie die Weltbank und der IWF), das Handelsabkommen GATT und die Welthandelsorganisation sowie kooperative regionale Unternehmungen wie die NATO und die NAFTA.

Zerstörtes Gebäude aus der Sovietunion mit den Zahlen 1917 und Sichel und Hammer.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 versuchten viele ehemals kommunistische Länder, sich in bestehende internationale Institutionen wie die EU und die NATO einzugliedern, Foto: Tengyart via unsplash

Am stärksten bedroht wurde diese Ordnung von der ehemaligen Sowjetunion und den mit ihr verbündeten kommunistischen Parteien in Osteuropa und den Entwicklungsländern. Doch die ehemalige Sowjetunion brach 1991 zusammen, ebenso wie die vermeintliche Legitimität des Marxismus-Leninismus, und viele ehemals kommunistische Länder versuchten, sich in bestehende internationale Institutionen wie die EU und die NATO einzugliedern. Diese Welt nach dem Ende des Kalten Krieges wurde unter dem Begriff „liberale internationale Ordnung“ bekannt.

Zwischen 1950 und den 1970er Jahren war jedoch die Blütezeit der liberalen Demokratie in den Industrieländern. Die liberale Rechtsstaatlichkeit förderte die Demokratie, indem sie die einfachen Menschen vor Missbrauch schützte: Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten war zum Beispiel entscheidend für die Aufhebung der Rassentrennung durch Entscheidungen wie Brown v. Board of Education, fünf von 1952 bis 1954 vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten verhandelten Fällen zum Thema der Rassentrennung an öffentlichen Schulen.

Und die Demokratie schützte die Rechtsstaatlichkeit: Als Richard Nixon illegale Abhörmaßnahmen ergriff und die CIA einsetzte, war es ein demokratisch gewählter Kongress, der dazu beitrug, ihn aus dem Amt zu jagen. Die liberale Rechtsstaatlichkeit schuf die Grundlage für das starke Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieses ermöglichte es demokratisch gewählten Gesetzgebern, umverteilende Wohlfahrtsstaaten zu schaffen. Die Ungleichheit war in dieser Zeit erträglich, weil die meisten Menschen sehen konnten, dass sich ihre materiellen Bedingungen verbesserten.

Kurz gesagt: In dieser Zeit koexistierten in der gesamten entwickelten Welt weitgehend einträglich Liberalismus und Demokratie.

Der Liberalismus ist eine im Großen und Ganzen erfolgreiche Ideologie, die einen großen Anteil an Frieden und Wohlstand in der modernen Welt hat. Aber er weist auch eine Reihe von Mängeln auf, von denen einige durch äußere Umstände ausgelöst wurden, während andere der Doktrin immanent sind. Der erste betrifft die Wirtschaft, der zweite die Kultur.

Liberalismus und die Wirtschaft

Die wirtschaftlichen Defizite haben mit der Tendenz des Wirtschaftsliberalismus zu tun, sich zu dem zu entwickeln, was als „Neoliberalismus“ bezeichnet wird. Als Neoliberalismus bezeichnet man heute abwertend eine Form des wirtschaftlichen Denkens, die oft mit der Universität von Chicago oder der österreichischen Schule und Ökonomen wie Friedrich Hayek, Milton Friedman, George Stigler und Gary Becker in Verbindung gebracht wird.

Sie verunglimpften die Rolle des Staates in der Wirtschaft und betonten die freien Märkte als Wachstumsmotor und effiziente Zuteiler von Ressourcen. Viele der von dieser Schule empfohlenen Analysen und Maßnahmen waren tatsächlich hilfreich und überfällig: Die Volkswirtschaften waren überreguliert, die staatlichen Unternehmen ineffizient und die Regierungen verantwortlich für die gleichzeitige hohe Inflation und das geringe Wachstum in den 1970er Jahren.

Doch die gültigen Erkenntnisse über die Effizienz der Märkte entwickelten sich zu einer Art Religion, in der staatliche Eingriffe nicht aufgrund empirischer Beobachtungen abgelehnt wurden, sondern aus Prinzip. Die Deregulierung brachte niedrigere Preise für Flugtickets und Transportkosten für Lkw mit sich, legte aber auch den Grundstein für die große Finanzkrise von 2008, als sie auf den Finanzsektor angewendet wurde. Die Privatisierung wurde sogar bei natürlichen Monopolen wie der kommunalen Wasserversorgung oder den Telekommunikationssystemen vorangetrieben, was zu Travestien wie der Privatisierung der mexikanischen TelMex führte, wo ein öffentliches in ein privates Monopol umgewandelt wurde.

Die vielleicht wichtigste Erkenntnis der Handelstheorie, dass freier Handel zu höherem Wohlstand für alle Beteiligten führt, vernachlässigte die weitere Erkenntnis, dass dies nur in der Gesamtheit gilt und dass viele Einzelpersonen durch die Handelsliberalisierung geschädigt werden. Ab den 1980er Jahren wurden sowohl globale als auch regionale Freihandelsabkommen ausgehandelt, die Arbeitsplätze und Investitionen von den reichen Demokratien in die Entwicklungsländer verlagerten und innerhalb der Länder die Ungleichheiten verstärkte.

In der Zwischenzeit ließen viele Länder ihre öffentlichen Sektoren im Hinblick auf Ressourcen und Aufmerksamkeit verarmen. Dies führte zu Mängeln in vielen öffentlichen Dienstleistungen von Bildung über Gesundheit bis hin zur Sicherheit. Das Ergebnis war die Welt der 2010er Jahre, in der zwar die Gesamteinkommen höher waren als je zuvor, in der aber auch die Ungleichheit innerhalb der Länder drastisch zugenommen hatte. In vielen Ländern der Welt entstand eine kleine Klasse von Oligarchen, Multimilliardären, die ihre wirtschaftlichen Ressourcen durch Lobbyisten und den Kauf von Medien in politische Macht umwandeln konnten. Aufgrund der Globalisierung konnten sie ihr Geld problemlos in sichere Länder verschieben, wodurch den Staaten Steuereinnahmen entgingen und eine Regulierung sehr erschwert wurde.

Die vielleicht wichtigste Erkenntnis der Handelstheorie, dass freier Handel zu höherem Wohlstand für alle Beteiligten führt, vernachlässigte die weitere Erkenntnis, dass dies nur in der Gesamtheit gilt und dass viele Einzelpersonen durch die Handelsliberalisierung geschädigt werden.

Die Globalisierung brachte auch mit sich, dass Regeln für die Migration liberalisiert wurden. Die Zahl der im Ausland geborenen Menschen begann in vielen westlichen Ländern zu steigen, begünstigt durch Krisen wie den syrischen Bürgerkrieg, der mehr als eine Million Flüchtlinge nach Europa brachte. All dies ebnete den Weg für die populistische Reaktion, die 2016 mit dem Brexit-Votum in Großbritannien und mit der Wahl von Donald Trump in den Vereinigten Staaten klar sichtbar wurde.

Liberalismus und Gesellschaft

Die zweite Unzufriedenheit mit dem Liberalismus, wie er sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt hat, wurzelt in seinen Prämissen selbst. Der Liberalismus hat den Horizont der Politik bewusst herabgesetzt: Ein liberaler Staat wird Ihnen nicht vorschreiben, wie Sie Ihr Leben zu führen haben oder was ein gutes Leben überhaupt ausmacht; wie Sie nach Glück streben, bleibt Ihnen überlassen.

Dadurch entsteht im Kern liberaler Gesellschaften ein Vakuum, das oft durch Konsum, Popkultur oder andere zufällige Aktivitäten gefüllt wird, die nicht unbedingt zum menschlichen Wohlbefinden führen. Dies ist die Kritik einer Gruppe von (meist) katholischen Intellektuellen, darunter Patrick Deneen, Sohrab Ahmari, Adrian Vermeule und andere, die der Meinung sind, der Liberalismus biete einen „dünnen Brei“ für jeden mit tieferen moralischen Verpflichtungen.

Dies bringt uns zu einer tieferen Schicht der Unzufriedenheit. Die liberale Theorie basiert, sowohl in ihrer wirtschaftlichen als auch in ihrer politischen Form, auf dem Individuum und seinen Rechten, und das politische System schützt seine Fähigkeit, diese Entscheidungen eigenständig zu treffen. In der neoklassischen Wirtschaftstheorie entsteht soziale Zusammenarbeit nur dann, wenn rationale Individuen entscheiden, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, mit anderen Individuen zusammenzuarbeiten.

Foto eines Stickers an einer Säule auf dem steht: "Do you want a future of decency, equality and real social justice".
Die liberale Theorie basiert, sowohl in ihrer wirtschaftlichen als auch in ihrer politischen Form, auf dem Individuum und seinen Rechten, Foto: Jon Tyson via unsplash

Unter den konservativen Intellektuellen ist Patrick Deneen am weitesten gegangen, indem er argumentierte, dieser gesamte Ansatz sei zutiefst fehlerhaft, eben, weil er auf dieser individualistischen Prämisse beruht und individuelle Autonomie über alle anderen Güter stellt. Das gesamte amerikanische Projekt, das auf den individualistischen Grundsätzen von Locke beruht, ist seiner Meinung nach daher verfehlt.

Der Mensch ist für ihn nicht in erster Linie ein autonomes Individuum, sondern ein zutiefst soziales Wesen, das durch seine Verpflichtungen und Bindungen an eine Reihe sozialer Strukturen definiert ist, von der Familie über Verwandtschaftsgruppen bis hin zu Nationen.

Der Erfolg des Menschen über die Jahrtausende hinweg, der es unserer Spezies ermöglicht hat, ihren natürlichen Lebensraum vollständig zu beherrschen, hat mit dieser Fähigkeit zu tun, Normen zu befolgen, die zu sozialer Zusammenarbeit führen.

Dieses soziale Verständnis der menschlichen Natur war eine Binsenweisheit, welche die meisten Denker vor der westlichen Aufklärung als selbstverständlich ansahen. Sie wird auch von zahlreichen neueren Forschungsergebnissen in den Biowissenschaften gestützt, die zeigen, dass der Mensch von Natur aus ein soziales Lebewesen ist:

Viele unserer hervorstechendsten Fähigkeiten sind solche, die uns dazu bringen, in Gruppen unterschiedlicher Größe und Art miteinander zu kooperieren. Diese Zusammenarbeit beruht nicht unbedingt auf rationalem Kalkül, sondern wird durch emotionale Fähigkeiten wie Stolz, Schuld, Scham und Wut unterstützt, die soziale Bindungen stärken. Der Erfolg des Menschen über die Jahrtausende hinweg, der es unserer Spezies ermöglicht hat, ihren natürlichen Lebensraum vollständig zu beherrschen, hat mit dieser Fähigkeit zu tun, Normen zu befolgen, die zu sozialer Zusammenarbeit führen.

Im Gegensatz dazu ist der in der liberalen wirtschaftlichen und politischen Theorie gefeierte Individualismus eine kontingente Entwicklung, die in den westlichen Gesellschaften im Laufe der Jahrhunderte entstanden ist. Seine Geschichte ist lang und kompliziert, aber er entspringt den von der katholischen Kirche im frühen Mittelalter aufgestellten Erbschaftsregeln, die die ausgedehnten Verwandtschaftsnetzwerke untergruben, die die germanischen Stammesgesellschaften geprägt hatten.

Der Individualismus wurde darüber hinaus bestätigt, da er den Marktkapitalismus funktional förderte: Märkte funktionierten effizienter, wenn der Einzelne nicht durch Verpflichtungen gegenüber Verwandten und anderen sozialen Netzwerken eingeschränkt war. Doch diese Art von Individualismus hat schon immer den sozialen Neigungen der Menschen widersprochen. Auch für Menschen in bestimmten nicht-westlichen Gesellschaften wie Indien oder der arabischen Welt, in denen Verwandtschafts-, Kasten- oder ethnische Bindungen immer noch zum Leben gehören, ist er nicht selbstverständlich.

Die Konsequenz aus diesen Beobachtungen für die heutigen liberalen Gesellschaften ist einfach zu ziehen. Die Mitglieder solcher Gesellschaften wollen auf vielfältige Weise miteinander verbunden sein: als Bürger einer Nation, als Mitglieder einer ethnischen Gruppe, als Bewohner einer Region oder als Anhänger einer religiösen Überzeugung. Die Zugehörigkeit zu solchen Gruppen verleiht ihrem Leben Sinn und Struktur, wie es die bloße Staatsbürgerschaft in einer liberalen Demokratie nicht vermag.

Der Individualismus wurde darüber hinaus bestätigt, da er den Marktkapitalismus funktional förderte: Märkte funktionierten effizienter, wenn der Einzelne nicht durch Verpflichtungen gegenüber Verwandten und anderen sozialen Netzwerken eingeschränkt war. Doch diese Art von Individualismus hat schon immer den sozialen Neigungen der Menschen widersprochen.

Kritiker des Liberalismus

Viele der rechten Kritiker des Liberalismus sind der Meinung, dieser habe die Nation und die traditionelle nationale Identität unterbewertet: So hat Viktor Orbán behauptet, die ungarische nationale Identität beruhe auf der ungarischen Volkszugehörigkeit und auf traditionellen ungarischen Werten und kulturellen Praktiken. Neue Nationalisten wie Yoram Hazony feiern die Nation und nationale Kultur als den Ruf nach Gemeinschaft. Sie beklagen, dass der Liberalismus religiöses Engagement verringert und sehnen sich nach einem stärkeren Gemeinschaftsgefühl und nach gemeinsamen Werten, untermauert durch Tugenden im Dienst dieser Gemeinschaft.

Die Klage der Linken ist inhaltlich anders, strukturell aber ähnlich wie die der Rechten: Die liberale Gesellschaft tut nicht genug dafür, um den tief verankerten Rassismus, Sexismus und andere Formen der Diskriminierung zu beseitigen, also muss die Politik über den Liberalismus hinausgehen.

Auf der Seite der Linken gibt es parallel gelagerte Unzufriedenheiten. Die juristische Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet nicht, dass Menschen in der Praxis gleich behandelt werden. Rassismus, Sexismus und homophobe Vorurteile bestehen auch in liberalen Gesellschaften fort, und diese Ungerechtigkeiten sind zu Identitäten geworden, um die herum sich Menschen mobilisieren können. In der westlichen Welt sind seit den 1960er Jahren eine Reihe sozialer Bewegungen entstanden, angefangen von der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten bis hin zu Bewegungen, die sich für die Rechte von Frauen, indigenen Völkern, Behinderten, der LGBT-Gemeinschaft und ähnlichen Gruppen einsetzen. Je mehr Fortschritt bei der Beseitigung sozialer Ungerechtigkeiten gemacht wurden, desto unerträglicher erscheinen die verbleibenden Ungerechtigkeiten und damit die moralische Notwendigkeit, sich dafür einzusetzen, dass sie beseitigt werden.

Die Klage der Linken ist inhaltlich anders, strukturell aber ähnlich wie die der Rechten: Die liberale Gesellschaft tut nicht genug dafür, um den tief verankerten Rassismus, Sexismus und andere Formen der Diskriminierung zu beseitigen, also muss die Politik über den Liberalismus hinausgehen. Und wie die Rechten wollen auch die Progressiven eine tiefere Bindung und persönliche Befriedigung, indem sie sich mit Menschen zusammentun – in diesem Fall mit Menschen, die unter ähnlichen Demütigungen gelitten haben.

Dieser Bindungsinstinkt und der geringe Grad an gemeinsamem moralischem Leben in liberalen Gesellschaften hat die globale Politik sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite in Richtung einer Identitätspolitik verschoben und weg von der liberalen Weltordnung des späten 20. Jahrhunderts.

Ein Sticker klebt auf einer bunten Wand. Auf dem steht "Acknowledge your privilege".
Mit der Zeit wird das Leben in einer liberalen Gesellschaft zur Selbstverständlichkeit, Foto: Jon Tyson via unsplash

Liberale Werte wie Toleranz und individuelle Freiheit werden am meisten geschätzt, wenn sie verweigert werden: Menschen, die in brutalen Diktaturen leben, wollen einfach die Freiheit haben, zu sprechen, sich zu versammeln und religiös zu verehren, wie sie wollen. Doch mit der Zeit wird das Leben in einer liberalen Gesellschaft zur Selbstverständlichkeit, und der Sinn für Gemeinschaft scheint abzunehmen. So drehen sich in den Vereinigten Staaten die Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken zunehmend um Identitätsfragen, insbesondere um Fragen der Abstammungsidentität, und weniger um wirtschaftliche Ideologie und Fragen danach, was die angemessene Rolle des Staates in der Wirtschaft sein könnte.

Liberalismus: Eine "obsolete" Doktrin?

Mit einem weiteren wichtigen Thema setzt sich der Liberalismus nicht angemessen auseinander, nämlich mit den Grenzen der Staatsbürgerschaft und der Rechte. Die Prämissen der liberalen Doktrin tendieren zum Universalismus: Die Liberalen sorgen sich um die Menschenrechte und nicht nur um die Rechte der Engländer, der weißen Amerikaner oder einer anderen begrenzten Gruppe. Rechte werden jedoch von Staaten geschützt und durchgesetzt, die nur begrenzt territorial zuständig sind, und die Frage, wer als Bürger mit Wahlrecht gilt, ist äußerst umstritten.

Auch wenn der Liberalimus heute von vielen Seiten angegriffen wird, ist er in Wirklichkeit notwendiger denn je. Er ist notwendiger denn je, weil er im Grunde ein Weg ist, um über die Vielfalt zu regieren, und die Welt ist vielfältiger als je zuvor.

Einige Befürworter der Rechte von Migranten fordern ein universelles Menschenrecht auf Migration, doch dies ist in praktisch jeder modernen liberalen Demokratie ein politischer Fehlschlag. Aktuell wird die Frage der Grenzen politischer Gemeinschaften entschieden durch eine Kombination aus historischen Präzedenzfällen und politischen Auseinandersetzungen, anstatt auf einem klaren liberalen Prinzip zu beruhen.

Wladimir Putin erklärte gegenüber der Financial Times, der Liberalismus sei eine „obsolete“ Doktrin geworden. Auch wenn der Liberalimus heute von vielen Seiten angegriffen wird, ist er in Wirklichkeit notwendiger denn je. Er ist notwendiger denn je, weil er im Grunde ein Weg ist, um über die Vielfalt zu regieren, und die Welt ist vielfältiger als je zuvor. Eine vom Liberalismus losgelöste Demokratie wird die Vielfalt nicht schützen, denn Mehrheiten werden ihre Macht nutzen, um Minderheiten zu unterdrücken.

Der Liberalismus entstand Mitte des 17. Jahrhunderts als Mittel zur Lösung religiöser Konflikte, und er wurde nach 1945 wiedergeboren, um Konflikte zwischen Nationalismen zu lösen. Jeder illiberale Versuch, eine gesellschaftliche Ordnung auf der Grundlage enger, durch Abstammung, ethnische Zugehörigkeit oder Religion definierter Bande aufzubauen, schließt wichtige Mitglieder der Gemeinschaft aus und führt langfristig zu Konflikten.

Russland selbst behält liberale Merkmale bei: Die russische Staatsbürgerschaft und Nationalität werden weder durch die russische Ethnie noch durch die orthodoxe Religion definiert; die Millionen muslimischer Einwohner der Russischen Föderation genießen die gleichen juristischen Rechte. In Situationen, in denen de facto Vielfalt herrscht, ist der Versuch, einer ganzen Bevölkerung eine einzige Lebensweise aufzuzwingen, eine Formel für Diktatur.

Die Entwicklung des Liberalismus zum Neoliberalismus nach den 1980er Jahren hat den politischen Spielraum für die politischen Führer der Mitte stark eingeschränkt und wachsende Ungleichheiten ermöglicht, die den Populismus der Rechten und der Linken geschürt haben.

Die einzige andere Möglichkeit, eine vielfältige Gesellschaft zu organisieren, sind formale Vereinbarungen, Macht zwischen verschiedenen Identitätsgruppen aufzuteilen, die nur ein Nicken in Richtung einer gemeinsamen Nationalität erlauben. Auf diese Weise werden Libanon, Irak, Bosnien und andere Länder im Nahen Osten und auf dem Balkan regiert.

Diese Art von Konkordanzdemokratie führt zu einer sehr schlechten Regierungsführung und langfristiger Instabilität und funktioniert schlecht in Gesellschaften, in denen Identitätsgruppen nicht geografisch festgelegt sind. Keine moderne liberale Demokratie sollte diesen Weg beschreiten. Davon abgesehen ist die Frage, welche Art von Wirtschafts- und Sozialpolitik liberale Gesellschaften verfolgen sollten, heute völlig offen.

Die Entwicklung des Liberalismus zum Neoliberalismus nach den 1980er Jahren hat den politischen Spielraum für die politischen Führer der Mitte stark eingeschränkt und wachsende Ungleichheiten ermöglicht, die den Populismus der Rechten und der Linken geschürt haben.

Der klassische Liberalismus ist durchaus mit einem starken Staat vereinbar, der sich darum bemüht, die von der Globalisierung zurückgelassenen Bevölkerungsgruppen zu schützen, auch wenn er grundlegende Eigentumsrechte und eine Marktwirtschaft schützt. Liberalismus ist notwendigerweise mit Demokratie verbunden, und liberale Wirtschaftspolitik muss durch Überlegungen zur demokratischen Gleichheit und zur Notwendigkeit politischer Stabilität abgemildert werden.

Ich vermute, dass die meisten religiösen Konservativen, die heute dem Liberalismus in den Vereinigten Staaten und anderen Industrieländern kritisch gegenüberstehen, sich nicht einbilden, sie könnten die Uhr zurückdrehen in eine Zeit, in der ihre gesellschaftlichen Ansichten Mainstream waren. Vielmehr beklagen sie sich darüber, dass heutige Liberale bereit sind, andere Ansichten als die der religiösen Konservativen zu tolerieren, vom radikalen Islam bis zum Satanismus, und dass sie sich in ihrer eigenen Freiheit eingeschränkt fühlen.

Progressiver Liberalismus

Dieser Vorwurf ist ernst zu nehmen: Viele Progressive der Linken haben sich bereit gezeigt, liberale Werte aufzugeben, um Ziele der sozialen Gerechtigkeit zu verfolgen. In den letzten drei Jahrzehnten gab es einen anhaltenden intellektuellen Angriff auf liberale Prinzipien, der von akademischen Richtungen wie Gender Studies, kritischer Rassentheorie, postkolonialen Studien und Queer-Theorie ausging, die die dem modernen Liberalismus zugrunde liegenden universalistischen Prämissen bestreiten.

Die Herausforderung besteht nicht einfach in der Intoleranz gegenüber anderen Ansichten oder der „Abschaffung der Kultur“ im akademischen oder künstlerischen Bereich. Vielmehr geht es darum, die grundlegenden Prinzipien in Frage zu stellen, dass alle Menschen in einem fundamentalen Sinne gleich geboren wurden oder dass eine liberale Gesellschaft danach streben sollte, farbenblind zu sein.

In den letzten drei Jahrzehnten gab es einen anhaltenden intellektuellen Angriff auf liberale Prinzipien, der von akademischen Richtungen wie Gender Studies, kritischer Rassentheorie, postkolonialen Studien und Queer-Theorie ausging, die die dem modernen Liberalismus zugrunde liegenden universalistischen Prämissen bestreiten.

Diese unterschiedlichen Theorien gehen davon aus, dass sich die gelebten Erfahrungen spezifischer und immer enger gefasster Identitätsgruppen nicht miteinander vereinbaren lassen und dass das, was sie trennt, stärker ist als das, was sie als Bürger eint. Für einige, die in der Tradition von Michel Foucault stehen, sind grundlegende Erkenntnisansätze der liberalen Moderne wie die wissenschaftliche Methode oder die evidenzbasierte Forschung lediglich Konstrukte, die die versteckte Macht ethnischer und wirtschaftlicher Eliten untermauern sollen.

Die Frage ist hier also nicht, ob es einen progressiven Illiberalismus gibt, sondern vielmehr, wie groß die langfristige Gefahr ist, die von ihm ausgeht. In Ländern von Indien über Ungarn bis hin zu den Vereinigten Staaten haben nationalistische Konservative tatsächlich die Macht übernommen und versuchen, die Macht des Staates zu nutzen, um liberale Institutionen zu demontieren und der gesamten Gesellschaft ihre Ansichten aufzuzwingen. Diese Gefahr ist klar und gegenwärtig.

Den progressiven Antiliberalen ist es dagegen in keinem entwickelten Land gelungen, die politische Macht zu übernehmen. Religiöse Konservative sind immer noch frei, ihre Religion so zu praktizieren, wie sie es für richtig halten, und sie sind in den Vereinigten Staaten sogar als mächtiger politischer Block organisiert, der Wahlen beeinflussen kann.

Eine Ampel die gelb anzeigt.
Das Problem des Liberalismus besteht darin, dass er nur langsam durch Überlegungen und Kompromisse funktioniert, Foto: Giulio del Prete via unsplash

Die Progressiven üben ihre Macht auf andere und nuanciertere Weise aus, vor allem durch ihre Dominanz in kulturellen Institutionen wie den Mainstream Medien, der Kunst und großen Teilen der Wissenschaft. Die Macht des Staates wurde eingesetzt, um ihre Agenda zu unterstützen, z. B. bei der gerichtlichen Niederschlagung konservativer Einschränkungen der Abtreibung und der Homo-Ehe sowie bei der Gestaltung der Lehrpläne an öffentlichen Schulen. Es bleibt eine offene Frage, ob die kulturelle Dominanz von heute letztlich zu einer politischen Dominanz in der Zukunft führen wird.

Das Problem des Liberalismus besteht darin, dass er nur langsam durch Überlegungen und Kompromisse funktioniert und seine Ziele im Hinblick auf die Gemeinschaft oder die soziale Gerechtigkeit nie so vollständig erreicht, wie ihre Verfechter es gerne sehen würden.

Die aktuelle Krise des Liberalismus ist nicht neu; seit seiner Erfindung im 17. Jahrhundert wurde der Liberalismus immer wieder von Kommunitaristen auf der rechten und progressiven Egalitaristen auf der linken Seite in Frage gestellt.

Ein richtig verstandener Liberalismus ist durchaus mit kommunitären Impulsen zu vereinbaren und bildete die Grundlage für das Gedeihen tiefgehender und vielfältiger Formen der Zivilgesellschaft. Er ist auch mit den Zielen der sozialen Gerechtigkeit der Progressiven vereinbar:

Eine seiner größten Errungenschaften war der moderne umverteilende Wohlfahrtsstaat im späten 20 Jahrhundert. Das Problem des Liberalismus besteht darin, dass er nur langsam durch Überlegungen und Kompromisse funktioniert und seine Ziele im Hinblick auf die Gemeinschaft oder die soziale Gerechtigkeit nie so vollständig erreicht, wie ihre Verfechter es gerne sehen würden. Jedoch ist schwer zu erkennen, wie die Abkehr von liberalen Werten langfristig zu anderem führen soll als dazu, dass sich soziale Konflikte verschärfen und man zu Gewalt als Mittel zurückkehrt, um Differenzen beizulegen.

Der Text basiert auf Francis Fukuyamas neuem Buch "Der Liberalismus und seine Feinde", das am 4. Oktober bei Hoffmann und Campe in Hamburg erscheint. Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
 

Über den Autor
Portrait von Francis Fukuyama
Francis Fukuyama
Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stanford, Kalifornien

Francis Fukuyama ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stanford und leitet dort das Center on Democracy, Development and the Rule of Law. In seinem Essay „Das Ende der Geschichte?“ bezeichnete er 1989 die liberale Demokratie als Höhepunkt der gesellschaftlichen Evolution. Im Oktober 2022 erschien sein neues Buch „Der Liberalismus und seine Feinde“, das sich mit der Bedrohung des Liberalismus befasst. Als einer der wichtigsten politischen Theoretiker der USA ist Fukuyama Vorsitzender des Redaktionsausschusses von American Purpose.
Bücher und Monografien

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.