Illustration: Ein Tempel mit Säulen aus Zeitungen bricht zusammen.

Bastion der Demokratie

Emigrant:innen aus Hitlerdeutschland leisteten viel für den Aufbau der modernen Türkei. Heute flüchten etliche Vertreter der türkischen Intelligenz nach Deutschland, darunter Can Dündar. Ihn stört: In einigen Hauptstädten Europas sehe man ein stabiles Regime in der Türkei lieber als demokratische Instabilität.

Am 17. September 1933 schrieb Albert Einstein einen Brief an Mustafa Kemal Atatürk. Er bat „Seine Exzellenz“ zu gestatten, dass 40 Professoren und Doktoren aus Deutschland ihre wissenschaftliche und medizinische Tätigkeit in der Türkei fortsetzen durften. Bei den Wahlen ein halbes Jahr zuvor hatten die Nationalsozialisten beinahe 45 Prozent der Stimmen erhalten, anschließend oppositionelle Abgeordnete verhaften lassen und begonnen, das Land mit Dekreten zu regieren.

Eines ihrer ersten Ziele waren die Universitäten. Wissenschaftler, die gegen die Nazis waren, wurden von den Hochschulen entfernt. Die meisten suchten außerhalb Deutschlands Zuflucht. Die Türen in Europa waren verschlossen, Amerika war weit. Es wurde ein Verband gegründet, um ihnen zu helfen.

In seinem Brief an Atatürk erklärte der berühmte Physiker, die 40 Wissenschaftler seien vom Verband aus einer Vielzahl von Bewerbern ausgewählt worden und seien bereit, „ein Jahr ohne jede Vergütung“ in der Türkei tätig zu werden. Er erinnerte daran, dass es sich hierbei um einen Akt großer Humanität handeln würde, von dem die Türkei außerdem profitieren könnte.

 

Konversion des Osmanen-Reiches

Was ja auch stimmte. Die Republik, die gerade seit zehn Jahren bestand, brauchte Menschen, die fähig waren, die von den Osmanen übernommenen Institutionen zu modernisieren. Die Regierung hatte Anfang 1932 Albert Malche von der Universität Genf eingeladen, einen Bericht für die angestrebte Universitätsreform zu erstellen. Aufgrund dessen waren bei der Gründung der Universität Istanbul 42 deutsche Akademiker berufen worden. 1933 war diese Zahl bereits auf 300 angestiegen.

Eduard Hirsch etwa verfasste das 800-seitige türkische Rechtswörterbuch und bereitete zugleich die Gründung der Freien Universität Berlin vor. Der SPD-Abgeordnete Ernst Reuter war als Berater im Finanzministerium tätig und unterrichtete Stadtplanung an der Politischen Fakultät der Universität Ankara. Der Komponist Neuer Musik Paul Hindemith gründete das staatliche Konservatorium in Ankara.

Der Intendant der Berliner Deutschen Oper, Carl Ebert, kam aus Argentinien, wohin er sich zunächst geflüchtet hatte, nach Ankara und legte den Grundstein für das türkische Staatstheater und die Staatliche Oper. Ernst Praetorius, Generalmusikdirektor des Deutschen Nationaltheaters Weimar, dirigierte nun das Philharmonische Orchester des türkischen Staatspräsidenten. Der Musikpädagoge Eduard Zuckmayer führte modernen Musikunterricht an türkischen Schulen ein und adaptierte deutsche Lieder für die türkische Sprache.

Die Republik, die gerade seit zehn Jahren bestand, brauchte Menschen, die fähig waren, die von den Osmanen übernommenen Institutionen zu modernisieren.

Clemens Holzmeister, Architekturprofessor an der Wiener Akademie der bildenden Künste und Präsident des Österreichischen Werkbunds, entwarf unter anderem die Stadtvilla Atatürks in Cankaya und das Parlamentsgebäude.

Der Pädiater Albert Eckstein leitete die Kinderklinik am Numune-Krankenhaus Ankara und zog gemeinsam mit 31 deutschen Ärzten durch die Dörfer Anatoliens und brachte den Kindern dort Heilung.

Diese Menschen, die vor Hitlers Repressionsregime geflüchtet waren, leisteten dank Atatürks Vision einen ungeheuren Beitrag für den Aufbau der jungen, auf westliche Werte gründenden Republik. Sie konnten, unbehelligt von der nationalsozialistischen Anschuldigung, Vaterlandsverräter zu sein, ihre Berufe weiter ausüben und zugleich gemeinsam mit anderen Exilierten darangehen, eine Zukunft für Deutschland zu entwerfen. Ihre Zahl stieg stetig weiter und erreichte schließlich etwa 1.000. Als sie nach dem Krieg in ihr Land zurückkehrten, bauten sie Deutschland neu auf.

Ernst Reuter etwa, der 1946 zurückkehrte, wurde Oberbürgermeister von West-Berlin und prägte die deutsche Geschichte in unvergesslicher Weise. Eduard Hirsch wurde Rektor der Freien Universität Berlin. Manche, wie etwa Eduard Zuckmayer, fanden dagegen in der Türkei ihre letzte Ruhestätte.

 

Bedrohte Wissenschaftler

 

Foto einer Hand, die eine brennende Rose hält.
Ich eilte atemlos von einem Ort zum anderen und rief: „Es brennt bei uns, seht ihr das denn nicht!“, Foto: Gaspar Uhas, unsplash

Als ich nach Berlin kam, dachte ich, dass ich das Schicksal dieser Menschen, derer wir voller Bewunderung und Dankbarkeit gedenken, nun umgekehrt erlebte. Das Regime, vor dem sie 80 Jahre zuvor geflüchtet waren, verdeckte nun den Himmel über der Türkei.

Eine Partei, die bei den Wahlen 45 Prozent bekommen hatte, ließ oppositionelle Abgeordnete verhaften und hatte begonnen, das Land mit Dekreten zu regieren. Eines ihrer ersten Ziele waren die Universitäten. Regierungskritische Wissenschaftler wurden von den Hochschulen entfernt.

Nun war Deutschland an der Reihe, den von diesem Regime Bedrohten die Arme zu öffnen. Und an uns war es, unbehelligt von der Anschuldigung, Landesverräter zu sein, unser Engagement fortzufuhren und den Faschismus zu besiegen…

Kaum in Berlin angekommen, machte ich mich daran, Deutschland und Europa von der Türkei zu berichten. In zwei Wochen besuchte ich neun Städte in sechs Ländern. Als jemand, der den Brand gesehen, das Feuer berührt und sich die Haut verbrannt hatte, eilte ich atemlos von einem Ort zum anderen und rief: „Es brennt bei uns, seht ihr das denn nicht!“, bemüht, alle aufzurütteln, mit denen ich redete.

Verwandlung eines laizistischen Landes

Das einzige laizistische und demokratische Land der islamischen Welt, ein frühes Mitglied des Europarats, verwandelte sich vor aller Augen in ein totalitäres Regime. Die hartnäckig ignorierte „andere Türkei“ aber kämpfte gegen den Tod.

In der Angst, Millionen Flüchtlinge, die aus dem brennenden Nahen Osten flohen, würden seine Länder stürmen, den Menschen hier die Arbeit wegnehmen und ihr Leben auf den Kopf stellen, wartete Europa ab [...].

Ich wollte, dass alle das wahrnahmen, dass sie sich für die demokratischen Kräfte in der Türkei einsetzten, sie zumindest nicht in den Schatten stellten. Die europäischen Regierungen verschlossen die Augen und wandten den Kopf ab. Ihr Schweigen bedeutete Unterstützung für die Repression. Kann ein Kontinent Angst haben?

Europa hatte Angst. In der Angst, Millionen Flüchtlinge, die aus dem brennenden Nahen Osten flohen, würden seine Länder stürmen, den Menschen hier die Arbeit wegnehmen und ihr Leben auf den Kopf stellen, wartete Europa ab, seine Pforten und Lippen fest geschlossen. Den einzigen Ausweg sah es darin, der Türkei, die großzügig ihre Tore für drei Millionen Fluchtlinge geöffnet hatte, Geld für deren Aufnahme zu geben sowie das Versprechen auf Visumsfreiheit für türkische Bürger.

Allerdings gab es noch einen weiteren Preis dafür zu bezahlen: Die Augen verschließen vor jedweder Repression des „Wächters“, mit dem man übereingekommen war, dass er die Tore der Flüchtlingslager hüten würde. Und sich aller Reaktionen enthalten, die ihn verärgern könnten. Bei der kleinsten Beschwerde drohte der Wächter: „Ich öffne die Tore, dann werdet ihr schon sehen!“

Angesichts dieser Drohung von Erdoğan schwieg Europa. Erdoğan bezog seine Stärke gegenüber Europa aus dieser demütigen Haltung. Und wir saßen auch aufgrund dieses bangen Schweigens, dieser gewissermaßen indirekten Zustimmung im Gefängnis oder im Exil.

Diese Haltung Europas enttäuschte Millionen von Menschen, die Repressalien erlitten, weil sie für europäische Werte eintraten, für Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltentrennung, Pressefreiheit, Laizismus, die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sie sahen, wie leicht der alte Kontinent um tagespolitischer Interessen willen seine Grundprinzipien preisgab.

 

Murmelnde, gesenkte Köpfe

Wenn ich meine Gesprächspartner darauf hinwies, senkten sie beschämt den Kopf und murmelten: „Aber Sie wissen doch, die Flüchtlingssache ist ungeheuer wichtig.“ Doch es ging nicht allein um die Flüchtlinge. Seit einem halben Jahrhundert ist die Türkei der treue Soldat des Westens, der die Südostgrenze der Nato bewacht.

Sie ist ein unverzichtbarer Markt für das europäische Kapital. Und ein ausgezeichneter Kunde, der jedem Waffenhändler das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt. Allein durch den massiven Anstieg der Waffenkäufe im Jahr 2016 rückte die Türkei in der Liste der Länder, die von Deutschland Rüstungsgüter kaufen, von Platz 25 auf Platz 8 vor.

 

Offensichtlich sieht man in einigen Hauptstädten und Kapitalkreisen ein stabiles repressives Regime in der Türkei lieber als demokratische Instabilität. Das bedeutet auch, dass zur Verteidigung der Werte, die als westliche gelten, gegebenenfalls auch gegen den Westen gekämpft werden muss. Genau wie Atatürk es während des nationalen Befreiungskriegs in den 1920er Jahren tat.

Glücklicherweise besteht der Westen nicht allein aus ängstlichen Regierungschefs, schwachen Führungen und Geschäftemachern. Überall, wo ich hinkam, lernte ich auch Politiker, Nichtregierungsorganisationen, Berufsverbände und Journalistenkollegen kennen, die diese Politik kritisierten und unseren Kampf unterstützten, und verstand, dass wir nicht allein waren.

Foto einer türkischen Flagge die hinter der Europäischen Flagge weht.
Die Türkei ist ein unverzichtbarer Markt für das europäische KapitalFoto: Public Domain, pixabay

Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen setzten sich für uns ein, vom internationalen Schriftstellerverband PEN bis zu Reporter ohne Grenzen, vom Komitee zum Schutz von Journalisten CPJ bis zu Amnesty International. Da nun einmal die europäischen Regierungen wegen des Flüchtlingsabkommens in Schweigen verfallen waren, kam es nun darauf an, die Beziehungen zu Europa über die diplomatische und militärische Ebene hinaus zu entwickeln, die „andere Türkei“ musste nachhaltige, persönliche und lokale Verbindungen in die europäischen Parlamente, zu Kommunen, Berufsverbänden, NGOs und zur Öffentlichkeit herstellen.

Es galt, mehr Partnerstädte zu gewinnen und Austauschprogramme für Lehrer und Schüler zu fordern. Anwaltskammern, Kammern anderer Berufsgruppen, Gewerkschaften, Frauen- und Jugendverbände, Journalisten sollten sich solidarisieren. Wirtschaftsverbindungen auf kleiner und mittlerer Ebene mussten ausgebaut werden. Gemischte Parlamentsausschusse sollten gebildet werden. Gemeinschaftliche Kunstprojekte, Festivals waren zu unterstützen, Filme und Serien sollten gemeinsam gedreht werden, Bücher in beiden Sprachen erscheinen.

Glücklicherweise besteht der Westen nicht allein aus ängstlichen Regierungschefs, schwachen Führungen und Geschäftemachern.

Den Türkei-Europa-Beziehungen, die sich auf höchster Ebene in Verhandlungen verrannt hatten, sollte eine Welle von unten aufhelfen. Wir wollten keine Barmherzigkeit vom Westen, wir waren auf der Suche nach einer dauerhaften, gesunden, demokratischen Beziehung auf Augenhöhe, die nicht auf Abhängigkeit, Ausbeutung und Erpressung beruhte.

Anders als die Regierungen lieh das „oppositionelle Europa“ der Stimme der oppositionellen Türkei sein Ohr. Dieses Interesse störte Ankara schon bald. Am 31. Oktober 2016 riss mich um fünf Uhr morgens der Aufschrei meines Handys aus dem Schlaf. Ein Anruf um diese Zeit bringt immer schlechte Nachrichten. Hasan Cemal war dran. „Steh auf, Junge, Überfall!“ Ich fuhr hoch, wie von einer Bettfeder geschleudert. „Sie stürmen die ,Cumhuriyet‘!“ „Was für ein Überfall?“

 

„Sie stürmen die ,Cumhuriyet‘!“

Ich war in Köln. Es war der Morgen nach einer misslichen Nacht. Ich war zur Gedenkfeier für einen alten Freund nach Köln gefahren. Tarik Akan, der unvergessene Star des türkischen Kinos und Kämpfer für die Demokratie, war vor einigen Wochen seiner Krankheit erlegen. Wir hatten gemeinsam Dokumentarfilme gedreht, Gespräche geführt, Reisen unternommen.

Zu der Feier in Deutschland sollten seine Familie und Freunde nach Köln kommen. Darunter enge Freunde von mir, auch mein Freund und Anwalt Akin Atalay, der Herausgeber der „Cumhuriyet“. „Wir sehen uns da“, hatten wir am Telefon vereinbart.

Ein paar Wochen wartete ich auf eine Einladung; als niemand anrief, fuhr ich einfach hin. Immerhin sehe ich meine Freunde dort, dachte ich. Ich sah die Freunde in Köln und zugleich, wie sehr sich das Leben verändert hatte. Und erlebte einen der schwersten Tage meines Lebens im Exil. Hast du eine herzliche Atmosphäre der Freundschaft verlassen, glaubst du, dein Platz werde dir warmgehalten, auch wenn Zeit vergeht, das hoffst du zumindest. Doch es kann vorkommen, dass das Leben den Platz, die Speise, die Freundschaften abkühlen lässt.

Einige Freunde umarmten mich innig wie stets, manche zeigten noch mehr Nähe als früher, brachten gar Koffer voller Kleider von zu Hause für mich mit, doch in den Augen anderer spürte ich die Eiseskälte des Argwohns. Mich fror. Ihr Verhalten zeigte deutlich, wie ungelegen es ihnen kam, dass ich uneingeladen aufgetaucht war. Misstrauten sie mir, oder hatten sie Sorge, mit mir zusammen gesehen zu werden?

Warum hatten sie mich nicht eingeladen, obwohl sie doch wussten, dass ich in Deutschland war? Oder sollte etwa …? Ich stellte dort fest, dass ich nicht nur von der Regierung als Aussätziger behandelt wurde, sondern auch in einigen Bezirken „unseres Viertels“. Einer der Veranstalter fühlte sich hektisch zu einer Erklärung genötigt, ohne dass ich danach gefragt hatte: „Wir haben dich unterstützt, als du im Gefängnis saßest, wie du weißt. Bei dieser Feier aber wollten wir die Politik außenvorlassen. Deine Situation ist ja bekannt …“ Meine Situation? Da ging mir ein Licht auf.

 

Drehender Wind

Der Wind hatte sich gedreht: Ich war ein vom Staat gesuchter „Verbrecher“. Ein Attribut, das die Feier und die Teilnehmer bei ihrer Rückkehr in die Türkei gefährden konnte. Wie eine ansteckende Krankheit hatte die Angst also auch hier Einzug gehalten. „Versteh es nicht falsch, wir fürchteten, durch deine Teilnahme könnte die Feier eine andere Richtung bekommen. Den Saal in der Universität haben wir nur bekommen, weil wir dafür garantiert haben, dass es keine politische Veranstaltung wird.“

Jeder Satz, der erklären sollte, vertiefte nur meine Enttäuschung. „Nicht das Schwert tötet den Helden, sondern ein böses Wort, pflegte mein seliger Vater zu sagen. Ich war es gewohnt, von Gegnern ausgegrenzt zu werden, bei Freunden aber traf mich das unvorbereitet. Die stacheligen Attacken Erdoğans taten nicht weh, doch jetzt stach mir eine Rose in die Hand, als ich an ihr schnuppern wollte, eine Rose, die ich kannte.

Wie eine ansteckende Krankheit hatte die Angst also auch hier Einzug gehalten.

Ich bemühte mich zu kaschieren, wie verletzt ich war. Wir gingen alle gemeinsam essen an jenem Abend. Ohne um Erlaubnis gebeten zu haben, teilte ich ein Foto als glückliche Erinnerung auf Twitter, versehen mit der Zeile: „Unter Freunden / Am Tisch der Sonne.“

Dass ich sie damit in Schwierigkeiten brachte, wurde mir erst später klar. Ebenso, dass ich nicht mehr „der alte Can“ war. Es war riskant, mit mir auf einem Foto abgebildet zu sein, ein Risiko, das einen teuer zu stehen kommen konnte. So warteten denn auch die regimetreuen Medien nicht einmal den Morgen ab, sondern brandmarkten sie alle noch in der Nacht auf ihren Internetseiten.

Mit der Bürde dieses Wissens war ich zu Bett gegangen. Mit der Nachricht vom Überfall stand ich am nächsten Morgen auf. Winston Churchill hatte einst gesagt: „Wenn es morgens um sechs Uhr an meiner Tür läutet und ich sicher sein kann, dass es der Milchmann ist, dann weiß ich, dass ich in einer Demokratie lebe.“

Wir dagegen hatten in der Schule des Lebens gelernt, dass es die Polizei ist, wenn es morgens an der Tür läutet. In der Morgendämmerung läutete es an 16 Türen. Vom Vorsitzenden der Stiftung, die die „Cumhuriyet“ herausgibt, bis zum Chefredakteur, vom Kolumnisten bis zum Karikaturisten, vom Buchhalter bis zum Anwalt wurde die gesamte Führungsriege der Zeitung aus dem Bett geholt und festgenommen.

Wir hatten die Operation seit Monaten erwartet. Meine Frau Dilek war in Izmir, welch glücklicher Zufall. Als niemand die Tür öffnete, hatte die Anti-Terror-Einheit die Nachbarn aus dem Bett geholt und genötigt, Dilek anzurufen. Als ich mit ihr sprach, war sie wieder einmal gelassen und mutig: „Normalerweise lassen sie einen Schlosser öffnen und gehen rein, aber als ich sagte, ich komme sofort, wollten sie warten. Ich fliege gleich hin und schließe ihnen auf.“

Die Heimsuchung stand buchstäblich bei uns vor der Tür. Ich versuchte sofort, die Mitarbeiter der Zeitung zu erreichen. Die Telefone waren ausgeschaltet. Die meisten hatte man auf die Polizeiwache mitgenommen. Hilflos verfolgte ich auf dem Fernsehbildschirm, wie meine Kollegen von Polizisten abgeführt wurden.

Wenn es morgens um sechs Uhr an meiner Tür läutet und ich sicher sein kann, dass es der Milchmann ist, dann weiß ich, dass ich in einer Demokratie lebe. [Winston Churchil]

Es kamen Freunde, die am Morgen davon gehört hatten. Alle waren besorgt: Manche fürchteten, bei der Zeitung würde ein Zwangsverwalter eingesetzt werden, andere waren in Panik, bei der Rückkehr womöglich selbst verhaftet zu werden. Abgeordnete fragten uns verzweifelt: „Was sollen wir tun?“, meine engsten Freunde rieten: „Schreib vorerst nichts, zieh dich in ein Dorf in den Bergen zurück, bring dich eine Weile in Vergessenheit.“

Solche Worte, die Atmosphäre des Niedergangs, die Verzweiflung ringsum stachelten mich nur weiter auf. Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. Bald bekam das Geschehen Konturen: Wegen angeblicher „Unterstützung und Beihilfe für PKK und FETO17“ waren Ermittlungen eingeleitet und Festnahmen angeordnet worden. Über die Ermittlungen war Geheimhaltung verhängt worden, um Debatten von vornherein zu unterbinden.

 

Ein Titan, so alt wie die Republik

Die „Cumhuriyet“ war ein Titan, ebenso alt wie die Republik, deren Namen sie trägt. Atatürk persönlich hatte sie gegründet. Sie war die älteste und angesehenste Zeitung der Türkei. Ihr Einfluss war weit größer als ihre Auflage. Zu allen Zeiten war sie für Demokratie, Laizismus, Freiheit und das Gedankengut der Aufklärung eingetreten, immer wieder hatte sie dafür teuer bezahlen müssen.

Sechs ihrer Autoren hatte sie bei Attentaten verloren, unzählige waren ins Gefängnis gesperrt worden, mehrfach war sie verboten worden, es war auf sie geschossen worden, sie war zensiert worden, doch geschwiegen hatte sie nie, nie hatte man sie zum Schweigen bringen können.

Die Cumhuriyet war eine der letzten Bastionen, die sich Erdoğan, der die zentralen Medien übernommen und sein eigenes Medienimperium errichtet hatte, entschieden entgegenstellte. In unserer Abwesenheit hatten sie nun diese Festung attackiert und unsere Kollegen als Geiseln genommen. Nun mussten wir uns für ihre Befreiung einsetzen und unsere Bastion verteidigen.

In meiner Kolumne, die am nächsten Tag erscheinen sollte, schrieb ich: „Wir wissen, warum ihr durchdreht: Ihr hofft, wenn es euch gelingt, diese Zeitung zu fällen, habt ihr damit eine weitere wichtige Kurve auf dem Weg zur Abschaffung der Republik, deren Namen die ,Cumhuriyet‘ trägt, genommen. (…) Ihr könnt nicht hinnehmen, dass die Republik nicht kapituliert, sondern ganz im Gegenteil viele für sie eintreten. ,Wir drangsalieren sie nach Kräften, doch sie geben immer noch nicht auf‘, wütet ihr. Eure Kultur ist die Kultur der Unterwerfung, deshalb ist euch diese Art der Auflehnung fremd. Es ist uns eine Pflicht, euch damit bekanntzumachen.“

Mittags kam Dilek Hals über Kopf aus Izmir nach Istanbul zurück. Sechs Polizisten standen seit dem Morgen vor der Tür. Treue Freunde, die von der Sache gehört hatten und sofort zu unserem Haus eilten, waren noch vor Dilek eingetroffen. Wie es weiterging, hörte ich am Telefon gewissermaßen live mit: Der Einsatzleiter schickte seine Leute in mein Arbeitszimmer mit der Anweisung: „Ihr wisst, wir suchen digital!“

Das bedeutete im Klartext: „Kümmert euch nicht um die Bücher, schaut euch Computer und Telefone an!“ In meinem geräumigen Arbeitszimmer wurden die Bibliothek, Ordner und Schubladen durchsucht, drei Stunden später war nichts Handfestes gefunden worden, nur mein altes Handy wurde beschlagnahmt. Nach der Durchsuchung verfolgte ich im Fernsehen, wie Dilek vor der Haustür in die wartenden Kameras sprach: „Can hat so viele Bücher, deshalb hat es so lange gedauert.“

 

Zur Fahndung ausgeschrieben

Auf die Frage, ob ihr Mann in die Türkei zurückkommen werde, antwortete sie: „Can ist zur Fahndung ausgeschrieben. Man hat ihn hier leider zur Zielscheibe gemacht. Bei der Rückkehr würde man ihn sofort festnehmen. Ich halte es für besser, wenn er nicht zurückkommt.“

Wir waren jetzt mit folgender Frage konfrontiert: „Werden sie zurückkommen?“ Konnten wir draußen bleiben nun, da unsere Zeitung gestürmt und unsere Kollegen hinter Gitter gebracht worden waren? Sollten wir heimkehren und mit ihnen gemeinsam ins Gefängnis gehen oder bleiben und uns hier weiter engagieren? Am besten war es wohl, ein paar Tage zu beobachten, wie sich die Lage entwickelte, und dann mit klarem Kopf eine Entscheidung zu treffen.

Am nächsten Tag erschien die „Cumhuriyet“ mit der Schlagzeile: „Wir geben nicht auf“. Hunderte Leser waren zur Zeitung gekommen und hatten bis in die Nacht hinein vor der Tür Wache gehalten. Der Chef der größten Oppositionspartei hatte die Zeitung besucht.

Es hagelte Proteste aus aller Welt. Die Erdoğannahe Presse dagegen triumphierte. Die Zeitung „Takvim“ berichtete von dem Überfall unter der Schlagzeile: „Operation gegen die Terror-Festung – das war überfällig“. Unter dem Foto von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, der sagte: „Die Türkei hat die rote Linie überschritten“, hieß es:

„Deutschland in Panik“. Dabei hatte Merkel die Festnahmen nicht einmal verurteilt. Nur der Verband deutscher Zeitungsverleger hatte erklärt, das Schweigen der Kanzlerin sei nicht hinnehmbar.

Über den Autor
Foto von Can Dündar
Can Dündar
Journalist und Schriftsteller

Can Dündar ist der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung „Cumhuriyet“. Wegen seiner Berichterstattung über den türkischen Geheimdienst wurde er zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und ist nur knapp einem Mordanschlag entkommen. Dündar setzte seinen Kampf für die Pressefreiheit im Exil fort. Er erhielt unter anderem den Menschenrechtspreis von Reporter ohne Grenzen, den Hermann-Kesten-Preis, die Goldene Victoria für Pressefreiheit, den Lew-Kopelew-Preis und den internationalen Whistleblower-Preis. 2017 wurde er als Europäischer Journalist des Jahres ausgezeichnet.

Bücher (Auswahl):

  • Erdoğan. Correctiv, Essen, 2021
  • Tut was! / Bir şey yap! Plädoyer für eine aktive Demokratie / Aktif demokrasi için çağrı. Hoffmann und Campe, Hamburg, 2018
  • Verräter: Von Istanbul nach Berlin. Aufzeichnungen im deutschen Exil. Hoffmann und Campe, Hamburg, 2017
  • Lebenslang für die Wahrheit: Aufzeichnungen aus dem Gefängnis. Hoffmann und Campe, Hamburg, 2016