Illustration: Ein Mensch im Weltall schwebt über der Weltkugel. Er hat die Form eines Fragezeichens.

Bildung plus kritisches Denken

Die Herausforderungen der Corona-Pandemie haben eine Reihe von Schwachstellen offenbart, sowohl im Gesundheitswesen als auch auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene. Die Europäische Union muss ihre strategische Widerstandsfähigkeit konsolidieren, sowohl innenpolitisch als auch in der unmittelbaren Nachbarschaft.

Die Werte und Prinzipien der Demokratie und der europäischen Einheit stellen das Fundament der Union dar und sind das bedeutendste Verbindungselement für die Mitgliedsstaaten. Sie bilden das Wesen unseres Kontinents sowie die Quelle des Wohlstands der Sicherheit und der Stabilität unserer Gesellschaften. Während im Laufe der Geschichte die europäische Einigung durch Waffen hergestellt wurde – und das gilt für die meisten Versuche, die europäische Einheit zu erreichen, die vor dem Schuman-Plan stattgefunden haben –, ist sie heute ein Solidaritätsprojekt, das auf unserem gemeinsamen Willen beruht, für den Frieden und den Wohlstand der Europäischen Union und seiner Bürger zusammen zu arbeiten.

Die Herausforderungen von heute bestätigen die Einsicht, dass die Europäische Union noch stärker und widerstandfähiger werden muss.

Wir finden in der Geschichte unseres Kontinents und im intellektuellen Erbe Europas Beispiele, welche das zeitgenössische Handeln sowie die Prozesse der europäischen Integration in der Nachkriegszeit inspiriert haben. Jahrhunderte der Gewalt und Zerstörung haben auf dramatische Art und Weise die europäische Geschichte geprägt, bevor sich die Vernunft durchsetzte, und die Einsicht, dass sich die Einheit durch den freien Willen der Beteiligung an gemeinsamen Projekten jener erreichen lässt, die dieselben Werte teilen.

Die Herausforderungen von heute bestätigen die Einsicht, dass die Europäische Union noch stärker und widerstandfähiger werden muss. Aus diesem Grund möchte ich die Bedeutung der gemeinsamen europäischen Aktion, der Einheit, der Bildung und der Demokratie in unserer Zeit hervorheben. Wir leben nämlich in einer Zeit, in der Europa und die ganze Welt vor wichtigen Entscheidungen stehen und sich mit Schwierigkeiten konfrontiert sehen.

 

Der unsichtbare Feind

Eine plötzliche und dramatische Veränderung hat unseren Alltag erschüttert, ein unsichtbarer Feind, das Virus, das die aktuelle Pandemie ausgelöst hat, fordert nun neue Antworten, Lösungen und gemeinsame Instrumente auf europäischer und internationaler Ebene. In diesem besonderen Rahmen bleiben die zehn Grundsätze der Erklärung von Sibiu vom 9. Mai 2019 grundlegend, denn Union ist heute mehr denn je auf Einheit, Solidarität und Zusammenhalt angewiesen sowie auf eine pragmatische Vorgehensweise, die sich auf Handeln und konkrete Ergebnisse konzentriert. Wir leben heute in einem Europa, das in seinem gemeinsamen Streben nach Demokratie, Rechtsstaat, Einhaltung der Menschenrechte und freier Marktwirtschaft vereint ist.

Die Tatsache, dass die bedeutendste Errungenschaft der Europäischen Union die Sicherung des Friedens und des Wohlstands auf dem europäischen Kontinent darstellt, ist ein Grund, stolz zu sein und uns dafür einzusetzen, dieses Modell, welches auf gemeinsamen Werten und Prinzipien fußt, weiter zu fördern. Im Laufe ihrer Geschichte ist die Europäische Union mehrfach gefordert worden. Wir haben gemeinsam verschiedene Krisen bewältigt. Jedes Mal haben die Mitgliedstaaten die Ressourcen und die Möglichkeiten gefunden, um Herausforderungen in Chancen zu verwandeln, Schwierigkeiten zu überwinden, und dabei unsere Union zu stärken. Diese Fähigkeit zur Veränderung und Anpassung trägt dazu bei, dass die Union ein solides und nachhaltiges Gefüge bleibt.

 

Illustration: Zwei Hände halten einander fest und sind durch Handschellen verbunden.
In Zeiten globaler Herausforderungen ist die Europäische Union mehr denn je auf Einheit, Solidarität und Zusammenhalt angewiesen, Illustration: CDD20 via pixabay

Es gab auch Umstände, wie beispielsweise während der aktuellen Pandemie, in denen wir als Union hätten besser agieren können, um schneller den Erwartungen der europäischen Bürger zu entsprechen. Aus der Sicht Rumäniens können wir nur gemeinsam auf der Höhe der Erwartungen unserer Bürger sein, in Einheit und Zusammenhalt, und nicht durch Rückzug oder durch Bildung von engen Kreisen europäischer Integration. Trotz aller Schwierigkeiten zu Beginn dieser Zeitspanne haben die EU-Mitgliedstaaten Lösungen gefunden, und, noch wichtiger – sie waren solidarisch.

Die Kraft der Union hat uns geholfen, die schwierigsten Zeiten zu überwinden. Ich bin überzeugt, dass die Entscheidungen, welche 2020 auf europäischer Ebene getroffen wurden, beginnend mit denjenigen, die für die Bewältigung der Krise unerlässlich waren, aber vor allem die Verabschiedung des Europäischen Aufbauplans, die Interpretation Konrad Adenauers für das vereinte Europa konkret widerspiegeln: „Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle." Die Herausforderungen der Pandemie haben eine Reihe von Schwachstellen offenbart, sowohl im Gesundheitswesen als auch auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene. Dies ist ein eindeutiger Beweis für die Notwendigkeit der Konsolidierung der strategischen Widerstandsfähigkeit der Europäischen Union, sowohl innenpolitisch, als auch in der unmittelbaren Nachbarschaft.

 

Raum der Freizügigkeit

Innerhalb der Union stellt der Europäische Binnenmarkt ein Bindeglied zwischen den Mitgliedsländern dar, welches das Wesen des europäischen Projekts definiert und für den europäischen Bürger konkreten Nutzen bringt. Wir haben die Pflicht, uns zu versichern, dass durch all unsere Bemühungen der Erhalt dieses „gemeinsamen Gutes”, des Binnenmarktes, gewährleistet ist sowie dessen vier grundlegende Freiheiten, deren Bedeutung durch die Gesundheitskrise verdeutlicht worden ist.

Um dieses Ziel der Konsolidierung des Binnenmarktes zu erreichen, brauchen wir einen vollständig funktionalen und effizienten Raum der Freizügigkeit. Damit der Schengenraum vollständig funktional und effizient ist, ist es gleichzeitig notwendig, dass alle Mitgliedsstaaten, welche die Voraussetzungen erfüllen, Teil des Schengenraums sind.

Rumänien gehört zu den Staaten, die seit über zehn Jahren wie ein De-facto-Mitglied des Schengenraums agieren. Der Abschluss dieses Prozesses der Integration stellt nicht nur für Rumänien ein Ziel dar, sondern sollte auch ein Ziel der Europäischen Union sein. Gleichzeitig hat uns die COVID-19 Pandemie gelehrt, dass gemeinsames, abgestimmtes Handeln unentbehrlich ist, auch in Bereichen von nationaler Kompetenz, wie dem Gesundheitswesen.

 

Eine Europäische Gesundheitsunion

Der Gesundheitsbereich ist für die Konsolidierung der Widerstandsfähigkeit der Europäischen Union, im Hinblick auf potenzielle zukünftige Krisen, unentbehrlich. Aus diesem Grund muss die Europäische Gesundheitsunion so bald wie möglich Wirklichkeit werden. Außenpolitisch kann die Widerstandsfähigkeit der Europäischen Union nur nachhaltig sein, wenn wir diese auch auf dem Westbalkan sowie in der östlichen und südlichen Nachbarschaft sicherstellen können.

Aus diesem Grund muss die Europäische Union langfristige strategische Investitionen in dieser Region umsetzen. Wir müssen vor Ort aktiv sein, sowohl die Europäische Union als Ganzes, als auch die einzelnen Mitgliedsstaaten, und wir müssen darüber hinaus eine größere Bandbreite der Kooperation anbieten, die in einem noch höheren Maß die Sicherheit berücksichtigt.

Damit das Handeln der Europäischen Union auch zu mehr Widerstandsfähigkeit führen kann, aber auch um ihre Fähigkeit, die eigenen Prinzipien und Ziele auf globaler Ebene besser zu vertreten, ist es notwendig darüber nachzudenken, wie Europa diese Anliegen koordinierter und effektiver realisieren kann.

Um uns auf den beschleunigten Übergang zu einer grünen und digitalen Wirtschaft vorzubereiten sowie auch um Antworten auf hybride und asymmetrische Sicherheitsrisiken zu finden, die in großem Maße neue Technologien nutzen werden, müssen wir die Fähigkeit entwickeln, Zukunftsmodelle zu erstellen. Aus diesem Grund wird sich die Debatte über die Entwicklung der Europäischen Union mittel- und langfristig mehr dem vorausschauenden Regieren widmen müssen.

In diesem Sinne stellt die „Konferenz zur Zukunft Europas" eine einmalige Möglichkeit dar, die Bürgerinnen und Bürger Europas zu hören, um ihre Erwartungen an die Europäische Union zu verstehen und die Herausforderungen der Zukunft besser bewerten zu können. (Die Zukunftskonferenz ist am 9. Mai 2021 offiziell gestartet, die digitale Plattfom zur Konferenz ist eine zentrale Anlaufstelle und sammelt alle Informationen und eingehenden Vorschläge von Bürgerinnen und Bürgern).

Um uns auf den beschleunigten Übergang zu einer grünen und digitalen Wirtschaft vorzubereiten, müssen wir die Fähigkeit entwickeln, Zukunftsmodelle zu erstellen.

An dieser Stelle möchte ich mein Plädoyer für europäische Einheit und Solidarität erneuern. Es ist wahr, dass heute bestimmte Entscheidungen im kleineren Kreis schneller getroffen werden können, doch die wahre Kraft der Union, vor allem in einer immer enger vernetzten Welt, in der die EU auch immer öfter der Kritik ausgesetzt ist, ist nicht durch konzentrische Kreise oder unterschiedliche Geschwindigkeiten gegeben.

Diese Kraft ist durch eine inklusive Herangehensweise gegeben: durch die Fähigkeit der Europäischen Union sich in Richtung Demokratie und Wohlstand für all ihre Bürger und Partner, die unsere Werte, Prinzipien und Ziele teilen, zu bewegen. Was Partnerschaften angeht, bleibt die Beziehung zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika zweifelsohne der tragende außenpolitische Pfeiler und gleichzeitig der Bereich, in dem die Europäische Union auch weiterhin am meisten investieren sollte. Die Europäische Union braucht eine Weiterführung des Engagements der USA, um ihre Sicherheit, Stabilität sowie ihren Wohlstand sichern zu können, so wie die USA eine starke EU brauchen, welche die Fähigkeit besitzt, Krisen in ihrer Nachbarschaft erfolgreich zu bewältigen.

 

Stützpfeiler der globalen Demokratie

In seinen Memoiren schrieb Jean Monnet: „Europa und Amerika können ihre Probleme nicht ignorieren und brauchen einander, um sie zu lösen. Getrennt können sie nicht effizient zum globalen Frieden beitragen.” Dieses Bekenntnis eines der Architekten der Europäischen Union ist auch heute gültig, mehr als ein halbes Jahrhundert später, und dies nicht, weil sich die Probleme und der Kontext nicht verändert hätten, sondern weil die USA und die EU zweifelsohne die Stützpfeiler der globalen Demokratie bleiben.

 

An dieser Stelle möchte ich auf die Bedeutung der Bildung eingehen, auch wenn die Europäische Union in diesem Bereich nur unterstützend zu den nationalen Kompetenzen wirken kann. Ich tue es auch, um die Rolle der Bildung in der Konsolidierung der Demokratie und des bürgerlichen Geistes zu unterstreichen.

Eine wahre Demokratie kann nicht bestehen, ohne den Bürger sowie die neuen Generationen von Europäern, zu befähigen, an den öffentlichen Debatten teilzunehmen und ihrer Stimme Gehör zu verleihen. Diese Fähigkeit muss durch Bildung im europäischen Geist erreicht werden, so dass wir Möglichkeiten für alle bieten, kritisches Denken zu entwickeln und, damit gerüstet, der Manipulation, Desinformation und Propaganda standzuhalten.

Illustration: Ein Mensch schwebt im Weltall und aus seiner Brust wächst ein Baum.
Die Europäische Union muss die Möglichkeiten für alle bieten, kritisches Denken zu entwickeln, Illustration: CDD20 via pixabay

Meines Erachtens sollten wir darüber nachdenken, wie wertvolle Mittel, etwa Erasmus+, noch effizienter genutzt werden können, um dem Bedarf der Bildung im Sinne des kritischen Denkens gerecht zu werden, angesichts der Risiken, die durch die digitale Gewalt ausgehen, jedoch auch mit dem Ziel der Konsolidierung der Teilnahme an demokratischen Prozessen.

Auch wenn die junge Generation Hauptzielgruppe dieser Maßnahme ist, wäre es sehr nützlich, wenn diese Bemühungen zur Stärkung der Demokratie und des bürgerlichen Geistes, Teil des lebenslangen Lernens werden könnten. Für Rumänien war der Beitritt zur Europäischen Union die Rückkehr in die Familie, deren Werte und Prinzipien wir teilen. Die freie Meinungsäußerung und die demokratischen Werte werden von den rumänischen Staatsbürgern umso mehr geschätzt, als sie über Jahrzehnte in einer Gesellschaft gelebt haben, in der die freie Meinungsäußerung nicht möglich war.

Eine wahre Demokratie kann nicht bestehen, ohne den Bürger sowie die neuen Generationen von Europäern, zu befähigen, an den öffentlichen Debatten teilzunehmen und ihrer Stimme Gehör zu verleihen. 

Für uns ist die Europäische Union ein politisches, wirtschaftliches und soziales Projekt, das die Modernisierung Rumäniens vorangetrieben hat. Unsererseits leistet Rumänien heute einen bedeutenden Beitrag zur europäischen Konstruktion. Die Unterstützung des europäischen Projektes, die Vermeidung von Spaltungen, die Einbeziehung in den Prozess der Entscheidungsfindungen stellen das Wesen des zutiefst pro-europäischen Profils Rumäniens dar.

Der Geist der Erklärung von Sibiu vom 9. Mai 2019 – der Geist von Sibiu – ist der beste Beweis in diesem Sinne. Es ist unsere Pflicht, uns für die Stärkung der Europäischen Union einzusetzen, denn sie ist die einzige gute Option für ein demokratisches, wohlhabendes und stabiles Europa. Als Menschen unserer Zeit haben wir die moralische Pflicht, die Europäische Union weiterhin als Friedens- und Entwicklungsprojekt zu fördern.

Über den Autor
Foto von Klaus Johannis vor einem Mikrofon
Klaus Johannis
Präsident von Rumänien

Klaus Johannis, geboren 1959 in Hermannstadt, ist Präsident Rumäniens. Er gehört der rumäniendeutschen Volksgruppe der Siebenbürger Sachsen an und war ab dem Jahr 2000 Bürgermeister von Hermannstadt. Im Juni 2014 wurde er Vorsitzender der Nationalliberalen Partei (PNL) und kandidierte daraufhin bei den Präsidentschaftswahlen und ging am 16. November 2014 als Gewinner hervor. 2019 wurde er erneut in das Amt gewählt und erhielt zudem den Aachener Karlspreis.

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