Illustration: Zwei Polizisten jagen zwei Sportler:innen mit Schlagstöcken vom Podest. Lächelnde Zuschauer beobachten dies aus dem Hintergrund.

Bühne des Protests

Mexiko-Stadt 1968: Mit zum Black-Power-Gruß hochgereckten Fäusten protestieren die afro-amerikanischen Athleten Tommie Smith und John Carlos während der Medaillenzeremonie der Olympischen Spiele gegen Rassendiskriminierung. Sport bietet eine geradezu idealtypische Projektionsfläche für politischen und gesellschaftlichen Protest.

Freitag, 29. Januar 2016, Anpfiff zum Spiel AE Larissa gegen AO Acharnaikos in der zweiten griechischen Fußballliga: Statt den Ball zu spielen, setzen sich die Spieler der beiden Klubs zur Überraschung von Zuschauer und Medien für zwei Minuten schweigend auf das Spielfeld, um auf diese Weise gegen die europäische Flüchtlingspolitik zu demonstrieren, und auf das Schicksal von Tausenden Menschen aufmerksam zu machen, die unter zum Teil lebensgefährlichen Umständen mit Booten von der Türkei nach Griechenland flüchten.

Dienstag, 9. Februar 2016, Anpfiff zum DFB-Pokalspiel Stuttgart gegen Dortmund: Statt die eigene Mannschaft anzufeuern, bleibt der Dortmunder Gästeblock leer. Erst nach 18 Minuten ziehen Fans des BVB ins Stadion ein, um so gegen Ticketpreise von bis zu 70 Euro zu protestieren. Um ihrem Ansinnen noch stärker Ausdruck zu verleihen, werfen die Dortmunder Anhänger nach der Pause Tennisbälle auf den Rasen vor ihrem Block und monieren den drohenden Verlust des Fußballs als Volkssport.

Der sportbezogene Protest ruft [...] zwar regelmäßig ein beträchtliches mediales Echo hervor; die Aufmerksamkeit verebbt jedoch in der Regel auch schon nach kurzer Zeit wieder.

Die beiden aktuellen Beispiele aus dem europäischen Profifußball dokumentieren einerseits, welche Bedeutung dem Sport mittlerweile als Bühne für politischen Protest zukommt. Andererseits zeigen sie aber auch, wie unterschiedlich Protest artikuliert wird, und welche erhebliche Bandbreite an Motiven ihm zugrunde liegt. Sport – namentlich der professionelle Fußball – ist ein globales Massenphänomen, das im Alltagsleben zahlreicher Menschen einen festen Platz einnimmt.

Der Sport dient dabei nicht nur der individuellen körperlichen Fitness oder dem kollektiven Kräftemessen, sondern er stellt angesichts seines beträchtlichen Mobilisierungspotenzials auch einen wichtigen Bestandteil gesamtgesellschaftlicher Kommunikation dar. Vor diesem Hintergrund darf es nicht verwundern, dass der Sport auch eine geradezu idealtypische Projektionsfläche für die unterschiedlichsten politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Anliegen bietet.

Dies hat zur Folge, dass die Bühne, die der Sport bietet, von den verschiedenen Akteuren gesucht und genutzt wird, um die jeweiligen Interessen zu artikulieren: Dabei kann sowohl, wie das zweite Fallbeispiel zeigt, ein originäres Problemfeld des Sports angesprochen sein. Es kann aber auch – und dafür steht das erste Beispiel – um Themen gehen, die mit dem sportlichen Ereignis selbst nur wenig zu tun haben, sondern für die der Sport lediglich den äußeren Rahmen darstellt. Für beide Bereiche gilt: Der sportbezogene Protest ruft angesichts der Popularität seines Gegenstands zwar regelmäßig ein beträchtliches mediales Echo hervor; die Aufmerksamkeit verebbt jedoch in der Regel auch schon nach kurzer Zeit wieder.

Seitens der Wissenschaft ist dem Problemfeld des Sportprotests bislang nur punktuelle Aufmerksamkeit gewidmet worden. Obwohl eine Fülle von Protestereignissen auszumachen sind, ist eine systematische wissenschaftliche Analyse noch nicht erfolgt, lediglich erste Ansätze zur Aufarbeitung liegen bisher vor. Stellvertretend für die unbefriedigende Forschungslage steht die achtbändige „International Encyclopedia of Revolution and Protest. 1500 to the Present“, in deren 250-seitigem Register man einen Eintrag zum Thema Sport vergeblich sucht.

Der Sport bietet eine geradezu idealtypische Projektionsfläche für die unterschiedlichsten politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Anliegen.

Mit Blick auf diese Ausgangssituation möchte ich hier exemplarische Beispiele für den Zusammenhang von Sport und Protest in Geschichte und Gegenwart aufzeigen. Dabei soll es weniger um den Gegenstand selbst, sondern vor allem um die Bandbreite der Ausdrucksformen und um das Aktionsrepertoire der Proteste gehen. Mit dieser Vorgehensweise soll eine Brücke zwischen der sportwissenschaftlichen Forschung und der Protestforschung geschlagen werden, wie sie international vor allem vom US-amerikanischen Historiker und Sozialwissenschaftler Charles Tilly theoretisch erarbeitet und für den deutschsprachigen Raum durch die empirischen Analysen des Soziologen Dieter Rucht vertieft wurde.

 

Interaktiver Prozess

In der wissenschaftlichen Forschung liegt dem Begriff Protest bis heute keine eindeutig akzeptierte Definition und auch kein allgemein akzeptiertes Theoriekonzept zugrunde. So wird einerseits zwischen verschiedenen Protestformen unterschieden und hierbei zwischen unter anderem legalen und illegalen Protestformen differenziert. Ein anderer Zugang zielt auf die Protestebenen und unterscheidet zwischen der Ebene der Kommunikation (interne vs. externe Kommunikation), der Ebene der Kooperation (Integration vs. Abgrenzung) und der Ebene der Darstellung von Protest (performativ vs. medial).

Reduziert man die zahlreichen vorliegenden Konzepte und Ansätze auf ihre wesentlichen Grundgedanken, lassen sich vier „Kernelemente“ von Protest ausmachen. Hierzu zählen die Konfliktdimension (Protest als direktes Anliegen), die Öffentlichkeit und die Erregung von Aufmerksamkeit (Protest als grundsätzlich offenes, für jeden zugängliches Phänomen), des Weiteren die Kollektivität (Protest als überindividuelles Anliegen) und die direkte Aktion (Konstruktion des Protests in und durch Aktion).

Im Licht dieser Kernelemente definiert Dieter Rucht als Protestereignis eine „kollektive, öffentliche Aktion nichtstaatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist“. Protest wird in diesem Sinne als ein interaktiver Prozess zwischen Protestierenden und Öffentlichkeit – als ein System von Aktion und Reaktion – sowie als Ausdruck für eine Aktivität betrachtet, mit der gegen etwas eingetreten (Ausdruck des Widerspruchs) und zugleich für eine Alternative Zeugnis abgelegt wird.

 

Die Spieler von Hertha BSC knien vor dem Anpfiff zusammen auf dem Spielfeld.
14.10.2017: Die Spieler von Hertha BSC knien vor dem Anpfiff zusammen auf dem Spielfeld. Sie schließen sich dem Protest US-amerikanischer Sportler gegen Diskriminierung an, Foto: Annegret Hilse / dpa via picture alliance

Für den sportbezogenen Protest trifft dieser Definitionsansatz in hohem Maße zu, da das Spielfeld und die Tribüne im Stadion gleichermaßen für Öffentlichkeit wie für Kollektivität stehen und der oftmals emotional aufgeladene und medial vermittelte Rahmen direkte Aktionen und Kontroversen noch befördert:

Der (Spitzen-)Sport bietet gewissermaßen eine ideale Bühne für Protest.

Folgt man diesem Verständnis von Protest, erscheint es naheliegend, der Häufigkeit, Beschaffenheit und Form des Protests, aber auch den beteiligten Akteuren, den Themen und Mobilisierungsprozessen sowie der zeitlichen und räumlichen Dimension der Proteste Aufmerksamkeit zu widmen. 

Der damit verbundene Ansatz – die sogenannte Protestanalyse – deckt nicht alle denkbaren Formen und jedwedes Auftreten von sozialem Protest ab; sie erfasst jedoch ein relativ weitreichendes Repertoire von Protestformen, wie etwa Straßendemonstrationen, Blockaden, Sit-Ins, Streiks, Unterschriftensammlungen, Boykotte oder Anschläge.

 

Vier Arten von Protest

Eine Stärke der Protestanalyse besteht darin, dass sie Rückschlüsse über das Aktionsrepertoire des Protests ermöglicht und unterschiedliche Aktionsformen von Protest zu kategorisieren vermag. Rucht definiert vier Protesttypen, die auch für die folgenden Ausführungen zum Verhältnis vom Sport und Protest grundlegend sind. Hierzu zählen: appellativer Protest (etwa offene Briefe), justizieller Protest (zum Beispiel Klagen vor Gerichten), demonstrativer Protest (etwa Protestmärsche), konfrontativer Protest (wie Sitzblockaden) und gewaltförmiger Protest (etwa Zerstörungen von Gegenständen oder Verletzungen von Personen).

Ungeachtet der zahlreichen Beispiele, die eine Nutzung des Sports für außersportliche Anliegen dokumentieren, soll es bei den folgenden angeführten Fallbeispielen in erster Linie um Beispiele aus dem engeren Sportbereich selbst gehen.

 

Am 29. November 2015 votierten 51,6 Prozent der sich beteiligenden Hamburger Bürgerinnen und Bürger gegen eine Bewerbung der Stadt um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2024. Dieses Resultat, das sich auf eine Wahlbeteiligung von 50,2 Prozent stützt, markierte zugleich das Ende einer monatelangen Debatte in der Hansestadt über das Für und Wider eines der weltweit bedeutsamsten Sportgroßereignisse.

Während die Befürworter sich von der Ausrichtung im Sinne eines umfassenden Stadtentwicklungs- und Vermarktungsprogramms unter anderem einen Imagegewinn für die Stadt, neue Sportstätten und ein höheres Touristenaufkommen versprachen, wurden von den Gegnern ungeklärte Finanzierungsfragen und potenzielle Schulden moniert. Außerdem verwiesen die Gegner auf Beeinträchtigungen der lokalen Bevölkerung durch Baustellen, Gentrifizierungsprozesse und die Furcht vor Ansprüchen der IOC-Funktionäre sowie auf denkbare Nachteile für kleinere Vereine und den Breitensport.

Der Schriftzug «Kreide verschwindet, Schuldenberge bleiben! NOlympia» von Olympia-Gegner ist am 24.11.2015 auf den Boden am Ausgang einer U-Bahnstation zu sehen.
Im November 2015 votierten 51,6 Prozent der sich beteiligenden Hamburger Bürger*innen gegen eine Bewerbung der Stadt um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2024, Foto: Christian Charisius / dpa via pictura alliance

Unter dem Schlagwort „NOlympia-Hamburg“ entfalteten die Hamburger Olympia-Gegner eine Fülle von Aktivitäten, die im weitesten Sinn als appellativer Protest zu qualifizieren sind. Hierzu zählen unter anderem Unterschriftensammlungen und Petitionen. Eine zentrale Rolle kommt den Medien zu, denen gerade im Sport das Potenzial zugesprochen wird, Meinungsbilder zu beeinflussen. Bemerkenswert im Hamburger Fall ist, dass die klassischen Medien, also Funk, Fernsehen und Printmedien, tendenziell deutlich für die Olympiabewerbung eintraten, während sich die Olympiagegner vor allem auf das Internet und die sozialen Medien stützten. Von den sechs Fraktionen der Hamburger Bürgerschaft votierte nur die Partei Die Linke gegen die Bewerbung, während die anderen Parteien, unterstützt durch die Stadtspitze und den DOSB, mehrheitlich für eine Bewerbung eintraten und die groß angelegte „Feuer-und-Flamme“-Werbekampagne der Bewerbungsgesellschaft Hamburg 2024 mit zahlreichen Plakaten sowie einer Fülle von Informationsveranstaltungen befürworteten.

Der Protest in Hamburg stützte sich auf ein breites, aber heterogenes Bündnis von Olympiagegnern, zu dem Wissenschaftler ebenso zählten wie Gewerkschafter, Naturschützer und Stadtplaner.

Der Protest in Hamburg stützte sich auf ein breites, aber heterogenes Bündnis von Olympiagegnern, zu dem Wissenschaftler ebenso zählten wie Gewerkschafter, Naturschützer und Stadtplaner. Ihren Ausdruck fanden die Protestaktivitäten neben einzelnen Straßenaktionen vor allem in umfassender Internetarbeit, die auf Facebook, Twitter sowie in Internet-Blogs und auf Seiten wie „NOlympia Hamburg – Etwas Besseres als Olympia“ und „fairspielen.de“ zum Tragen kam.

Von den Olympiagegnern wurden in diesem Zusammenhang kritische wissenschaftliche Studien ebenso zitiert wie Argumente gegen die Plakatkampagne online dargelegt. Verfolgt wurde primär das Ziel, argumentativ auf das von der Stadtspitze – nach einer Änderung der kommunalen Verfassung – zu Legitimationszwecken anberaumte Referendum Einfluss zu nehmen. Das Ringen um Argumente und die öffentliche Meinung spiegelte sich auch in der Volksinitiative „Stop Olympia“ wider, die – weitgehend unabhängig von den NOlympia Hamburg-Aktivitäten agierend – bis zum Referendum 13.000 Unterschriften zusammenbrachte, um auf diesem Wege ein späteres Volksbegehren beziehungsweise einen Volksentscheid anzustrengen. Die Hamburger Initiative „Argumente für ein NEIN zu Olympia“ setzte demgegenüber primär auf das Referendum.

Im Hinblick auf die Frage nach den Aktionsrepertoires ist die Bedeutung der Nutzung sozialer Medien herauszuheben. Obwohl auch vor Ort im Millerntorstadion eine deutliche NOlympia-Positionierung zum Ausdruck gebracht und beim HSV ein NOlympia-Transparent gezeigt wurde, war in erster Linie das Internet Forum des Protests. Vor allem das online vermittelte „NO“ neben den bunten olympischen Ringen avanciert zum wichtigsten Symbol der Protestbewegung.

Wie wirksam und bedeutsam derartige appellative Formen im Sport mittlerweile sind, zeigt der Umstand, dass es zuvor bereits in Bayern zweimal zu ähnlichen Protesten gekommen war. Im Gegensatz zur Bewerbung um die Ausrichtung der Winterspiele 2022 – die nach dem negativen Votum der Bevölkerung Münchens im Oktober 2013 nicht weiterverfolgt wurde – hatten die Befürworter beim Bürgerentscheid in Garmisch-Partenkirchen im Frühjahr 2011 die Oberhand behalten.

 

Justizieller Protest

Eine ganz andere Form, sportbezogenen Protest zum Ausdruck zu bringen, stellt die Inanspruchnahme rechtlicher Möglichkeiten und die Beschreitung des Rechtswegs dar.

 

Das Foto zeigt ein Schild mit der Aufschrift "Cour de Justice de l'Union Europeene" vor einem Gebäude des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg.
Eine Form, sportbezogenen Protest zum Ausdruck zu bringen, stellt die Inanspruchnahme rechtlicher Möglichkeiten und die Beschreitung des Rechtswegs dar, Foto: Harald Tittel / dpa via picture alliance

Dieses Aktionsrepertoire ist in der öffentlichen Wahrnehmung am stärksten mit dem Namen Jean Marc Bosman verbunden, der 1995 eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs erwirkte, mit dem nicht nur die bis dahin geltenden Ablösesummen für professionelle Fußballer abgeschafft, sondern auch zugleich die Spielerbegrenzungen für Fußballer mit Unionsbürgerschaft gekippt wurden.

Ein aktuelles Beispiel für justiziellen Protest stellt der Fall der Eisschnellläuferin Claudia Pechstein dar, der gleich mehrere rechtliche Dimensionen hat. Den Ausgangspunkt bildeten die Blutwerte, die bei Pechstein gemessen wurden und die dazu führten, dass sie von der Internationalen Eislaufunion (ISU) mit dem mittelbar abgeleiteten Vorwurf des Blutdopings gesperrt wurde.

Pechstein rief ihrerseits das Sportgericht CAS in Lausanne an, um gegen die Entscheidung zu protestieren. Da der CAS jedoch im Sinne des Verbands urteilte, beschloss Pechstein, den Rechtsweg auszuweiten und strengte vor verschiedenen staatlichen Gerichten Verfahren an, in denen sie unter anderem Klage gegen ein Startverbot bei den Olympischen Spielen erhob. In einem weiteren, gegenwärtig noch beim Bundesgerichtshof anhängigen Verfahren geht es um Grundlegendes. Pechstein führt nicht nur einen Protestzug gegen ihre Sperre, sondern sie beabsichtigt gleichzeitig auch einen möglicherweise wegweisenden Grundsatzentscheid zur künftigen Rolle von Sportschiedsgerichten und zur Verpflichtung von Sportlern herbeizuführen, Rechtstreitigkeiten vor Sportschiedsgerichten bis zum CAS klären zu lassen.

Mit dieser Entscheidung ist die Frage der Autonomie des Sports und der verbandlichen Selbstorganisation in ihren Grundfesten berührt. Finanziert hat Claudia Pechstein ihren Rechtsstreit durch Spenden, die aus der Bevölkerung kamen sowie durch Bürgschaften der Gewerkschaft der Polizei und von der internationalen Sportgewerkschaft FIFPRO Europe. Gerade letztere hat als „Sportgewerkschaft“ ein erhebliches Interesse an einer stärkeren rechtlichen Stellung der Athleten gegenüber ihren Verbänden.

Das hier dokumentierte Protestrepertoire ist in quantitativer Hinsicht eher selten anzutreffen; zudem fehlt ihm in der Regel auch der unmittelbare kollektive Rahmen und die direkte Aktion. Mittelbar kommt er durch die Unterstützung der Sportgewerkschaft zum Tragen.

 

Die gefärbten Fingernägel der Hochspringerin Emma Green

Die quantitativ bedeutsamste Form von Protest im Sport markiert der demonstrative Protest. Schon bei den inoffiziellen Zwischenspielen in Athen im Jahr 1906 hatte der irische Silbermedaillengewinner im Weitsprung, Peter O’Connor, einen Fahnenmast erklommen und auf diesem die irische Flagge geschwenkt. Er protestierte damit gegen die Bestimmung, unter britischer Fahne antreten zu müssen, da das zu diesem Zeitpunkt nicht unabhängige Irland kein eigenes olympisches Komitee besaß.

Ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind die beiden afroamerikanischen Leichtathleten Tommie Smith und John Carlos, die beim 200-Meter-Lauf der Olympischen Spiele 1968 den ersten und dritten Platz belegt hatten. Beide erschienen ohne Schuhe, nur auf schwarzen Strümpfen zur Siegerehrung. Auf dem Podest reckten Smith und Carlos eine jeweils mit einem schwarzen Handschuh bekleidete Faust in die Höhe – als Zeichen der „Black-Power-Bewegung“. Dieser symbolische Protest machte Schule und ist mittlerweile in vielfältigen Ausprägungen und Formen im Sport anzutreffen.

Der internationale Leichtathletikverband IAAF vertrat zunächst die Meinung, man dürfe eine freie Meinungsäußerung nicht untersagen, revidierte aber auf Druck der russischen Regierung diese Äußerung.

Für die aktuelle Sportpolitik dokumentiert ein weiteres Beispiel besonders kennzeichnend, mit welchen Aktionsrepertoires gegenwärtig demonstrativer Sportprotest zum Ausdruck gebracht wird. Die schwedische Weltklasse-Hochspringerin Emma Green hatte sich bei der Leichtathletikweltmeisterschaft in Moskau 2013 in der Qualifikation ihre Fingernägel in den Regenbogenfarben lackiert. Diese eher subtile Demonstration von Protest war als Ausdruck gegen die Diskriminierung von Homosexuellen in Russland zu verstehen, mit dem die Schwedin auf die aktuellen politischen Entwicklungen und das russische Anti-Homosexuellen-Gesetz im Austragungsland der seinerzeit bevorstehenden olympischen Winterspiele aufmerksam machen wollte.

 

Emma Green Tregaro aus Schweden mit ihren in Regenbogenfarben lackierten Fingernägeln während der Qualifikation des Hochsprungwettbewerbs der Frauen bei den 14. IAAF-Weltmeisterschaften im Luzhniki-Stadion in Moskau, Russland, 15. August 2013.
Die bunten Fingernägel von Emma Green waren als Ausdruck gegen die Diskriminierung von Homosexuellen in Russland zu verstehen, Foto: dpa / Erik Martensson via picture alliance

Der internationale Leichtathletikverband IAAF vertrat zunächst die Meinung, man dürfe eine freie Meinungsäußerung nicht untersagen, revidierte aber auf Druck der russischen Regierung diese Äußerung. Der Athletin wurde untersagt, im WM-Finale mit entsprechend provokant lackierten Fingernägeln anzutreten. Green beugte sich diesem Urteil und absolvierte ihre weiteren Sprünge mit rot lackierten Fingernägeln.

Dieser Protest – und dessen Beilegung – kann als typisch für die gegenwärtigen Aktionsrepertoires im Sport gelten, denn er verdeutlicht, dass Sportler sich angesichts veränderter Medienstrukturen und einer verstärkten Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bei Fragen der Menschenrechte durchaus positionieren müssen – auch im Sinne des Protests.

Auf der anderen Seite erlauben die Sportverbände aber nur in einem sehr engen Rahmen die Artikulation dieses Protests, so dass hier nur ein schmaler Grat zwischen zulässiger freier Meinungsbekundung und dem Artikel 50.3 der IOC Charta besteht, in dem es heißt: „No kind of demonstration or political, religious or racial propaganda is permitted in any Olympic sites, venues or other areas.”

Berücksichtigt man, dass Sportgroßveranstaltungen auch künftig in den wirtschaftlich prosperierenden, demokratietheoretisch bisweilen aber schwierigen BRICS-Staaten ausgetragen werden, steht die Perspektive im Raum, dass dieses Spannungsverhältnis auch in absehbarer Zeit in den Stadien anzutreffen sein wird und die Sportler immer neue und kreative Formen der Protestbekundung entwickeln werden.

Sportverbände erlauben nur in einem sehr engen Rahmen die Artikulation des Protests.

In Deutschland hatte der ehemalige Profispieler Markus Babbel, der zu diesem Zeitpunkt noch keinen Trainerschein besaß und deswegen offiziell als Teamchef fungierte, im November 2008 als Nachfolger von Armin Veh, der mit dem VfB Stuttgart zuvor Meister geworden war, die Leitung der Schwaben übernommen und diese am Saisonende noch in die Champions League geführt. Der Saisonstart 2009/2010 wurde jedoch verpatzt: Sieben Mal hintereinander blieb der Verein ohne Sieg.

Nach einem 1:1 des VfB Stuttgart gegen den VfL Bochum am 5. Dezember 2009 kam es zu massiven Protesten von VfB-Anhängern, die als konfrontativer Protest eingeordnet werden können. Hierzu zählen Demonstrationen, die nicht angemeldet werden, Blockaden, Besetzungen sowie auch Formen der verbalen Gewalt und leichte Sachbeschädigung, so zum Beispiel durch den Wurf eines Farbbeutels. In Stuttgart hatten bereits vor der Partie gegen Bochum rund 100 eigene Anhänger ihren Unmut bekundet und den Mannschaftsbus mit einer Sitzblockade an der Fahrt ins Stadion gehindert. Nach dem Unentschieden eskalierte das Geschehen und ein Teil der VfB-Fans ließ seinen Ärger an Spielern und vor allem am Trainer aus. Rund 3.000, überwiegend jugendliche Fans belagerten regelrecht das Verwaltungsgebäude des Vereins, randalierten und steigerten sich in Beschimpfungen, die bis zur Drohung mit Totschlag reichten.

Die Verantwortlichen des VfB Stuttgart beugten sich letztlich dem Druck und entließen Markus Babbel einen Tag später, der eine Woche zuvor noch eine Jobgarantie vom Vorstand erhalten hatte. Besondere Aufmerksamkeit erhielten die Stuttgarter Auseinandersetzungen – die Ausdruck einer verstärkt auszumachenden Tendenz sind, über Sitzblockaden und Drohungen Einfluss auf die Vereinspolitik zu nehmen – auch vor dem Hintergrund des durch Depressionen ausgelösten Selbstmords des Nationaltorhüters Robert Enke im Monat zuvor.

Sowohl seitens der Verantwortlichen in Vereinen und Verband als auch seitens der Fans hatte man als Reaktion einen anderen Umgang miteinander beschworen. Diese Absicht war aber schon kurz darauf Makulatur; in den folgenden Jahren kam es immer wieder zu ähnlichen konfrontativ ausgerichteten Protestrepertoires, die jedoch nie derartige Dimensionen annahmen wie in anderen europäischen Ländern, wo etwa in Italien, in der Seria-A im April 2012, rund 70 Ultras in der zweiten Halbzeit der Partie zwischen CFC Genua und Siena mit Feuerwerkskörpern und Rauchbomben eine Spielunterbrechung für rund 45 Minuten herbeiführten, um gegen den 0:4 Zwischenstand zu protestieren. Die Ultras blockierten in der Folge den Zugang zum Spielertunnel; eine Fortsetzung der Partie war erst möglich, als fast alle Spieler von Genua der Forderung der Ultras nach einer Entledigung ihrer Trikots nachgekommen waren. Auch in diesem Fall wurde am nächsten Tag der Trainer entlassen.

 

74 Tote: Stadiongewalt in Ägypten

Wie eng und wie gefährlich bisweilen auch das Verhältnis von Sport und Politik ist, zeigte sich bei den Krawallen im Spitzenspiel der ägyptischen Fußballliga zwischen Al-Masry aus Port Said und dem Rivalen Al-Ahly aus Kairo am 1. Februar 2012, die für ein gewaltförmiges Protestrepertoire im Sport stehen.

Bereits im Vorfeld der Partie waren Teile des Spielfelds gestürmt worden und Schlägereien aufgetreten. Nach dem Abpfiff stürmten Fans der siegreichen Heimatmannschaft von AlMasry sowohl erneut den Platz als auch die gegnerische Tribüne und attackierten Spieler wie Fans des Gegners. Die gewaltbereiten Fans von Al-Masry gingen dabei mit erheblicher Brutalität vor und setzten Waffen ein, die zuvor weitgehend ungehindert ins Stadion gebracht werden konnten.

Unter den Fans von Al-Ahly gab es 74 Tote und auch unter den Spielern von Al-Ahly waren Verletzte auszumachen. Erklärt wird die Eskalation der Gewalt mit dem Umstand, dass von Al-Masry gezielt Schläger angeheuert wurden, während die Polizei dem Massaker weitgehend tatenlos zugesehen habe. Als Grund für deren Zurückhaltung wird das Argument angeführt, dass es sich um eine Vergeltungsaktion der Polizei gegen die Ultras und die Jugend von Al-Ahly gehandelt habe, die bei den vorangegangenen Protesten auf dem Tahrir-Platz in Kairo gegen den autoritären ägyptischen Staat und Präsident Hosni Mubarak eine zentrale Rolle gespielt hatten.

Gerade in politisch autoritär regierten Staaten [...] bietet er [der Fußball] ein Ventil für regimekritische Fans, ihren Protest, der in der Regel nur mittelbar sportbezogen ist, zu artikulieren.

Die Resonanz auf den Gewaltexzess in Ägypten war beträchtlich: Al-Masry wurde vom ägyptischen Fußballverband zwei Jahre lang für alle Spiele gesperrt, das Stadion in Port Said für drei Jahre mit einem Spielverbot belegt. Der Spielbetrieb der gesamten Liga in Ägypten wurde für ein Jahr ausgesetzt und darüber hinaus für mehrere Jahre ein Zuschauerverbot für Erstligaspiele festgelegt.

 

In der sich anschließenden gerichtlichen Auseinandersetzung wurden 21 zumeist jugendliche Straftäter zum Tode verurteilt. Die Urteilsverkündung führte in Port Said zu weiteren schweren Ausschreitungen, bei denen 32 Menschen ums Leben kamen und sich wochenlange Unruhen anschlossen.

Ende 2014 waren die Restriktionen gelockert worden, aber bereits im Februar 2015 kam es in Ägypten zu neuerlichen Fußball-Krawallen. Bei bislang nicht gänzlich geklärten Zusammenstößen in einem der wenigen für die Öffentlichkeit zugänglichen Spiele waren vor dem Stadioneingang in Kairo 25 vorwiegend jugendliche Fans des Hauptstadtvereins Zamalek, der in der ägyptischen Revolution ebenfalls ein wichtiger Akteur war, ums Leben gekommen.

Rauch steigt aus dem Ägyptischen Fußballverband auf, nachdem Demonstranten nach einem Gerichtsurteil in Kairo, Ägypten, am Samstag, 9. März 2013, Feuer gelegt haben.
Rauch steigt aus dem Ägyptischen Fußballverband auf, nachdem Demonstranten nach einem Gerichtsurteil in Kairo, Ägypten, am Samstag, 9. März 2013, Feuer gelegt haben, Foto: AP Photo / Amr Nabil via picture alliance

Auch wenn gewaltförmiger Protest im Sport eher eine Ausnahme darstellt und in der westlichen Welt seltener auftritt, so ist er doch im Fußball häufiger anzutreffen. Gerade in politisch autoritär regierten Staaten wird der Fußball häufig hochgradig politisch aufgeladen; zugleich bietet er ein Ventil für regimekritische Fans, ihren Protest, der in der Regel nur mittelbar sportbezogen ist, zu artikulieren.

Die hier knapp skizzierten Beispiele aus den letzten Jahren dokumentieren, wie allgegenwärtig und wie vielschichtig sich sportbezogener Protest mittlerweile darstellt. Angesichts der Aufmerksamkeit, die der Sport erzielt, ist nicht mit einer Trendwende zu rechnen – im Gegenteil: den Aktionsrepertoires und auch der Kreativität von Sportprotest scheinen kaum Grenzen gesetzt zu sein. Im Mittelpunkt stehen dabei die demonstrativen Formen des Protests. Demonstrativer Protest ist zumeist ohne größeren Aufwand und vergleichsweise spontan umzusetzen, so etwa geschehen als nach Emma Green auch weitere Sportler gegen die russische Homophobie protestierten und Xenija Ryschowa und Tatjana Firowa einander bei der Siegerehrung küssten, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen.

Demonstrativer Protest besitzt hohes symbolisches Potenzial, er ist gut sichtbar und die Medien können ihn gut vermitteln. Während die Protestrepertoires angesichts der Grenzen, die Verbände den Athleten und Spielern setzen, dabei eher im subtilen Bereich anzusiedeln sind, sind den Varianten keine Grenzen gesetzt. Das Abwenden von der Ehrentribüne oder ein verweigerter Handschlag ist – wie weiland bei César Luis Menotti gegenüber der Militärjunta nach dem Sieg Argentiniens bei der Weltmeisterschaft 1978 im eigenen Land – schon wiederholt erprobt worden und wird auch künftig in den Sportarenen zu finden sein; immer neue Varianten sind gefolgt und werden weiter folgen.

Demonstrativer Protest besitzt hohes symbolisches Potenzial, er ist gut sichtbar und die Medien können ihn gut vermitteln.

Ob es sich dabei um Protest handelt, der den Sport nur als Medium nutzt, oder ob es um direkt auf den Sport bezogenen Protest geht, ist dabei nachrangig. Sport wird immer eine politische Dimension haben und er wird auch immer eine Bühne für Protest bieten. Dies ist weder grundsätzlich zu verurteilen noch prinzipiell zu begrüßen. Solange der Protest nicht zu einer Schmierenkomödie verkommt und die Integrität des Sports in Frage stellt oder gar nachhaltig verletzt, sondern der Welt des Sports vielmehr ein Spiegel vorgehalten wird oder im Sinne eines Lehrstücks auf Fehlentwicklungen hingewiesen wird, werden Sport und Protest auch weiterhin in einem Atemzug genannt werden bzw. – um im Bild zu bleiben – dieselbe Bühne bespielen.

Über den Autor
Jürgen Mittag

Jürgen Mittag ist Professor für Sportpolitik an der Sporthochschule Köln und Leiter des Instituts für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung. Er ist seit 2011 JeanMonnet-Professor (um Lehre, Forschung und Reflexion zur europäischen Integration an Hochschulen zu fördern) und hat zahlreiche Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren absolviert, u.a. in Florenz (European University Institute), Brüssel (TEPSA), Paris (Sciences Po), Istanbul (Bosphorus University), Shanghai (SUS). Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind: Europäische Integration und politische Systeme in vergleichender Perspektive, Entwicklungslinien von Arbeit und Freizeit, Tourismusforschung, Sozialpolitik, politische Parteien, Gewerkschaften, Arbeiterbewegung, Verbände, Vereine und soziale Bewegungen, Demokratieforschung.

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.