Illustration: In den Farben der Ukraine gekleideter Mann steht vor einer Tür zur Europäischen Union.

Das Spiel der Ukraine mit Europa

Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch wollte eine Anbindung an die EU, weil er genug von der Abhängigkeit von Putin hatte. Das Volk aber will wirklich mehr Europa. Inwieweit kann der Westen mehr materielle und politische Hilfe anbieten?

Die Wege der Ukraine sind unergründlich. Bei der Orangenen Revolution im Jahr 2004 verhinderten die rebellierenden Ukrainer, dass ein Schützling eines korrupten Systems Präsident wurde. 2010 kam der russlandfreundliche Viktor Janukowitsch schließlich doch an die Macht – mit Losungen, die typisch für seine regional-politisch-finanzielle Gruppierung waren. Dazu gehörten bessere Wirtschaftsbeziehungen zu Russland und ein neuer Status der russischen Sprache gegenüber dem Ukrainischen.

Im Jahr 2013 schließlich führte Janukowitsch selbst Menschen mit Europa-Fahnen auf den Maidan, den Unabhängigkeitsplatz in Kiew. In einem Fernsehinterview teilte Janukowitsch mit, dass er zwar die Protestbewegungen, die inzwischen in der Ukraine „Maidane“ genannt werden, nicht möge, jedoch für den aktuellen Euromaidan durchaus Sympathie übrig habe.

Ehrlich gesagt zweifle ich nicht daran. Wenn er allein war, applaudierte Janukowitsch gewiss den Leuten, die seit Tagen auf dem Maidan ausharrten und für die Anbindung der Ukraine an die EU demonstrieren. Doch nur so lange, bis er einen Blick in seine Karten warf und sie mit den Karten in Putins Händen vergleicht. Ob uns das gefällt oder nicht: Es war Janukowitsch, der die Menschen auf den „Euromaidan“ führte, und er hatte einen Moment lang die Menschen nötiger denn je.

Menschen und Busse auf dem Maidan in Kiew 2014
Proteste auf dem Maidan in Kiew, 2014, Foto: pixabay

Alles begann damit, dass Janukowitsch einen neuen Kurs ankündigte: „Nach Europa“. Viele seiner Parteifreunde waren nicht froh darüber. Sie konnten nicht verstehen, wozu die Idee gut sein sollte. Doch der Präsident wusste es, dafür ist er auch der Präsident. Er war müde geworden von fruchtlosen Gesprächen mit seinem russischen Amtskollegen über die Senkung des Gaspreises um das drei- oder besser das vierfache. Er war müde von den öffentlichen Erniedrigungen durch Präsident Putin und von wiederkehrenden Gemeinheiten von russischen Fernsehmoderatoren. Janukowitsch wollte es allen heimzahlen. Richtig heimzahlen und Präsident Putin in eine Situation bringen, in der er selbst die letzten drei Jahre verharrt hat: eine Situation des sinnlosen Wartens. Das war der Grund, weshalb Präsident Janukowitsch plötzlich für alle – auch für die demokratische Opposition – unerwartet, die Augen leuchtend vor Begeisterung, mit der Hand die Lenin’sche Richtungsgeste tat und sprach: „Nach Europa, Genossen!“.

Russland wurde nervös

Das Verblüffende ist: Während die Regierungspartei im Schockzustand verharrte und ihren Führer zu verstehen versuchte, verstanden ihn die gewöhnlichen ukrainischen Wähler so, wie sie wollten – und reagierten begeistert. Sie fingen an, ihre Sachen zu packen für den Umzug in ein zivilisiertes Leben des Wohlstands und der Gesetzestreue.  

Russland wurde nervös. Das Land verzeiht bekanntlich niemandem irgendetwas. Und das erste Opfer an der russisch-ukrainischen Handelsfront wurde ukrainische Schokolade. Im Sommer verhängte Russland einen Importstopp auf ukrainische Pralinen. Alle Opfer werde ich nicht aufzählen, das hat Präsident Janukowitsch bereits getan, bei einem Treffen mit der Parlamentsfraktion seiner Partei. Er legte die Gründe für den Kurswechsel dar und schlug all jenen vor, denen diese Veränderungen nicht gefielen, die Partei und die Fraktion zu verlassen.  

Und so schoss die Ukraine los, mit Volldampf nach Europa. Und vielleicht hätte es das Land geschafft, wäre da nicht Janukowitschs alte Erzfeindin Julia Timoschenko, die im Gefängnis sitzt. Die Gespräche über ein Assoziierungsabkommen mit der EU drehten sich immer wieder um die Frage ihrer Freilassung oder ihrer medizinischen Behandlung in Deutschland. Diese Frage ließ Janukowitsch immer wieder Präsident Putin vergessen. Putin ist im Ausland, Timoschenko ist in der Ukraine. Sollte sie freikommen, würde der politische Kampf im Land mit neuer Kraft auflodern. Den Ausgang der Präsidentschaftswahl 2015 würde man dann ziemlich leicht vorhersagen können.

Die Macht der „Maidane“

Aber zurück zu den „Maidanen“, den Protesten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz. Der Hauptunterschied der diesjährigen Maidane zu den Maidanen im Jahr 2004 ist, dass die Mehrheit der Protestierenden die Oppositionspolitiker darum baten, nicht mit den Fahnen ihrer Parteien aufzukreuzen. Sogar die studentische Jugend, die sich in letzter Zeit aktiv an den Protesten beteiligte und Streiks an mehreren Universitäten angestoßen hatte, verkündete: Das Ziel des Protests sei, die Regierung dazu zu zwingen, den EU-Assoziierungsvertrag doch noch zu unterzeichnen.

Die Proteste richteten sich also nicht gegen die Regierung – sonst hätte ja die Opposition sie anführen müssen. Die Proteste waren ein Versuch, auf die Regierung Druck auszuüben. Und die Staatsmacht, verkörpert durch Janukowitsch, zuckte mit den Schultern und zeigte Putin mit den „Maidanen“, dass die Ukraine eine Wahl hat, in welche Richtung sie gehen will. Es sei denn, Russland stellt riesige Summen für die Lösung aller innerukrainischen Budgetprobleme zur Verfügung.

Der EU und der gesamten Welt konnte Janukowtisch nun zeigen, dass das Volk nach Europa will. Im Gegenzug bedeutet das: Der Westen muss die Forderungen an die Ukraine zurückschrauben und mehr materielle und politische Hilfe anbieten.

Mit diesen Überlegungen will ich nicht die Protestierenden erniedrigen oder die Bedeutung der „Euromaidan“ schmälern. Überhaupt nicht. Es ist so: Wieder einmal war eine typisch ukrainische paradoxe Situation entstanden, in der ein ehrlicher Impuls aus dem Volk von der Staatsmacht als ein Instrument im Dialog mit Russland missbraucht werden kann. Hätten die Gespräche mit Russland plötzlich Erfolg gehabt, wären die „Euromaidane“ ganz schnell in die Opposition umgemünzt.

Rückkehr zur parlamentarisch-präsidialen Republik?

Präsident Janukowitsch wurde aber abgesetzt und hat sich versteckt, nachdem er sich einige Male mit Oppositionsführern getroffen hatte. Ein Teil der Opposition forderte die sofortige Rückkehr zur Verfassung von 2004, die rechtswidrig vom Verfassungsgericht geändert wurde, um dem frisch gewählten Präsidenten Janukowitsch größtmögliche, praktisch diktatorische Vollmachten zu verleihen. Ein anderer Teil der Opposition – darunter Julia Timoschenko, die sich an die Parlamentarier mit einem kämpferischen Appell gewandt hatte – will keine Rückkehr zur parlamentarisch-präsidialen Republik, das heißt, dieser Teil will die Verfassung von 2004 nicht. Timoschenko möchte, dass der Präsident zu einem „konstitutionellen“ Diktator wird. Sie hofft, nicht nur aus dem Gefängniskrankenhaus herauszukommen, sondern auch Ukraines Präsidentin zu werden.

Wenn er allein war, applaudierte Janukowitsch gewiss den Leuten, die seit Tagen auf dem Maidan ausharrten und für die Anbindung der Ukraine an die EU demonstrieren.

Der Maidan war unterdessen aus einem romantischen in einen radikalen Zustand übergegangen. Es verging kein Tag ohne eine Provokation gegen die Demonstranten. Das Amnestiegesetz wurde zwar beschlossen, wurde aber nicht angewandt. Maidan-Aktivisten verschwanden nach wie vor. Die Autos von Automaidan-Unterstützern wurden weiterhin nachts angezündet. Die Anspannung blieb.

Es gab Gerüchte in der Stadt, dass 4.000 gut bewaffnete Militante sich in vier besetzten Gebäuden verschanzt hätten, und dass ihre Geduld bald am Ende sei. Und dass sie zuerst angreifen würden. Wen? Zuerst die Polizei, dann das Parlament und die Abgeordneten.

An dieser komplizierten Situation waren nicht nur die Politiker selbst schuld, sondern ihr Unvermögen, „koalitionär“ zu denken. Jegliche Gespräche zwischen der parlamentarischen Mehrheit und der Opposition werden im ukrainischen Parlament traditionell aus einer Position der Stärke herausgeführt, der Stärke der Mehrheit.

Erst wenn diese Verhandlungskultur endlich Geschichte ist, schafft es die Ukraine, aus jenem politischen Loch herauszukommen, das alle vier Präsidenten des Landes immer tiefer gegraben haben. Es wird ein langsamer und schwieriger Prozess.

Jenes Europa, das uns die Frage gestellt, was es denn für eine zivilisierte europäische Zukunft der Ukraine tun könne, muss wissen: die Zukunft der Ukraine ist ihre Jugend.

Der abgesetzte Präsident Janukowitsch hat dieses Loch natürlich am tiefsten gegraben, und ich glaube kaum, dass er in der Lage ist, seine Fehler einzugestehen. Mehr Hoffnung gibt es für die Oligarchen der alten Generation, die genau wissen, was ihnen blüht, sollte es zu einem politischen und wirtschaftlichen Kollaps des Landes kommen.

Junge Menschen in der Ukraine
Junge Menschen in der Ukraine, Foto: Yanny Mishchuk via Unsplash

Ist ein aufrichtiger Dialog möglich?

Jenes Europa, das uns die Frage gestellt, was es denn für eine zivilisierte europäische Zukunft der Ukraine tun könne, muss wissen: die Zukunft der Ukraine ist ihre Jugend. Gespräche mit den aktuellen Machthabern sind ein wenig produktiver Prozess. Der Dialog kann nicht aufrichtig sein. Die Staatsmacht in der Ukraine wird heute von Politikern vertreten, die sich mehr um die eigene Zukunft kümmern als um die Zukunft des Landes. Deswegen muss man den Studenten Aufmerksamkeit schenken – und der Offenheit Europas für gebildete und aktive ukrainische Staatsbürger.

Es liegt auf der Hand, dass die Abschaffung der Visumspflicht für Reisen in die EU ein schwieriger und langwieriger Prozess ist. Aber vielleicht könnte Europa zumindest Reisen von Studenten oder gar allen jungen Ukrainern erleichtern. Die Visumserleichterung könnte dann bis zu einer Altersobergrenze greifen. Europa darf auch diejenigen nicht vergessen, die heute an der Macht sind und undemokratisch handeln. Für diese Menschen, das meinen viele Ukrainer, soll der Weg nach Europa versperrt sein.

Man schreibt oft, Demokratie sei keine Einbahnstraße. Ich will mich diesem Urteil anschließen und mehr europäische Lehrkräfte an ukrainischen Universitäten sehen – und mehr junge Ukrainer an europäischen Hochschulen.

Über den Autor
Portrait von Andrej Kurkow
Andrej Kurkow
Schriftsteller

Andrej Kurkow wurde 1961 in St. Petersburg geboren, lebt seit seiner Kindheit in Kiew und schreibt in russischer Sprache. Er studierte Fremdsprachen (er spricht insgesamt elf Sprachen), war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach wurde er Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher. Sein Roman „Picknick auf dem Eis“ ist ein Welterfolg. Dieser Text entstand mit Vermittlung des Netzwerks für Osteuropaberichterstattung „N-Ost“. 

Bücher (Auswahl):

  • Tagebuch einer Invasion: Aufzeichnungen aus der Ukraine. Haymon, Innsbruck 2022
  • Samson und Nadjeschda. Roman. Diogenes, Zürich 2022 
  • Kartografie der Freiheit. Haymon, Innsbruc, 2018
  • Ukrainisches Tagebuch: Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests. Haymon, Innsbruck 2014

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.