Kartikatur: Eine Hand schließt sich schützend um ein Mädchen, während Meteoroiden auf die Erde fallen.

"Das Ziel ist immer ein Gewaltverzicht"

Schätzungen zufolge gibt es mehr als 50 extremistische Gruppierungen weltweit. Welche Rolle kann die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik (AKBP) zur Prävention von gewaltbereitem und gewalttätigem Extremismus spielen? Asiem El Difraoui über das Potenzial der AKBP in der Extremismusprävention. 

Das Interview führte Juliane Pfordte

ifa (Institut für Auslandsbeziehungen): Herr El Difraoui, für das ifa-Forschungsprogramm „Kultur und Außenpolitik“ untersuchen Sie das Potenzial Auswärtiger Kultur- und Bildungspolitik (AKBP) zur Prävention von gewaltbereitem und gewalttätigem Extremismus. Worin liegt die Stärke von Auswärtiger Kultur- und Bildungspolitik im Bereich Extremismusprävention?

Asiem El Difraoui: AKBP kann Sicherheitspolitik und Entwicklungshilfe sicher nicht ersetzen, aber sie kann und muss sie ergänzen! Kultur- und Bildungspolitik ist in bestimmten Ländern die einzige Möglichkeit, Menschen überhaupt noch zu erreichen. Kultur und Bildung können die Widerstandsfähigkeit gegenüber extremistischen Ideologien fördern, indem sie soziale Netzwerke aufbauen, kritisches Denken fördern und Resilienz stärken. Resiliente Menschen und Gesellschaften finden Halt in persönlichen und sozialen Ressourcen und sind dadurch weniger anfällig für vereinfachende, extremistische Ideologien, die oftmals auf einfachen Schwarz-Weiß-Erklärungsmodellen beruhen.

In bestimmten Ländern, beispielsweise im Senegal, können durch die Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft Arbeitsplätze geschaffen werden. In anderen Regionen wiederum ist es wichtig, Kulturangebote überhaupt zu schaffen, zum Beispiel dort, wo salafistische Moscheen das einzige Unterhaltungsangebot sind. Vor allem die deutsche AKBP hat den Vorteil, dass sie nicht mit neokolonialen Großmächten wie Frankreich in Mali in Verbindung gebracht wird.

Schätzungen zufolge gibt es mehr als 50 „offizielle” Gruppierungen weltweit, und kein Kontinent bleibt davon verschont. 

Welche Länder stehen im Fokus Ihrer Studie – und warum?

El Difraoui: Ich möchte vorwegnehmen, dass Projekte der AKBP durchzuführen und zu bewerten eine extrem schwierige Aufgabe ist. Noch schwieriger sind die Projekte zu bewerten, die wir uns hier ansgeschaut haben, nämlich in Afghanistan, der MENA-Region: Tunesien, Agypten, Syrien, der Irak, und im Sahel. Sehr viele der Länder sind „gescheiterte Staaten” und gehören zu den ärmsten der Welt. Besonders dort stoßen extremistische Gruppen in ein Machtvakuum und verstehen es, soziale Missstände und Ausgrenzungserfahrungen, vor allem die der Jugend, zu instrumentalisieren.

Von welchen extremistischen Gruppierungen geht derzeit die größte Gefahr aus?

El Difraoui: Die größte extremistische Bedrohung ist der sunnitische Dschihadismus, der weitaus mehr Organisationen umfasst als den sogenannten Islamische Staat, Al-Qaida und die Taliban. Schätzungen zufolge gibt es mehr als 50 „offizielle” Gruppierungen weltweit, und kein Kontinent bleibt davon verschont. Im Sahel hat sich diese Ideologie zuletzt so stark ausgebreitet wie nirgendwo sonst. Aber auch von Extremismen entlang weiterer ethnischer, ideologischer und religiöser Konfliktlinien geht eine Gefahr aus, zum Beispiel von schiitischen, alawitischen und christlichen Milizen.

Für die Studie haben Sie verschiedene Präventionsmaßnahmen untersucht, die sich in der Extremismusprävention bewährt haben. Anhand welcher Kriterien haben Sie diese analysiert? Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

El Difraoui: Wir haben ein eigenes Modell erarbeitet, das die Projekte nach folgenden Kriterien untersucht: Zielgruppenidentifikation, Zugang zur Zielgruppe, Zieldefinition, Wirkmechanismus und Nutzen für die Zielgruppe, Resultate, Nachhaltigkeit und Evaluation. 

Beispielsweise sind Maßnahmen für Jugendliche wichtig, da sie in den meisten untersuchten Ländern die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen und vor allem sie sich oft vernachlässigt fühlen und damit potenziell gefährdet sind. Ein wichtiges Kriterium ist der direkte Nutzen für die Menschen vor Ort. Projekte der AKBP sollten auch ohne externe materielle Unterstützung fortgeführt werden können, zum Beispiel durch „Train the Trainer“. Aufgrund der schwierigen Sicherheitslage lassen sich Maßnahmen in den untersuchten Ländern oft ausschließlich auf der Makro- und Mesoebene umsetzen, also für die Gesamtgesellschaft und vulnerable Gruppen.

Hier bietet der Bildungsbereich die meisten Möglichkeiten für eine Unterstützung durch die Auswärtige Kulturpolitik, beispielsweise durch den Aufbau von Online-Büchereien. Großes Potenzial haben auch hybride Maßnahmen wie Medieninitiativen, die die lokale Bevölkerung persönlich mit einbeziehen.

Illustration: Eine kleine blaue Gestalt rennt zwischen langen Beinen.
Maßnahmen für Jugendliche vor Ort sind wichtig, da vor allem sie sich oft vernachlässigt fühlen und damit potenziell gefährdet sind, Foto: CDD20: pixabay

Können Sie das an einem Beispiel erklären?

El Difraoui: Im Sahel gibt es eine wichtige Initiative für die lange Zeit vernachlässigte Gruppe der Fulbe, ein Nomadenvolk von ungefähr 40 Millionen Menschen, überwiegend Muslime, die in mehreren Ländern der Sahelzone leben. Aufgrund von Ressourcenkonflikten mit sesshaften Bauern anderer Religionen und Ethnien haben sie sich zunehmend verschiedenen dschihadistischen Gruppen angeschlossen. 2019 startete der französische Auslandssender Radio France International (RFI) zwei Sendungen für Jugendliche auf Fulani.

Großes Potenzial haben auch hybride Maßnahmen wie Medieninitiativen, die die lokale Bevölkerung persönlich mit einbeziehen.

Bis dahin hatte es keinen Radiosender in ihrer Sprache gegeben, es war ein Vakuum für sektiererische und gefährliche Desinformationen entstanden. Die Programme wurden über FM u. a. in Burkina Faso, Mali und dem Senegal ausgestrahlt und kombinierten Bildungseinheiten mit Livesessions. Jugendliche konnten eigene Themen einbringen, zum Beispiel die hohe Arbeitslosigkeit und illegale Migration. Während der Erstausstrahlung riefen mehr als tausend Hörerinnen und Hörer an, was zeigt, wie hoch der Bedarf ist. Von solchen Projekten gibt es leider viel zu wenige.

Was ist die größte Schwierigkeit bei der Umsetzung der genannten Präventionsmaßnahmen?

El Difraoui: Mitunter ist es notwendig, mit extremistischen Gruppen zu verhandeln oder mindestens ein Arbeitsverhältnis herzustellen, mit Menschen also, deren Werte wir nicht teilen. Es gibt aber erfolgreiche Beispiele, die zeigen, dass es sinnvoll sein kann. 2019 ist es dem Staat in Mali gelungen, mit einer Dschihadistengruppe die Wiedereröffnung von staatlichen Schulen zu vereinbaren. Im Gegenzug finanzierte die Regionalverwaltung Entwicklungsprojekte und Lehrerstellen in den von den Dschihadisten gemanagten Koranschulen. Man muss eine gewisse Form von Minimalkonsens finden, Ziel ist immer ein Gewaltverzicht.

Sehen Sie auch Schwächen?

El Difraoui: Alle diskutierten Projekte haben große Stärken, aber auch Schwächen. Noch immer gibt es nicht genug Projekte für Frauen, deren Rolle im Extremismus und bei seiner Bekämpfung lange unterschätzt wurde. Das ändert sich allmählich. Gerade Frauen in den „Dschidhad-Akademien“, das heißt in den IS-Camps in Syrien und Irak, brauchen Unterstützung. Genau wie die Afghaninnen unter den Taliban. Ein großer Schwachpunkt vieler Projekte ist, dass keine unabhänigige Evaluation von Anfang an mitgedacht wird. Zudem werden zu wenige hybride Projekte konzipiert. Und vor allem brauchen wir mehr Mut, um Schubladendenken zu vermeiden und ständig neue kreative Ansätze auszuloten.

Über den Autor
Portrait von Asiem El Difraoui
Asiem El Difraoui
Politikwissenschaftler, Wirtschaftswissenschaftler, Dokumentarfilmregisseur und -produzent

Dr. Asiem El Difraoui ist Politologe und Buch- und Dokumentarfilmautor. Seine Spezialgebiete sind unter anderem Präventions- und Deradikalisierungsthematiken. 2019 war er Leiter eines Projektes für das BAMF zur Entwicklung eines Qualifizierungslehrgangs und eines Sachbuchs zur Ausstiegsarbeit aus dem islamischen Extremismus. 2021 erschien sein Buch „Die Hydra des Dschihadismus“ bei Suhrkamp. Er ist Mitgründer der CANDID Foundation in Berlin und Mitherausgeber des Magazins Zenith.

Forschungsprogramme

Im Forschungsprogramm "Kultur und Außenpolitik" und der Programmlinie "Forschung" der Martin Roth-Initiative untersuchen Expert:innen aktuelle Fragestellungen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Die Forschungsprogramme setzen Themen und erarbeiten Empfehlungen, um die internationalen Kulturbeziehungen zu stärken und weiterzuentwickeln. Begleitet werden die Forschungsaufträge durch Konferenzen und Workshops. Die Forschungsergebnisse werden in der ifa-Edition Kultur und Außenpolitik, als ifa-Input oder als Policy Brief veröffentlicht.
Weitere Informationen auf der Website des ifa.