An einer Wand mit Graffitis und Flugblätter ist ein abgerissenes Bild von Erdogan zu sehen. Nebendran steht eine lachende Figur.
Der Wandel der Witzfigur zum Autokraten

Der Begriff "Populismus", so die türkische Autorin Ece Temelkuran, verschleiert die rechten ideologischen Inhalte der betreffenden Bewegungen und umgeht die beunruhigende Frage nach der dubiosen Sehnsucht des Ich, zu einem Wir zu verschmelzen. "Populismus" zeichne ein Porträt der Verrückten, die als Zerrbilder charismatischer Führerfiguren die Massen mobilisieren.

Selbst wenn Trump verschwinden oder Erdoğan morgen gestürzt würden oder Nigel Farage nie zum Meinungsführer aufgestiegen wäre, gäbe es die Millionen aufgehetzter Menschen weiterhin, und sie wären auch weiterhin bereit, den Befehlen ähnlicher Gestalten Folge zu leisten. Wir Türken haben die schreckliche Erfahrung gemacht, dass man den Anhängern solcher Leute auch im Privatleben nicht einmal dann entkommt, wenn man sich bewusst aus allem Politischen heraushält.

Mit ihren eigenen Werten bewaffnet warten sie nur darauf, jeden zur Strecke zu bringen, der anders ist als sie. Man sollte besser früher als später akzeptieren, dass es sich dabei nicht nur um etwas handelt, was der Gesellschaft von den oft absurd anmutenden politischen Führerfiguren oder den digitalen Geheimoperationen des Kremls aufgezwungen wird, sondern dass das Ganze auch aus der Basis erwächst und sich die derzeitige Malaise nicht auf die Führungsetagen der Macht in Washington oder Westminster beschränken wird. Die haarsträubenden moralischen Vorstellungen der hohen Politik sickern bis ins kleinste Dorf und sogar bis in die bewachten Wohnsiedlungen hinein. So entsteht ein neuer Zeitgeist, ein historischer Trend, der die Banalität des Bösen in das Böse der Banalität verwandelt. Mag das Phänomen in jedem Land eine andere Gestalt annehmen – seine Auswirkungen betreffen uns alle.

Hier handelt es sich nicht um etwas, was der Gesellschaft von den oft absurd anmutenden politischen Führerfiguren oder den digitalen Geheimoperationen des Kremls aufgezwungen wird, sondern dass das Ganze auch aus der Basis erwächst.

Wie können wir Ihnen helfen?" Die Frau im Publikum faltet emphatisch die Hände, während sie mir die Frage stellt. Ihre ratlose Miene signalisiert eine Mischung aus Mitleid und echter Sorge. Nur zwei Monate nach dem fehlgeschlagenen Putsch sitze ich im September 2016 anlässlich einer Lesung aus meinem Buch "Euphorie und Wehmut – Die Türkei auf der Suche nach sich selbst" in London auf einem hell erleuchteten Podium und versuche insgeheim herauszufinden, was alles in der Frage steckt. Offensichtlich bin ich in den Augen dieser Frau ein bedürftiges Opfer, und offensichtlich hat sie großes Vertrauen in die Immunität ihres Landes gegen die politische Misere, die mein Land ruiniert hat.

Vor allem aber ist sie trotz des Brexit-Votums fest davon überzeugt, Großbritannien könnte noch immer irgendwem helfen. Ihre fehlende Einsicht in die Tatsache, dass wir alle im gleichen politischen Irrsinn versinken, provoziert mich. Erst nach mehreren Sekunden gelingt es mir, alle diese Gedanken in eine nicht übermäßig aggressive Antwort zu packen. "Jetzt fühle ich mich wie ein Pandababy, das auf einen Internetpaten wartet."

Weil zu diesem Zeitpunkt noch viele glauben, Donald Trump könne die Präsidentenwahl unmöglich gewinnen, weil so mancher noch allen Ernstes hofft, das Brexit-Referendum werde schon nicht zu einem tatsächlichen EU-Austritt führen, und weil die Mehrheit der Europäer die neuen Wortführer des Hasses als eine vorübergehende Erscheinung betrachtet, entlockt mein zynischer Scherz den Zuschauern nicht einmal ein Lächeln. Nachdem der Rubikon überschritten ist, wage ich mich noch ein Stück weiter vor und sage: "Ob Sie es glauben oder nicht – das, was in der Türkei passiert ist, blüht Ihnen erst noch. Dieser politische Irrsinn ist ein globales Phänomen. Und deshalb gebe ich die Frage an Sie zurück: Wie kann ich Ihnen helfen?"

 

Krankheit der menschlichen Seele

An einer mit Rost versehenen Wand klebt ein Sticker mit der Aufschrift "Democrazy". Nebendran ist ein großer Blitz abgebildet.
Die Verwandlung des Populisten-Führers von einer Witzfigur in einen Autokraten vollzieht sich in Schritten, mit denen er die gesamte Gesellschaft seines Landes von Grund auf korrumpiert, Foto: Marija Zaric via unsplash

Damals beschloss ich, die politischen und sozialen Ähnlichkeiten diverser Länder zusammenzufassen, um das allen gemeinsame Muster des erstarkenden Rechtspopulismus sichtbar zu machen, und zwar mit Hilfe von Geschichten. Denn durch Geschichten lassen sich meiner Ansicht nach nicht nur menschliche Erfahrungen am besten vermitteln, sondern auch Krankheiten der menschlichen Seele am besten bekämpfen.

Die Verwandlung des Populisten-Führers von einer Witzfigur in einen furchteinflößenden Autokraten vollzieht sich meiner Erkenntnis nach in Schritten, mit denen er die gesamte Gesellschaft seines Landes von Grund auf korrumpiert. Diese Schritte sind für jeden Möchtegern-Diktator leicht durchzuführen und werden aus diesem Grund von den Andersdenkenden ebenso leicht übersehen, wenn sie die Anzeichen nicht zu erkennen lernen.

Die Beschäftigung mit den spezifischen Umständen der einzelnen Länder würde mehr Zeit erfordern, als wir uns leisten können; es gilt ein auf alle zutreffendes Muster zu beschreiben und herauszufinden, wie es gemeinsam zu durchbrechen wäre. Das gelingt nur, indem man die Erfahrungen der Länder, die dem Irrsinn bereits ausgesetzt sind, mit den Erfahrungen westlicher Länder verbindet, die ihm derzeit noch widerstehen. Jetzt ist Zusammenarbeit gefragt – und damit ein weltumspannendes Gespräch.

Es ist Mai 2017. Erst in London, dann in Warschau spreche ich über mein Buch "Euphorie und Wehmut" und berichte einer sehr heterogenen Zuhörerschaft, wie das wahre Volk von meinem Land Besitz ergriffen und den Rest, das angeblich nicht wahre Volk, in den politischen und sozialen Würgegriff genommen hat. Die Leute nicken besorgt und immer lautet ihre erste Frage: "Woher kommt eigentlich dieses wahre Volk?"

 

Ressentiments der Provinz auf der Weltbühne

Sie kennen den Begriff, weil das politisierte und mobilisierte Ressentiment der Provinz seinen großen Auftritt auf der Weltbühne in unterschiedlichen Ländern mit der im Grunde immer gleichen Behauptung eingeläutet hat: "Wir sind eine Bewegung, eine neue Bewegung des wahren Volkes jenseits von und über allen politischen Lagern." Jetzt möchten viele wissen, wer dieses wahre Volk ist und warum es diese Bewegung in die hohe Politik geschafft hat.

Sie sprechen darüber wie von einer Naturkatastrophe, die ja auch erst nach ihrem plötzlichen Ausbruch berechenbar wird. Damit erinnern sie mich an die Leute, die sich jeden Sommer aufs Neue über die Hitzewelle in Skandinavien wundern und erst dann wieder an die im Winter zuvor gelesenen Berichte über den Klimawandel denken. Ich erkläre ihnen, dass uns dieses "neue" Phänomen schon seit geraumer Zeit begleitet.

Im Juli 2017 brach ein gigantischer Eisbrocken von der Antarktis ab. Tagelang zeigten die Nachrichtensender das träge dahintreibende schneeweiße Ungetüm, majestätisches Flaggschiff unseres Zeitalters, das uns in seiner knarzenden Eissprache aus den Bildschirmen der Welt entgegenraunte: "Die Zeit der Spaltung ist gekommen. Alles Festgefügte bricht weg, alles zerfällt."

Sie sprechen darüber wie von einer Naturkatastrophe, die ja auch erst nach ihrem plötzlichen Ausbruch berechenbar wird.

Die Geschichte unserer Gegenwart wurde damals nicht von einem Gespenst, sondern von einem massiven Monstrum erzählt, und sie handelte davon, dass auf dem gesamten Planeten vom Größten bis zum Kleinsten nichts so bleiben würde, wie es war. Die Vereinten Nationen, diese riesige machtlose Institution zur Erhaltung des Weltfriedens, bröckelten bereits, und die kleinste Einheit, die menschliche Seele, durchläuft einen beispiellosen Zersetzungsprozess.

Ein und dieselbe Sekunde birgt ganze Jahrhunderte in sich: Die wenigen Reichen schaffen sich unverseuchte Lebensräume, um ihr Dasein zu verlängern, während gleichzeitig im Jemen zehntausende Kinder an Cholera sterben, einer Krankheit aus der Zeit vor dem 20. Jahrhundert.

 

Leise schrie der Eisberg

Leise schrie der Eisberg: "Die Mitte hält nicht stand." Die an den unterschiedlichsten Orten entstandenen fortschrittlichen Bewegungen – von den Protesten anlässlich der WTO-Konferenz in Seattle 1999 bis hin zu den Unruhen auf dem Tahrir-Platz in Kairo 2011 – waren eine Reaktion auf die gegenwärtige Zeit der Zersplitterung. In einer Welt, in der immer mehr Menschen reden, aber immer weniger gehört werden, wollten sie der restlichen Menschheit mit körperlichem Einsatz beweisen, dass wir uns ungeachtet aller Differenzen zusammenschließen können und müssen, um dem Zerfallsprozess gemeinsam entgegenzutreten und zu verhindern, dass alles auseinanderbricht.

Sie klagten Würde und Gerechtigkeit ein und forderten die Welt auf, sich bewusst zu machen, dass der globale Lauf der Dinge nur durch eine Gegenbewegung umgekehrt werden kann. Sie zeigten, dass Rückzug nicht die einzige mögliche Reaktion auf den globalen Hoffnungsverlust ist.

Trump als Joker an einer Hauswand, der der Freiheitsstatue an die Nase langt.
Trump kannte eine einfache Wahrheit über den Menschen, die von den meisten ignoriert wird: Der Durchschnittsmensch braucht auch heute noch einen Hirten, der ihn zur Größe führt, Foto: Rod Long via unsplash

Angesichts der Spaltungstendenzen schufen sie neue, mutmachende Modelle eines zeitlich begrenzten, losen Zusammenschlusses von Menschen auf öffentlichen Plätzen nach dem Motto "Vereint halten wir die Mitte!"

Nach und nach wurden jedoch viele dieser Bewegungen niedergeschlagen, marginalisiert oder vom bestehenden politischen System geschluckt und konnten ihre Ziele aus diversen, durchaus verständlichen Gründen nicht erreichen – noch nicht. Doch immerhin wurden sie deutlich gehört, als sie der Welt verkündeten, dass sich die repräsentative Demokratie (von den Finanzinstitutionen missbraucht und sozialer Gerechtigkeit beraubt) in ihrer größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg befinde.

Heute erleben wir die Reaktion vieler ganz anderer Menschen auf ganz ähnliche Ängste. Diese Menschen haben einen begrenzteren Wortschatz, kleinere Träume für die Welt und weniger Zutrauen in das gemeinsame Überleben aller. Auch sie behaupten, den Status quo verändern zu wollen – allerdings in Richtung einer Welt, in der sie zu den wenigen Glücklichen gehören werden, die sich unter der Führung eines starken Mannes behaupten. Nicht zufällig ist "Mauer", ob im wörtlichen oder übertragenen Sinn, zum Schlagwort erstarkender rechtspopulistischer Bewegungen geworden. "Ja, die Welt spaltet sich", heißt es, "und wir, das Volk, werden uns einen Platz auf der Sonnenseite der Trennmauer verschaffen."

Sie behaupten, den Status quo verändern zu wollen – allerdings in Richtung einer Welt, in der sie zu den wenigen Glücklichen gehören werden, die sich unter der Führung eines starken Mannes behaupten.

Es geht ihnen nicht darum, danebenzustehen und zuzusehen, wie Babys im Mittelmeer sterben, sondern sie selbst wollen nicht ebenfalls sterben. Der Schrei, der aus der Provinz in die Großstädte hallt, ist der Hilferuf von Menschen, die aus Angst, im stetig ansteigenden Meer des Zerfalls zu ertrinken, ihr Interesse am Überleben anderer hintanstellen und sich lieber rücksichtslos bewegen.

Im Gegensatz zu politischen Parteien, die innerhalb der Wirklichkeit agieren und das Spiel spielen, ohne sich zu bewegen, verheißen politische Bewegungen immer eine Veränderung vom Realen zum Möglichen. In Ländern von der Türkei bis zu den USA, darunter hoch entwickelte Staaten mit scheinbar starken demokratischen Institutionen wie Frankreich, Großbritannien und Deutschland, scharen sich Menschen hinter dreisten, skrupellosen Populisten, um sich gemeinsam zu bewegen und die von ihnen als Establishment bezeichnete Wirklichkeit, also das Spiel selbst, anzugreifen, das sie als dysfunktional und korrupt empfinden. Die Volksbewegung verkörpert den neuen Zeitgeist; sie verspricht, den mit Brackwasser gefüllten Sumpf auszutrocknen, zu dem die Politik angeblich verkommen ist, und den Menschen auf diese Weise ihre Würde zurückzugeben.

In Ländern von der Türkei bis zu den USA, darunter hoch entwickelte Staaten mit scheinbar starken demokratischen Institutionen wie Frankreich, Großbritannien und Deutschland, scharen sich Menschen hinter dreisten, skrupellosen Populisten.

Mit anderen Worten: Les invisibles, die Massen, denen lange unterstellt wurde, sie interessierten sich nicht für Politik und Weltgeschehen, entziehen dem derzeitigen repräsentativen System weltweit ihr vermeintliches Einverständnis. Und das klingt so, als würde ein Eisbrocken von der Antarktis abbrechen. Weil das fragile Ich natürlich überfordert ist, wenn es den Lauf der Ereignisse ändern soll, erlebt das Wir ein Comeback in Politik und Ethik.

Dieses Comeback ist der Kern des globalen Phänomens, das wir gerade erleben. Das Wir will das Festland der politischen Sprache verlassen, will sie demontieren und eine neue Sprache für das Volk erschaffen. Wer wissen möchte, wer das Volk ist, muss nach dem Wir fragen. Warum will ich nicht mehr ich, sondern nur noch wir sein?

Schon in seinem Erstlingswerk „So werden Sie erfolgreich“ erwähnt Donald Trump die "wahrheitsgemäße Übertreibung", die ihn später ins Weiße Haus bringen sollte. Bestimmt war er stolz darauf, gezeigt zu haben, dass man amerikanischer Präsident werden kann, ohne ein einziges anderes Buch als das eigene gelesen zu haben. Trump kannte eben eine einfache Wahrheit über den Menschen, die von den meisten ignoriert wird: Trotz des seit Jahrzehnten gepriesenen Individualismus braucht der Durchschnittsmensch auch heute noch einen Hirten, der ihn zur Größe führt. Trump wusste, wie demütigend und enttäuschend das Gefühl ist, nur Mittelmaß zu sein in einer Welt, in der man angeblich sein kann, was immer man sein will.

 

Zerreißen imaginärer Ketten

Außerdem war ihm klar, dass der Aufruf zum Zerreißen der imaginären Ketten, die das Volk angeblich am Erreichen seiner wahren Größe hindern, bei seinen Unterstützern in jedem Fall Anklang finden würde, ganz egal, wie absurd er sich für die anhören mochte, die tatsächlich werden können, was sie wollen. "Es liegt nicht an euch", erklärte er. "Sie hindern uns daran, groß zu sein." Er gab den Leuten ein ordentliches Hassobjekt, und sie gaben ihm ihre Stimmen.

Und sobald er im Namen des Wir sprach – was im Lauf der Geschichte schon oft geschah – , war man bereit, sich für ihn aufzuopfern. Die Amerikaner wissen ja, dass sich mit den Worten "Wir, das Volk", wie sie in ihrer Verfassung stehen, ein neues Land aufbauen und ganze Imperien in die Knie zwingen lassen. Und nicht einmal die auf ihre Gefühlsarmut so stolzen Briten sind immun gegen den Reiz des Wir.

"Wir haben gegen die multinationalen Konzerne, die großen Handelsbanken, die große Politik, haben gegen Lügen, Korruption und Betrug gekämpft … [Dies ist] ein Sieg des Volkes, ein Sieg der ganz normalen Leute, ein Sieg der Anständigen."

Das Zitat klingt zwar wie ein Ausschnitt aus der Antrittsrede, die Salvador Allende, der marxistische Präsident Chiles, nach seinem Wahlsieg 1970 hielt, stammt jedoch von Nigel Farage, dem früheren UKIP-Vorsitzenden (UK Independence Party, dt. Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs), und, nebenbei bemerkt, selbst ehemaligen Banker, der diese Worte im Juni 2016 nach dem Brexit-Referendum äußerte und dabei ebenfalls den uralten Trick anwendete, in "Volkes" Namen zu sprechen. Allerdings fragten sich am selben Tag viele weltoffene Londoner, die Farage aus seinem flammenden Narrativ stillschweigend ausgeschlossen hatte, wer denn dieses Volk sei und warum es einen solchen Groll gegen die Großstädte und die Gebildeten hege.

 

Als Graffiti an der Wand: Boris Johnson und seine "Brexiters".
Nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs rechnete kaum jemand damit, dass es die Massen je wieder danach gelüsten würde, zu einer Einheit zu verschmelzen, Foto: Samuel Regan-Asante via unsplash

Die Älteren unter ihnen hörten da bereits ein erstes Echo aus früheren Jahrzehnten. Nach der fürchterlichen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs rechnete kaum noch jemand damit, dass es die Massen je wieder danach gelüsten würde, zu einer Einheit zu verschmelzen. Nur allzu gern glaubte man, mit der Freiheit zu kaufen, zu lieben und zu glauben, wen oder was man will, wären sie vollauf zufrieden.

Mehr als ein halbes Jahrhundert lang wurde das Wort Ich sowohl von der dauergrinsenden Marktwirtschaft und ihren Anhängern als auch vom herrschenden politischen Diskurs und der Mainstreamkultur propagiert. Jetzt aber ist das Wir zurückgekehrt, der eigentliche Kern der Bewegung, der ihr den revolutionären Anstrich verleiht, und auf dieses plötzliche Wiedererwachen waren viele nicht vorbereitet.

Die Stimme des Wir erhob sich so unerwartet und laut, dass besorgte Kritiker nur mit Mühe zeitgemäße politische Begriffe fanden, mit denen sich das Phänomen beschreiben oder bekämpfen lässt.

 

Retrolust an der Totalität

Hektisch sammelte der kritische Mainstream historische Munition, die jedoch ungünstigerweise größtenteils aus der Nazizeit stammte. "Faschismus" klang überholt und sogar kindisch, und "Autoritarismus" oder "Totalitarismus" waren zu mausgrau für dieses Technicolormonster in einer neoliberalen Welt. Dafür wurden in den letzten Jahren hastig Selbsthilfebücher mit Orwell-Zitaten verfasst, und Hannah Arendts Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" steht nach 68-jähriger Pause plötzlich wieder auf den Bestsellerlisten. Der hip klingende Name, den die Mainstreamintelligenz der Retrolust an der Totalität schließlich verpasste, lautet "Populismus".

Der Begriff "Populismus" passt gut zur heutigen Zeit. Er verschleiert die rechten ideologischen Inhalte der betreffenden Bewegungen und umgeht zugleich die beunruhigende Frage nach der dubiosen Sehnsucht des Ich, zu einem Wir zu verschmelzen, zeichnet ein meisterhaftes Porträt der Verrückten, die als Zerrbilder charismatischer Führerfiguren die Massen mobilisieren, und disqualifiziert die Massen selbstbewusst als getäuschte, ungebildete Menschen.

Außerdem ignoriert er die Vorgeschichte, die verraten könnte, wie es zu dem Schlamassel kam. Ganz zu schweigen von dem Problem, dass sich die Populisten selbst nicht als solche bezeichnen. In einer angeblich postideologischen Welt erheben sie den Anspruch, jenseits von Politik und über allen politischen Institutionen zu stehen. Auch die politische Theorie ist für den neuen Kampf noch nicht gerüstet.

 

Seltsame Frucht

Eine Schwierigkeit besteht darin, dass die Kritiker des Phänomens im "Populismus" die seltsame Frucht der aktuellen demokratischen Praxis erkannten. Bei näherer Betrachtung stellte sich nämlich schnell heraus, dass diese Wunde nicht urplötzlich am Staatskörper aufgetaucht war, sondern dass es sich dabei um das mutierte Kind einer verkrüppelten repräsentativen Demokratie handelte. Obendrein entstand dank rechter Spindoctors ein neues ontologisches Problem.

Akademiker, Journalisten und Bildungsbürger fanden sich im Lager der Feinde des Volkes und als Teil des korrupten Establishments wieder und erlebten, dass ihre Kritik an diesem politischen Phänomen und sogar ihre sorgsam formulierten Kommentare darüber vom Volk und den Strategen der Bewegung als repressiv bezeichnet wurden. Der Umgang mit ihrem neuen Status als "repressive Elite", wenn nicht gar als "Faschisten", fiel ihnen schwer – hatte doch mancher von ihnen sein Leben der Emanzipation eben dieser Menschen gewidmet, die jetzt nur mehr Verachtung für sie empfanden. Zu ihnen zählte auch meine Großmutter.

"Bezeichnen die mich jetzt als Faschistin, Ece?" Das fragte mich meine Großmutter, Angehörige der ersten Lehrergeneration in der jungen türkischen Republik, eine überzeugte Säkulare, die viele Jahre lang Kindern auf dem Land Lesen und Schreiben beigebracht hatte, als wir eines Abends im Jahr 2005 eine Fernsehdebatte mit AKP-Strategen verfolgten. "Die haben doch gerade etwas von Faschisten gesagt, oder?"

Akademiker, Journalisten und Bildungsbürger fanden sich im Lager der Feinde des Volkes und als Teil des korrupten Establishments wieder.

Noch ehe ich ihr die Besonderheiten der neuen politischen Narrative erklären konnte, rief sie: "Was soll das heißen, repressive Elite? Ich bin nicht elitär. Ich habe gehungert und gelitten als Dorflehrerin in den fünfziger Jahren!" Sie hatte die eben noch abwehrend vor der Brust verschränkten Arme in die Luft gereckt und verkündete mit erhobenem Zeigefinger, fast, als stünde sie vor einer Schulklasse: "Gleich morgen gehe ich in die nächste Geschäftsstelle der Partei und sage denen, dass ich genauso zum Volk gehöre wie sie."

Was sie auch wirklich tat – nur um fassungslos zurückzukehren und sich auf ihren müden 80-jährigen Beinen zum Bett zu schleppen, weil sie so fertig war, dass sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben mitten am Tag hinlegen musste. "Die sind so anders, Ece. Die sind so …", war das Einzige, was ich ihr entlocken konnte. Trotz ihrer großen Eloquenz fiel ihr kein treffendes Adjektiv ein.

Die Szene kam mir wieder in den Sinn, als ich 2017 in Harvard einen Vortrag hielt und mich hinterher eine Amerikanerin, schätzungsweise Mitte 70, zögernd ansprach. Da sie offenbar zu den Menschen gehörte, die andere nur sehr ungern mit ihren persönlichen Angelegenheiten behelligen, erzählte sie mir eine Kurzversion ihrer Lebensgeschichte. Sie hatte in den 1960er Jahren als Angehörige des Peace Corps den Kindern eines abgelegenen türkischen Dorfs Englisch beigebracht, war danach eine sehr engagierte Highschoollehrerin in den USA gewesen und absolvierte nun im Ruhestand ein Seniorenstudium in Harvard.

Dass sie – in ihrem Fall von Trump-Wählern – als Angehörige der "repressiven Elite" bezeichnet wurde, machte sie ebenso fassungslos wie Jahre zuvor meine Großmutter. "Ich versuche Respekt zu haben", sagte sie und beklagte, dass Respekt in Europa "Mangelware" sei. Sie behauptete, nur Respekt könne Europa retten.

 

"Respekt" allerorten

Erdoğan wiederum überschüttete die türkische Politik mit Unmengen von "Respekt", nachdem er 2002 an die Macht gelangt war, und demonstrierte den Türken wiederholt, dass Respekt nicht mehr verdient werden musste, sondern uneingeschränkt eingefordert werden konnte.

Kam der Verdacht von Wahlfälschung auf, mahnte er ebenso Respekt für "mein Volk und seinen Willen" an, wie er ihn für Gerichtsurteile beanspruchte, die seine Gegner ins Gefängnis brachten. Als das Verfassungsgericht entschied, inhaftierte Journalisten freizulassen, die ihn kritisiert hatten, hieß es dagegen:

"Ich respektiere dieses Urteil nicht und werde mich nicht daran halten." Wie für Orbán ist Respekt auch für Erdoğan eine Einbahnstraße; er wird nur entgegengenommen, nie entgegengebracht. 

An einer Wand mit Graffitis und Flugblätter ist ein abgerissenes Bild von Erdogan zu sehen. Nebendran steht eine lachende Figur.
Der globale Kreislauf gegenseitiger Respektbekundungen gleicht heutzutage einem nationenübergreifenden Gespräch zwischen Mafiosi, Foto: Jens Kalaene via picture alliance

"Im Grunde will Putin Respekt", schrieb die Russlandexpertin Fiona Hill, heute nationale Sicherheitsbeauftragte der US-Regierung, in einem Beitrag, der Februar 2015 auf der Website der Brookings Institution erschien. "Und zwar Respekt im altmodischen, knallharten Sinn."

"Du kommst zu mir und sagst: 'Verschaff mir Gerechtigkeit!' Aber du zeigst mir keinen Respekt." Dieses Zitat stammt nicht von einem weiteren respektbesessenen Politiker, sondern von Don Corleone in der Eingangsszene des Films "Der Pate". Man kommt da leicht durcheinander, denn der globale Kreislauf gegenseitiger Respektbekundungen (Geert Wilders respektiert Farage, Farage respektiert Trump, Trump respektiert Putin, und dann geht alles von vorn los – so ähnlich, wie sich einst Hitler und Stalin ihres jeweiligen Respekts versicherten) gleicht heutzutage einem nationenübergreifenden Gespräch zwischen Mafiosi.

Bei den Ausmaßen, die das aus Respekt gewobene Netz zwischen autoritären Anführern mittlerweile angenommen hat, könnte man glatt vergessen, wie klein die ganze Farce begann, nämlich mit einer scheinbar harmlosen Bitte. Die "gewöhnlichen" Leute verwandelten sich in das Volk, indem sie um ein bisschen Political Correctness ersuchten: "Haben wir keinen Respekt verdient?"

Doch wenn Respekt zur politischen Ware wird, hat das weitreichende Folgen. Sobald das Volk eine politische Bewegung bildet, lautet die anfängliche – rhetorische – Frage: "Zählen denn unsere Überzeugungen, unsere Lebensweise, unsere Entscheidungen gar nicht?" Da die Antwort keinesfalls Nein lauten darf, können die Anführer der Bewegung als respektable, gleichwertige Teilnehmer am politischen Diskurs in die Öffentlichkeit und auf die politische Bühne treten.

Wenn Respekt zur politischen Ware wird, hat das weitreichende Folgen.

Als nächstes Schlagwort folgt Toleranz – Toleranz gegenüber Unterschieden. Dann werfen die Meinungsmacher, nachdem sie bemerkt haben, dass die öffentliche Polarisierung zu sozialen Spannungen führt, den Begriff sozialer Friede in die Debatte – einen Begriff, der so vernünftig und beruhigend klingt, dass sich niemand dagegen aussprechen will. Mit zunehmendem Erfolg der Bewegung gehen Respekt und Toleranz in den Besitz ihrer Mitglieder über, sodass nur noch sie anderen beides zugestehen können. Gleichzeitig reizt der Anführer die Waffenruhe des "sozialen Friedens" voll aus, indem er bei jedem neuen von ihm (oder ihr) provozierten Streit Toleranz und Respekt einfordert.

 

Mafiöse Rhetorik

Wandbild: Angela Merkel, Trump und andere Politiker*innen in einer Verhandlung mit Heiligenscheinen über dem Kopf.
Im 21. Jahrhundert ist es für rechtspopulistische Formationen sehr viel leichter geworden, Respekt einzufordern, Foto: Diana Kereselidze via unsplash

Allerdings wird der Respekt irgendwann zur Mangelware. In der Türkei erfolgte der unmerkliche Umschwung in der Wahlnacht 2007, als die AKP-Regierung bestätigt worden war. Damals sagte Erdoğan noch: "Auch wer uns nicht gewählt hat, gehört zur Türkei", was für viele politische Journalisten klang, als wollte ein mitfühlender Vater alle unter seine Fittiche nehmen, um den sozialen Frieden zu wahren.

Dann begann Erdoğan allerdings, wie ein Mafiaboss zu reden. Er stellte die Forderung nach Respekt ein und legte die Messlatte höher, indem er von europäischen Spitzenpolitikern bis hin zu Kleinstadthonoratioren so ziemlich alle ermahnte, jeder müsse wissen, "wo sein Platz ist". Als diese Warnung nicht mehr genügte, kamen die Drohungen.

Während einer diplomatischen Auseinandersetzung mit Deutschland und den Niederlanden, in der es um das Verbot von Auftritten türkischer Politiker ging, die für das Verfassungsreferendum und damit für erweiterte Machtbefugnisse des türkischen Präsidenten werben wollten, sagte Erdoğan am 11. März 2017: "Wenn Europa so weitermacht, wird sich bald kein einziger Europäer mehr in irgendeinem Land der Welt sicher auf der Straße bewegen können." Mit seiner gegen einen ganzen Kontinent gerichteten Drohung war er zum grausamen Michael Corleone aus dem Film "Der Pate II" geworden.

Selbst in Ländern, die erst seit Kurzem ähnliche soziale und politische Prozesse erleben, wird der geschilderte Ereignisablauf bereits als stereotyp empfunden. Die Erkenntnis, dass die Logik der gegenwärtigen Identitätspolitik diese Prozesse fördert, ist jedoch relativ neu und wird kaum erörtert. Im 21. Jahrhundert ist es für rechtspopulistische Formationen sehr viel leichter geworden, Respekt einzufordern, weil sie sich in die schusssichere politische Membran einer kulturellen und politischen Identität hüllen und von einer politischen Korrektheit profitieren, die kritische Kommentatoren entwaffnet.

Außerdem lässt sich mit einem unangreifbaren Identitätsnarrativ der Spieß wunderbar umdrehen, denn nun ist die Lampe des Vernehmers auf die Kritiker der Bewegung gerichtet statt auf die Bewegung selbst, und die Kritiker fragen sich: "Bringen wir ihnen womöglich nicht genug Respekt entgegen und sind sie deshalb so wütend?" Während die Opposition um einen Ausgleich bemüht ist, beginnt die Bewegung bohrende Fragen zu stellen: "Seid ihr sicher, dass ihr uns nicht aus schierer Arroganz einschüchtert? Seid ihr sicher, dass das keine Diskriminierung ist?"

Wir wissen alle, was passiert, wenn selbstzweiflerischer Intellekt auf rücksichtslose, offen zutage liegende Ignoranz trifft. Wer an das Offensichtliche glaubt, für den ist das Grundbedürfnis des Hinterfragens nichts anderes als das Fehlen einer Antwort, und peinliches Schweigen angesichts dreister Schamlosigkeit versteht er als stumme Bewunderung. Dann setzt sich die politisierte Dummheit stolz an den Tisch zu den Mitgliedern des gesamten politischen Spektrums, versucht, die anderen unter ausgiebigem Ellenbogeneinsatz zu dominieren, und fragt immer wieder: "War dein Arm wirklich da, wo er hingehört?" Und die Opposition muss sich bis zur Unkenntlichkeit verbiegen, um die neuen Regeln zu befolgen und am Tisch sitzen bleiben zu dürfen.

"Wir empfinden wachsendes Unbehagen, wenn Menschen unsere Freiheit missbrauchen, um hier alles kaputtzumachen." Das sind die Worte eines niederländischen Politikers, aber nicht die des berüchtigten Ausländerhassers Geert Wilders. Das Zitat stammt von seinem politischen Gegner Mark Rutte, dem Ministerpräsidenten der Niederlande und Vorsitzenden der mitte-rechts angesiedelten liberalen Partei VVD, und ist seinem am 23. Januar 2017 veröffentlichten Brief "An alle Niederländer" entnommen.

Mit einem unangreifbaren Identitätsnarrativ der Spieß wunderbar umdrehen, denn nun ist die Lampe des Vernehmers auf die Kritiker der Bewegung gerichtet statt auf die Bewegung selbst.

Obwohl sich der Aufruf scheinbar an alle richtete, die "unsere Freiheit missbrauchen", zielte er in Wahrheit auf die Einwanderer. Ruttes Widerstand gegen den Rechtspopulismus wurde völlig verdreht, weil er sich gezwungen sah, die Sorgen des Volkes, der ganz normalen, anständigen Leute demonstrativ zu teilen. Offenbar hatte er das Gefühl, Entgegenkommen zeigen zu müssen, um weiterhin am Kopf der politischen Tafel sitzen zu dürfen. Demselben Mann jubelten zwei Monate später die niederländischen Liberalen zu, weil er Wilders in der Wahl geschlagen hatte. Wenn auch widerwillig, akzeptierten viele niederländische Wähler die neue Realität, in der das geringste Übel die einzige Wahl ist, die man noch hat. Das künstlich erzeugte Wir ist mittlerweile stark genug, um nicht nur die Anhänger der Bewegung zu mobilisieren und zu beflügeln, indem es ihnen das Gefühl gibt, endlich wieder Teil eines großen Ganzen zu sein, sondern auch um den übrigen Politikbetrieb zu beeinflussen, indem es so lange an der Opposition herumzerrt, bis sie sich unwiderruflich verändert hat. Das Wir erschafft eine neue Normalität, die alle dem Irrsinn näherbringt.

Über die Autorin
Portrait von Ece Temelkuran
Ece Temelkuran
Juristin, Schriftstellerin und Journalistin

Ece Temelkuran ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung und Kritik an der Regierungspartei verlor sie ihre Stelle bei einer großen türkischen Tageszeitung. Sie hat Romane und Sachbücher veröffentlicht.

Bücher (Auswahl):

  • Wille und Würde. Zehn Wege in eine bessere Gegenwart. Hoffmann und Campe, Hamburg 2022
  • Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur. Hoffmann und Campe, Hamburg 2019
  • Stumme Schwäne. Hoffmann und Campe, Hamburg 2017
  • Euphorie und Wehmut. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015
  • Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann. Hoffmann und Campe, Hamburg 2014