Normale, anständige Leute
"Wir sind auch Muslime!" So lauteten die üblichen Eingangsworte sozialdemokratischer Teilnehmer an Fernsehdebatten in den ersten Jahren nach der Regierungsübernahme der AKP in der Türkei. So, wie man zum Wir gehörte – zum Volk, zu den "normalen, anständigen Leuten" – , wenn man in Großbritannien den Brexit befürwortete oder in den Niederlanden ein bisschen Rassismus akzeptierte, galt man in der Türkei als zugehörig, wenn man ein konservativer sunnitischer Muslim aus der Provinz war.
Kaum hatten die ursprünglichen Besitzer des Wir die Parameter festgelegt, beteuerte jeder, ebenfalls zu beten – wenn auch im Privaten, ganz für sich. Schon bald kursierten in der öffentlichen Debatte für die meisten bis dato völlig unbekannte arabische Wörter, und Sozialdemokraten konkurrierten trotz ihres begrenzten religiösen Wissens mit den "wahren Muslimen". Die AKP-Strategen setzten eiligst neue religiöse Konzepte in Umlauf und brachten ihre Kritiker ständig mit unvermuteten Fragen nach irgendwelchen alten Schriften in Bedrängnis.
Fragt sich, was passiert, wenn man alle diese Tests besteht und sich als ebenso "wahr" erweist wie die Fragesteller. Ich selbst durfte das einmal erleben. Nachdem ich mich 2013 während der Arbeit an meinem Roman "Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann" mehr als ein Jahr lang mit dem Koran beschäftigt hatte, war ich auf alle Fragen vorbereitet. Als der Roman erschien, wurde ich zu einer Talkshow mit einer Parteistrategin der AKP als weiterem Gast eingeladen, einer Dame mit Kopftuch – die klassische Fernsehfarce, bei der es möglichst zum Zickenkrieg zwischen einer säkularen und einer religiösen Frau kommen soll.
Nachdem ich die Sure, aus der der Titel meines Romans stammte, auf Arabisch zitiert hatte und auf die Fragen eingegangen war, die mir die Frau über den Koran stellte, sagte sie mit gönnerhaftem Lächeln: "Gut gemacht!" und wies mich damit höflich darauf hin, dass ich in der Kunst, die sie meisterhaft beherrschte und gewissermaßen als ihr Eigentum betrachtete, bestenfalls als Lehrling gelten konnte.
Leute wie ich, daran ließ sie keinen Zweifel, waren höchstens am äußersten Rand des Volkes anzusiedeln. Wir würden immer der verachteten Elite angehören – und wenn wir uns auf den Kopf stellten.
So wie wenn man in Großbritannien den Brexit befürwortete, [...] galt man in der Türkei als zugehörig, wenn man ein konservativer sunnitischer Muslim aus der Provinz war.
Jeder Aufenthalt in einem der vom Volk frequentierten Pubs des Nigel Farage, jede Teilnahme an einer Grillparty von Trump-Anhängern würde unweigerlich mit einem ähnlich gönnerhaften Lächeln und zusätzlich vielleicht mit einem demütigenden Klaps auf die Schulter enden: "Wird schon noch, Kleine!"
Es ist ein interessanter, aber nur selten erwähnter Aspekt dieses Prozesses, dass die enttäuschten, zynisch gewordenen Bürger, die der Bewegung eigentlich kritisch gegenüberstehen, angesichts der durcheinandergeratenen Sitzordnung klammheimliche Freude empfinden und sich über die schockierten Mienen des Establishments amüsieren.
Sie wissen, dass die starke Unzufriedenheit der vernachlässigten Massen irgendwann zu einer ebenso starken politischen Reaktion führen wird, und trauen es der Bewegung zu, eines Tages als das lang ersehnte Korrektiv der herrschenden Ungerechtigkeit zu wirken – bis ihnen ihr Irrtum klar wird. "[…] daß der Liquidator nicht ganz im Unrecht sei, [dies] ist der geheime Glaube der Epoche Kafkas und Hitlers […]" schrieb der Germanist J. P. Stern vor vielen Jahrzehnten.
Das grenzenlose Selbstbewusstsein der Bewegung ist demnach nicht ausschließlich eigenes Verdienst; auch die Unschlüssigen und so mancher Gegner steigern deren Selbstvertrauen durch die eigenen Bedenken. Was, bitte schön, ist falsch daran, auf die Korruptheit des Establishments hinzuweisen? Indem sie ihre ideologischen Ziele vage formuliert und den Ton moderat hält, verführt die Bewegung mit der Möglichkeit, die diversen Ideale oder Enttäuschungen bei ihr unterzubringen. Was, bitte schön, ist falsch daran, ein anständiger Mensch zu sein und zum Volk zu gehören?