Illustration: Büste eines (scheinbar) Betenden mit Blumenkette. Der Bauch ist ein Gefängnis für Andersdenkende.

Die Freiheit, zu streiten

Autoritarismus manifestiert unterschiedlich: Aktivisten für Menschenrechte werden als „Terroristen“ gebrandmarkt, kritische Journalisten werden getötet, protestierende Studenten eingesperrt. Globaler Widerstand dagegen ist dringend geboten.

Streiten ist eine Freiheit

Nichts ist meiner Meinung nach so wichtig wie die Möglichkeit, über Dinge zu streiten, bei denen wir möglicherweise uneins sind. Leider wird, wie Immanuel Kant bemerkte, die Möglichkeit zum Streit von der Gesellschaft oft – manchmal sehr massiv – eingeschränkt. Der große Denker hat das so formuliert: „Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonniert nicht! Der Offizier sagt: räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonniert nicht, sondern glaubt! (…) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit.“

Kant legte eingehend dar, warum es so wichtig ist, zu „räsonieren“. Wir können unserem Leben einen Sinn geben, indem wir danach fragen, was es lohnend macht. Wenn die Redefreiheit beschnitten wird und Menschen dafür bestraft werden, dass sie ihre Meinung sagen, können wir in dem Leben, das wir führen können, schweren Schaden erleiden.

Leider gehört die erhebliche Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht der Vergangenheit an, und es gibt immer mehr Länder, in denen autoritäre Entwicklungen die Freiheit, zu widersprechen schwieriger – oft viel schwieriger – machen als früher.

Die repressiven Tendenzen in vielen Ländern der heutigen Weltinsbesondere in Asien, in Europa, in Lateinamerika, in Afrika und innerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika – geben Anlass zur Sorge. Mein eigenes Land, Indien, gehört ebenfalls in diesen beklagenswerten Korb. Indien hatte in der Vergangenheit, nachdem es sich die Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft gesichert hatte, eine schöne Geschichte als säkulare Demokratie mit viel persönlicher Freiheit.

Menschen in Indien auf einer Demonstration gegen Rassismus.
Die indische Regierung hat versucht, regierungsfeindliche Proteste zu unterdrücken, Foto: Siamlian Ngaihte via pixabay

Die Menschen haben ihr Bekenntnis zur Freiheit und ihre Entschlossenheit, eine autoritäre Regierungsform abzulehnen, durch standhaftes und entschiedenes öffentliches Handeln unter Beweis gestellt, beispielsweise bei den Parlamentswahlen von 1977, bei denen die despotischen Regelungen eines von der Regierung verhängten „Notstands“ auf vehemente Ablehnung der Bevölkerung stießen.

In letzter Zeit haben sich die Dinge jedoch stark verändert, und es gab viele Fälle von brutaler Unterdrückung abweichender Meinungen. Die Regierung hat wiederholt versucht, regierungskritische Proteste zu ersticken, die – seltsamerweise – von der Regierung oft als „Aufwiegelung“ angesehen wurden und so Anlass zu Verhaftungen gaben.

Diese Einschätzung wurde dazu genutzt, Oppositionsführer einzusperren. Abgesehen von dem Despotismus, der in diesem Vorgehen implizit angelegt ist, herrscht hier auch eine grundlegende Gedankenverwirrung, denn ein Nichteinverstandensein mit der Regierung muss nicht unbedingt eine Rebellion zum Sturz des Staates oder zur Untergrabung der Nation sein (etwas, worauf die Diagnose der Aufwiegelung gründen muss). Indien ist nicht das einzige Land, in dem eine solche gedankliche Konfusion herrscht – tatsächlich ist ein derartiger Missbrauch auf der Welt immer häufiger zu finden. Als stolzer indischer Bürger habe ich jedoch die traurige Pflicht, darüber zu sprechen, wie autokratisch die Regierung meines eigenen Landes geworden ist.

Vorbeugende Inhaftierung

Als ich im britisch regierten Indien der Kolonialzeit zur Schule ging, saßen viele meiner Verwandten, die gewaltlos für die Unabhängigkeit Indiens kämpften (inspiriert von Mahatma Gandhi und anderen Verfechtern der Freiheit), in britischen Gefängnissen in so genannter „Präventivhaft“, angeblich, um sie von Gewalttaten abzuhalten, obwohl sie nichts dergleichen getan hatten. Nach der Unabhängigkeit Indiens wurde die Präventivhaft als eine Form der Inhaftierung abgeschafft, doch später wurde sie, in einer relativ gemäßigten Form, zunächst von der Kongressregierung wieder eingeführt.

Das war schlimm genug, doch unter der jetzt im Amt befindlichen, an der Hindutva, einem Hindu-Nationalismus orientierten Bharatiya Janata Party-Regierung hat die Vorbeugehaft deutlich größere Bedeutung erlangt, weil sie die problemlose Festnahme und Inhaftierung von Oppositionspolitikern ohne Gerichtsverfahren ermöglicht. Tatsächlich kann der Staat seit letztem Jahr unter den Bestimmungen eines neu ausgearbeiteten „Unlawful Activities (Prevention) Act“ (Gesetz zur Verhinderung ungesetzlicher Aktivitäten, kurz UAPA) jemanden einseitig zum „Terroristen“ erklären, was es erlaubt, diesen angeblichen Terroristen ohne Gerichtsverfahren ins Gefängnis zu stecken.

Eine ganze Reihe von Menschenrechtsaktivisten wurden als Terroristen eingestuft und befinden sich im Rahmen dieser Regierungsanordnung bereits im Gefängnis, und viele andere wurden gewarnt, dass das UAPA auf sie angewandt werde, sollten sie den Behörden nicht gehorchen und aufhören, gegen die Regierung zu sein.

Wenn jemand als „antinational“ bezeichnet wird – ein großer philosophischer Vorwurf –, so bedeutet das in Indien heute oft nicht mehr, als dass diese Person kritische Bemerkungen über die amtierende Regierung gemacht hat.  Es handelt sich hier um eine begriffliche Verwechselung: Gegen die Regierung zu sein, ist nicht dasselbe, wie antinational zu sein – und umgekehrt. Die Gerichte konnten in manchen Fällen einige dieser Praktiken unterbinden, aber angesichts der langsam mahlenden Mühlen der Justiz und der Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Obersten Gerichtshofs Indiens war das nicht immer ein wirksames Gegenmittel.

Die Menschenrechte des Einzelnen wurden in Indien auf ganz unterschiedliche, vielfältige Art eingeschränkt. Organisationen – nationale wie internationale –, die hart für die Rechte des Einzelnen kämpfen, sind zunehmend unter Druck geraten. Einer der bekanntesten Menschenrechtsverteidiger der Welt, Amnesty International, war aufgrund staatlicher Interventionen – dazu gehörte auch die Schließung seines Bankkontos – gezwungen, Indien zu verlassen.

Wenn jemand als „antinational“ bezeichnet wird – ein großer philosophischer Vorwurf –, so bedeutet das in Indien heute oft nicht mehr, als dass diese Person kritische Bemerkungen über die amtierende Regierung gemacht hat.

Die Rolle von Minderheiten

Mitglied der Dalit-Kaste in traditioneller Kleidung und Gesichtsbemalung
Mitglied der Dalit-Kaste, Foto: Anmseh Bhattarai via pixabay

Das Streben nach Autoritarismus im Allgemeinen ist mitunter mit der Verfolgung eines bestimmten Teils der Nation verbunden. Besonders ungleiche Behandlung hat häufig mit etablierten Einteilungen nach Rasse, Hautfarbe, Kaste, Religion oder Einwanderungsstatus zu tun.

Die ehemals „Unberührbaren“ aus der untersten Kaste – die jetzt Dalits genannt werden – profitieren weiterhin von den Antidiskriminierungsmaßnahmen (in Bezug auf Beschäftigung und Bildung), die zur Zeit der Unabhängigkeit Indiens eingeführt wurden, doch ihr Leben ist nach wie vor stark benachteiligt. Was die Sozialbeziehungen betrifft, so werden sie oft sehr grob behandelt, und Fälle von Vergewaltigung oder Mord an Dalits durch Männer aus den oberen Kasten, die inzwischen an der Tagesordnung sind, wurden von der Regierung trotz öffentlicher Proteste häufig ignoriert oder vertuscht.

Mag diese Art von Ungerechtigkeit unter der gegenwärtigen Regierung in Indien bedrückend hartnäckig fortbestehen, so ist auch sie nicht nur in Indien zu finden; allerdings erscheint sie dort angesichts der langen Geschichte des Kampfes gegen Ungerechtigkeit aufgrund der Kastenzugehörigkeit, angeführt von Mahatma Gandhi, Bhimrao Ramji Ambedkar und anderen Politikern, besonders unerträglich.

Einzigartig sind diese Formen der Ungerechtigkeit jedoch nicht. So haben die Vereinigten Staaten beispielsweise eine Vorreiterrolle für ein besseres Verständnis der individuellen Rechte im Allgemeinen und der Menschenrechte im Besonderen gespielt, doch die fest zementierte Spaltung zwischen Schwarzen und Weißen in Amerika, die ursprünglich mit der Institution der Sklaverei verbunden war, hat dazu beigetragen, die Entbehrung und Erniedrigung schwarzer Amerikaner aufrechtzuerhalten.

Das Interessante an der jüngsten Welle von Protestbewegungen in Amerika, wie zum Beispiel „Black Lives Matter!“, ist nicht, dass sie Unterstützung finden (wie sollte es anders sein?), sondern die Tatsache, dass es so lange gedauert hat, bis die Frage der Gleichberechtigung der Afroamerikaner wirksame Anerkennung findet, und das trotz der kraftvollen Bürgerrechtsbewegung in den 1950er und 1960er Jahren. Zum Glück wird der Notwendigkeit der ethnischen Gleichberechtigung in Amerika jetzt endlich große Aufmerksamkeit geschenkt, aber es überrascht doch, auf wie viel Widerspruch – und manchmal auch Widerstand – die Bewegung auch heute noch stößt, offen wie versteckt.

Doch ich möchte noch einmal auf Indien zurückkommen und eine andere Art von Ungleichheit in den Blick nehmen: Denn besonders rigoros sind die gegenwärtig Regierenden gegen die Rechte der Muslime vorgegangen, bis hin zur Einschränkung ihrer Bürgerrechte im Vergleich zu Nicht-Muslimen. Trotz der jahrhundertelangen friedlichen Koexistenz zwischen Hindus und Muslimen gab es in den letzten Jahren eklatante Versuche extremistischer Hindu-Organisationen, einheimische Muslime im Grunde wie Ausländer zu behandeln, die oft beschuldigt werden, der Nation Schaden zuzufügen. Indien war – trotz gegensätzlicher Verhältnisse in der Vergangenheit – nicht so, bis die Macht der extremistischen Hindu-Politik so stark wurde wie in jüngster Zeit.

Keine Instrumentalisierung der Religion

Mahatma Gandhi war Hindu, ebenso wie Rabindranath Tagore (und ich könnte das auch auf mich beziehen), aber als Inder machten sie die Unterscheidung zwischen Hindus und Muslimen zu keinem Zeitpunkt zu einer politischen Frage. Tagore stellte sich, als er in Oxford seine berühmten Hibbert-Vorlesungen hielt, bewusst als jemand vor, der dem Zusammenfluss dreier kultureller Strömungen entstammte, bei dem sich – zusätzlich zum westlichen Einfluss – Hinduismus und Islam miteinander verbanden. Die indische Kultur ist ein gemischtes – oder vielmehr gemeinsames – Produkt von Menschen unterschiedlicher religiöser Überzeugungen, und das lässt sich in verschiedenen Bereichen der Kultur – von der Musik und der Literatur bis hin zur Malerei und Architektur – beobachten.

Selbst die allererste Übersetzung und Verbreitung hinduistischer philosophischer Schriften aus dem Sanskrit – der Upanishaden – außerhalb Indiens erfolgte auf Initiative des Moghul-Prinzen Dara Shikoh, des ältesten Sohnes von Kaiserin Mumtaz Mahal, zu deren Andenken Daras Vater, Kaiser Shah Jahan, das wunderbare Taj Mahal in Agra errichten ließ. Die hinduistischen Sektierer haben ihr Möglichstes getan, um wichtige Fakten über die gemeinsame Geschichte von Hindus und Muslimen zu unterdrücken, wodurch sie Indien zu einem weniger bedeutenden Land gemacht haben. Geleitet von den gegenwärtigen ideologischen Prioritäten der Regierung werden die Schulbücher in Indien jetzt weitgehend umgeschrieben, um eine revisionistische Geschichte zu erzählen, in der die Beiträge der Muslime kleingeredet – oder gänzlich ignoriert – werden.

Wir werden auf Gewalt nicht mit Gewalt antworten. Wir werden auf Hass nicht mit Hass antworten. Wenn sie Hass verbreiten, werden wir darauf mit der Verbreitung von Liebe antworten.

Trotz der Befugnis der Regierung, im Rahmen des UAPA jeden als „Terroristen“ zu bezeichnen, haben sich die der „ungesetzlichen Aktivitäten“ Beschuldigten in der Regel dezidiert für gewaltlose Proteste eingesetzt, so wie Gandhi es befürwortet hatte. Das gilt insbesondere für den jüngst entstandenen säkularen Widerstand, der oftmals ein studentischer ist. Umar Khalid zum Beispiel, ein muslimischer Wissenschaftler an der Jawaharlal-Nehru-Universität und wichtiger Studentenführer – er ist sowohl bei Hindus als auch bei Muslimen geschätzt –, wurde aufgrund des UAPA verhaftet und als mutmaßlicher „Terrorist“ ins Gefängnis gesteckt.

Er hat das politische Eintreten der von ihm geführten säkularen Bewegung für friedliche Proteste eindrücklich so formuliert: „Wir werden auf Gewalt nicht mit Gewalt antworten. Wir werden auf Hass nicht mit Hass antworten. Wenn sie Hass verbreiten, werden wir darauf mit der Verbreitung von Liebe antworten. Wenn sie uns mit Lathis [Stöcken] schlagen, werden wir die Trikolore [die indische Nationalflagge] hochhalten. Wenn sie Kugeln abfeuern, dann werden wir die Verfassung nehmen und unsere Hände erheben.“

Wie eine Vielzahl von Beobachtern – im In- und Ausland – bemerkt haben, geben die politischen Aktivitäten von Umar Khalid oder anderen Studentenführern der Regierung nicht den geringsten Anlass, sie als „Terroristen“ zu bezeichnen, ganz gleich, welche Erlaubnis die Regierung sich selbst gegeben hat, wen auch immer als was auch immer zu titulieren, um Menschen wie Khalid im Gefängnis festzuhalten. Ich habe neulich in der Zeitung gelesen, dass die Regierung doch beschlossen hat, sie direkt vor Gericht zu stellen.

Ich erinnere mich, dass ich als Schuljunge meinen Onkel, der von der britischen Kolonialverwaltung in Vorbeugehaft genommen wurde, fragte, wie lange das Unrecht willkürlicher Inhaftierung in Indien fortbestehen werde, und er hatte mir darauf die seiner Meinung nach pessimistische Antwort gegeben: „Bis die britische Herrschaft ein Ende hat“. Leider hat es den Anschein, als würde das Ende der britischen Herrschaft doch nicht ganz dafür ausreichen.

Plastik vor dem UN-Gebäude, die einen Revolver darstellt, dessen Mündung verknotet ist.
Bekenntnis zum friedlichen Protest, Foto: Botana via pixabay

Neue Formen des Autoritarismus

Ich habe bisher hauptsächlich zwei Länder behandelt – Indien und die USA –, um das Fortbestehen von Autokratie und Ungerechtigkeit in der modernen Welt zu veranschaulichen, aber ich hätte viele weitere anführen können – mindestens 20 oder 30 andere Länder. Die Art und Weise, wie sich der Autoritarismus jeweils manifestiert, und die Rechtfertigungen dafür können von Land zu Land variieren, doch die Endergebnisse weisen beträchtliche Ähnlichkeiten auf.

Soldaten mit Gewehren bei einer Parade.
Autokratien setzen das Militär ein, um ihre Macht zu erhalten, Foto: Eugene Zhycvick via pixabay

Um mit einem Beispiel aus Asien zu beginnen: Der Einsatz despotischer Macht auf den Philippinen durch die herrschende Regierung wurde als wesentliches Instrument zur Unterbindung des Drogenhandels und anderer krimineller Aktivitäten propagiert. Diese Macht wurde häufig dazu benutzt, Menschen ohne Gerichtsverfahren zu töten.

In Ungarn hat sich die Regierung autoritäre Befugnisse gesichert, um die Einwanderung von Flüchtlingen von außerhalb Europas zu stoppen und um die Medien kontrollieren und Oppositionsparteien zum Schweigen bringen zu können, was angeblich für eine ordentliche Regierungsarbeit notwendig ist. In Polen wurden verschiedene individuelle Rechte außer Kraft gesetzt, um einen zentralen Aspekt der Regierungspolitik, nämlich die Verfolgung von Homosexuellen, zu erleichtern; dazu gehört auch die Einrichtung bestimmter Gebiete im Land, die „LGBT-freie Zonen“ bleiben sollen.

Und schließlich noch ein Beispiel aus Lateinamerika: Die intolerante gegenwärtige Regierung Brasiliens kam ins Amt, indem sie sich für einen höheren Sold für Militärangehörige einsetzte und versprach, das Land vor solch konservativen Alpträumen wie gleichgeschlechtliche Ehe, Homosexualität, affirmative Action, Abtreibung, Liberalisierung des Drogenkonsums und Säkularismus zu bewahren. Das Streben nach Autokratie ist offenkundig eine vielgestaltige Sache.

Der Autoritarismus verhängt direkte Strafen gegen Menschen; dazu gehören die Verletzung der persönlichen Freiheit und der politischen Freiheitsrechte. Darüber hinaus aber hängt der soziale Fortschritt in hohem Maße von menschlicher Kooperation ab, und eine Spaltung der Gesellschaft durch die Verfolgung missliebiger Gruppen kann die gemeinsame Arbeit für den Fortschritt um ein Vielfaches schwieriger machen.

Ich will keineswegs behaupten, dass in einem autoritären System niemals je sozialer Fortschritt erreicht werden kann. Das ist manchmal durchaus möglich, aber tendenziell wird der Fortschritt ernsthaft behindert, wenn Streit und kritische Diskussionen verboten und die Interessen einiger Menschen beharrlich ignoriert werden. Wie der englische Dichter und Philosoph Samuel Taylor Coleridge bemerkt hatte, ist es möglich, Shakespeare „beim Schein von Blitzen zu lesen“, aber wir sollten unsere Lektüre lieber bei normalem Licht betreiben.

 

In Ungarn hat sich die Regierung autoritäre Befugnisse gesichert, um die Einwanderung von Flüchtlingen von außerhalb Europas zu stoppen und um die Medien kontrollieren und Oppositionsparteien zum Schweigen bringen zu können, was angeblich für eine ordentliche Regierungsarbeit notwendig ist.

 

Martin Luther King Jr. mit Mitstreitern auf dem Marsch nach Washington, 1963
„Wenn irgendwo ein Unrecht geschieht, ist die Gerechtigkeit überall in Gefahr.“ Martin Luther King, 1963, Foto: Unseen Histories via unsplash

Die Welt ist heute mit einer Pandemie des Autoritarismus konfrontiert, so wie im Augenblick mit der pandemischen Erkrankung, die das menschliche Leben auf je unterschiedliche, aber zusammenhängende Weise in Mitleidenschaft zieht. Angesichts unserer globalen Verbindungen und der Bedeutung unseres gemeinsamen Menschseins gibt es allen Grund, uns nicht nur um unser eigenes Land, sondern auch um andere ernsthaft Sorgen zu machen und uns für Probleme überall auf der Welt zu interessieren. 

Dr. Martin Luther King Jr. schrieb 1963 in einem Brief aus dem Gefängnis von Birmingham (kurz vor seiner Ermordung): „Wenn irgendwo ein Unrecht geschieht, ist die Gerechtigkeit überall in Gefahr.“ Heute ist gesellschaftlich kaum etwas dringlicher geboten als globaler Widerstand gegen den zunehmenden Autoritarismus überall auf der Welt.

Der notwendige Widerstand kann auf vielerlei Art erfolgen, aber mehr lesen, mehr reden, mehr streiten sollten ohne Zweifel Teil dessen sein, was Immanuel Kant so formuliert hat: „Der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Auf-klärung unter Menschen zustande bringen.“ Der Widerstand gegen politische Tyrannei ist beseelt von Ideen und von Büchern. Für Martin Luther King konnte das – genauso wie für die jungen Stu-dentenführer heute – nur ein gewaltloser Prozess sein. Er ist auch der Weg zu dauerhaftem Frieden.

Über den Autor
Portrait von Amartya Sen
Amartya Sen
Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph

Der Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Harvard University in Cambridge, Mass. Zuvor war er Professor in Kalkutta, Delhi, London und Oxford. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Problematik der Armut und die Wohlfahrtsökonomie, aber auch Arbeiten über öffentliche Gesundheit und Gender Studies. Der von Amartya Sen entwickelte Sen Poverty Index misst die relative Konzentration von Einkommensungleichheit. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen ermittelt seit 1990 auf Sens Vorschläge hin den Index der menschlichen Entwicklung. 1998 erhielt Amartya Sen den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften und 2020 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Bücher (Auswahl):

  • Home in the World: A Memoir. Liveright, New York 2022
  • Collective Choice and Social Welfare: An Expanded Edition. Harvard University Press, 2018
  • The Country of First Boys: And Other Essays. Oxford University Press, 2015
  • An Uncertain Glory: India and its Contradictions. Allen Lane, Penguin, 2013
  • The Idea of Justice. The Belknap Press of Harvard University Press, 2009
  • Identity and Violence: The Illusion of Destiny. W. W. Norton & Company, New York 2007

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