Johnny Miller "Unequal Scenes".
Die globale Debatte über die wichtigsten Spaltungen der Welt übersieht den Elefanten im Raum

"Die Welt war noch nie so gespalten" lauten die Kommentare etablierter Medien. Der weltweite Konsens über Wirtschaft und Staatsführung wird intern wie extern infrage gestellt. Was sind das für Spaltungen? Was ruft sie hervor? Wie können wir ihnen begegnen?

Als erste Spaltung kann man die steigende Spannung zwischen dem Westen und dem Rest der Welt sehen. Der Westen – die Vereinigten Staaten, Kanada, Europa und Australien – hat eine Reihe weltweiter Institutionen, Regeln und Normen festgelegt, die dabei helfen, die weltweite Ökonomie und Geopolitik zu steuern und gleichzeitig ihren Status quo und ihre Privilegien aufrecht zu erhalten. Während diese Struktur einigen nicht westlichen Ländern geholfen hat, wurde auch deutlich, welche Länder das Sagen haben und ebenso, wie ungleich und aus welchen Gründen Gewinne aufgeteilt werden.

Diese Weltordnung wird durch den Aufstieg von Mächten wie China, Indien, dem Iran und der Türkei infrage gestellt. Es sollte nicht überraschen, dass diese Länder in Anbetracht ihrer Bevölkerungs- und Wirtschaftsgrößen, ihrer langen Geschichte und reichen Traditionen, ein größeres Mitspracherecht bei der Organisation der Welt wollen. Diese Bemühungen und rechtmäßigen Forderungen werden von denjenigen Ländern bekämpft, die gegenwärtig an der Spitze stehen, und die die Hauptnutznießer der bestehenden Weltordnung sind.

Tiefe gesellschaftliche Gräben

Die zweite Spaltung betrifft die Eliten und die gewöhnlichen Leute. Wenn ich von "Elite" spreche, meine ich damit einen sehr auserwählten Bevölkerungsteil: diejenigen, die die finanziellen Mittel haben, Privatschulen zu besuchen oder die beste Schulbildung zu genießen, eine Erziehung an führenden westlichen Universitäten, die die Berufserfahrungen bei einem der bedeutenden westlichen Unternehmen sammeln konnten und diejenigen, die Zugang zu allen wesentlichen globalen Netzwerken haben. Ein solcher Hintergrund prädestiniert einen für den Erfolg und stellt sicher, dass man "ernst genommen" wird, auch, wenn man gar kein Verlangen oder keine Befähigung besitzt, die wesentlichen Herausforderungen der Welt anzugehen. Auch die sogenannten Entwicklungsländer können sich dessen schuldig machen; da nur wenige Menschen das Privileg hatten, im Ausland leben, lernen und arbeiten zu können, ist die hier Auslandserfahrung ein umso größeres Statussymbol. Eliten schaffen noch mehr Elitismus und erzeugen tiefe gesellschaftliche Gräben.

Natürlich ist nichts verkehrt an Auslandserfahrungen oder sogar an Privilegien. Doch diese besondere Erfahrung, die als "wertvoll" erachtet wird, beschränkt sich auf nur wenige Institutionen. Anstelle von Meritokratie bilden in zunehmendem Maße Geld und Netzwerke die Zugangswege: Eton und Harrow in puncto Internatsschulen; Harvard und Stanford, was Universitätsausbildung betrifft; McKinsey, Goldman Sachs und verstärkt Facebook, was Arbeitserfahrung anbelangt. Die Wege zum "Erfolg" und all ihre oft käuflichen Vergünstigungen scheinen mit jedem Jahrzehnt enger zu werden.

Front eines Rolls Royce mit Kühlerfigur
Wenn ich von "Elite" spreche, meine ich damit einen sehr auserwählten Bevölkerungsteil: diejenigen, die die finanziellen Mittel haben, Privatschulen zu besuchen (…), eine Erziehung an führenden westlichen Universitäten, (…) Zugang zu allen wesentlichen globalen Netzwerken (…). Foto: Joe Darams via Unsplash

Monopol der Technologieunternehmen

Die dritte Spaltung ist die zwischen Technologieunternehmen und den Nicht-Verbundenen. Technologieunternehmen beherrschen den Markt mehr und mehr: Nur ein Monopol kann die Erwartungen ihrer Investoren erfüllen. Allerdings scheinen die meisten Technologieunternehmen grundsätzlich uninteressiert daran zu sein, über die Auswirkungen ihrer Geschäftsmodelle gründlich nachzudenken, oder über die Macht, die sie besitzen, oder über ihre langfristigen Auswirkungen auf die Gesellschaft. Facebook zum Beispiel ist sehr nachlässig mit den Daten seiner zwei Milliarden Nutzer umgegangen und hat damit herumgetrödelt, eine angemessene Diskussionsleitung auf seiner Plattform einzuführen, was zu Datenschutzskandalen geführt hat, zu politischer Einmischung und, noch schlimmer, zu ethnischer und regionaler Gewalt in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Regierungen, die den Gefahren der sozialen Spaltung durch diese Unternehmen bisher nichts ahnend gegenüberstanden, beginnen jetzt erst zu handeln.

Auch früher schon gab es große Unternehmen mit Monopolmacht, aber diese haben selten von sich behauptet, ihr Produkt oder ihre Dienstleistung sei die Lösung für alle Probleme der Welt. Die Technologieunternehmen behaupten aber und wollen uns glauben machen, dass eine höhere digitale Vernetzung – und somit auch der Zugang zu ihren Plattformen – die Lösung aller Probleme sei, egal, ob es dabei um sanitäre Versorgung, Rassismus oder sogar um den Kampf gegen Umweltverschmutzung geht. Auch wenn sie sich selbst dabei hoffnungslos überschätzen, sind viele, die ein Eigeninteresse an diesem Narrativ haben, prinzipielle Verfechter davon – und das schließt die Absatzmärkte der meisten führenden globalen Medien ein.

Zugang zu Ressourcen

Auffangen von Trinkwasser mit den Händen
Hunderte Millionen von Menschen überall auf der Welt haben noch immer keinen gesicherten Zugang zu Grundbedürfnissen (...). Foto: Mrjn Photography via Unsplash

Die vierte Spaltung trennt diejenigen, die Zugriff auf Ressourcen haben und jene, denen er verwehrt bleibt. Hunderte Millionen von Menschen überall auf der Welt haben noch immer keinen gesicherten Zugang zu Grundbedürfnissen, wie sauberem Essen und Wasser, einer sicheren Unterkunft, angemessenen sanitären Einrichtungen, einem stabilen Zugang zu Elektrizität und so weiter. Um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden, bedarf es einer Menge Ressourcen – und die können somit nicht für andere Zwecke eingesetzt werden.

Wohlhabende Bevölkerungsgruppen verweigern jedoch den ärmeren diesen Zugang, und zwar durch ihren eigenen übermäßigen Konsum – egal, ob es dabei um Wasser geht, mit dem man Schwimmbassins im ausgedörrten Kalifornien füllt, oder um Smartphones mit konfliktträchtigen Mineralien, die in Afrika abgebaut werden.

Kulturelle Vorherrschaft

Die letzte Spaltung verläuft zwischen denen, die kulturelle Macht haben und jenen, die keine haben. Die globale Kultur (insofern man davon sprechen kann) wird in Wahrheit von einer sehr begrenzten Anzahl von Ländern angetrieben: die Vereinigten Staaten, ein paar europäische Länder und vielleicht noch Japan. Regionale kulturelle Machtzentren, wie etwa Indien, China und Nigeria, haben noch nicht die weltweite Präsenz der amerikanischen Kultur. Letztere verdankt sich keinem immanenten Wert, sondern ist die Folge der vergangenen Jahrhunderte westlicher Dominanz, geprägt durch den Amerikanischen Exzeptionalismus der letzten siebzig Jahre.

Trotz dieser kulturellen Vorherrschaft werden Bemühungen, eine regionale Kultur zu erhalten, oftmals als Beweis für Provinzialismus hingestellt – so zum Beispiel Kanadas Quoten für vor Ort produzierte Ware oder Chinas strenges Zulassungssystem für ausländische Medien.

Die Bedrohung kultureller Vielfalt ist an sich schon schlecht, sie hat aber auch eine wirtschaftliche Auswirkung. Im Moment ist die weltweit einzige Vorstellung vom "guten Leben" die des Westens: ein zweistöckiges Haus in der Vorstadt, zwei Autos, die neuesten Vorrichtungen und technischen Spielereien sowie ein ausufernder Speiseplan, der von Verschwendung und Überkonsum geprägt ist. Leider sehen selbst Länder, die sehr unterschiedliche wirtschaftliche und politische Modelle verfolgen, wie etwa China, den "American Way of Life" immer noch als Symbol für modernen Wohlstand.

Das aber ist gefährlich, da der amerikanische Lebensstil Unmengen an Ressourcen verbraucht, weit mehr, als die Erde bieten kann. Dieser Lebensstil wurzelt im Glauben, es könne keine Grenzen für den menschlichen Konsum geben, da mit Einfallsreichtum jede Beschränkung zu überwinden ist. Wenn alle Menschen diesen Lebensstil verfolgten, was passieren wird, wenn wir keine brauchbaren Alternativen aufzeigen können, ist die Erde am Ende.

Eine Frage der Macht

Was haben all diese Spaltungen gemeinsam? Was sie verbindet, ist, dass sie gleichermaßen die Mächtigen betreffen, als auch diejenigen, die keine Macht haben. Ob es um die Kontrolle von Ressourcen geht, um das Aufstellen von Regeln oder darum, eine Definition für "das gute Leben" zu finden: All diese Spaltungen gründen auf der klaren und ungleichen Verteilung von Macht. Im Westen gibt es eine lang überfällige Debatte darüber, wie Macht und Einfluss im Inland verteilt sind. Viele Menschen in den Vereinigten Staaten und Europa haben erkannt, dass die Machthaber ein wirtschaftliches System entwickelt haben, das ihre Vorrechte auf Kosten anderer aufrechterhält und sogar glauben, dass dies ihr Recht sei. Die Folge davon ist der Aufschwung des "Populismus".

Doch obwohl es gut ist, dass diese Debatte stattfindet, unternimmt fast niemand den nächsten Schritt und stellt sich dem Elefanten im Raum, dem eigentlichen Problem: nämlich dem Übergang von einer nationalen Machtaufteilung hin zu einer globalen. Dies wird eine aufrichtigere Abrechnung mit den eigenen Privilegien erfordern. Ein Mensch der Mittelklasse mag zurecht der Meinung sein, er würde von den britischen oder sogar von anderen europäischen Eliten ausgenutzt. Betrachtet man es aber global, geht es ihm sehr gut: Er hat Zugang zu sauberem Essen und Wasser, ein anständiges Zuhause mit angemessener Sanitärversorgung und einen verlässlichen Zugang zu Energie, Bildung und dem Gesundheitswesen. Niemand wird ihm dies missgönnen.

Graffity mit geballten Fäusten
Werden wir tatsächlich eine aufrichtige Bilanzierung dieser weltweiten Machtverteilung erleben? Da dafür ein gründliches Nachdenken über westliche Privilegien nötig wäre, ist die Antwort wohl "vermutlich nicht". Foto: Jon Tyson via Unsplash

Aber noch wichtiger ist, dass dieses Wohlergehen der Bürger zum Teil in der globalen Teilung begründet liegt und durch jene Spaltungen, die Teil des Status quo sind, erhalten bleibt. Das ist es, was der reiche Westen als die "regelbasierte Weltordnung" bezeichnet, die aber in Wirklichkeit als Codewort für die Erhaltung vergangener Privilegien steht, von denen ein Großteil seine Wurzeln in der historischen Ausbeutung hat, welche Reichtum geschaffen und wiederum die Gewährung dieser Privilegien ermöglicht hat. Damit profitieren sie tatsächlich auch von dieser tiefverwurzelten globalen Spaltung, deren Samen vor Jahrhunderten gesät wurde.

Werden wir tatsächlich eine aufrichtige Bilanzierung dieser weltweiten Machtverteilung erleben? Da dafür ein gründliches Nachdenken über westliche Privilegien nötig wäre, ist die Antwort wohl "vermutlich nicht". Doch wenn die Welt sich tatsächlich weiter polarisiert, sollten wir uns über die Gründe hierfür im Klaren sein: Die Spaltung der Welt basiert auf einer zunehmenden Unzufriedenheit mit der globalen Machtverteilung und dem Glauben vieler auf der Welt, dass sie verändert werden muss.

Übersetzt aus dem Englischen von Alexander von Michael

Über den Autor
Portrait Chandran Nair
Chandran Nair
Gründer der Denkfabrik "Global Institute For Tomorrow"

Chandran Nair gründete das "Global Institute for Tomorrow", einen unabhängigen Thinktank in Hongkong, den er als Geschäftsführer leitet. Er ist unter anderem Mitglied des Global Agenda Council for Environment and Sustainability des Weltwirtschaftsforums, der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Nair setzt sich für eine radikale Reform des gegenwärtigen Wirtschaftsmodells und strenge Begrenzungen des Konsums ein.

Bücher (Auswahl):  

  • Dismantling Global White Privilege: Equity for a Post-Western World. Berrett-Koehler, Oakland, CA 2022
  • The Sustainable State: The Future of Government, Economy, and Society. Berrett-Koehler, Oakland, CA 2018
  • The Other Hundred Entrepreneurs: 100 Faces, Places, Stories. Oneworld, London  2015
  • Der große Verbrauch: Warum das Überleben unseres Planeten von den Wirtschaftsmächten Asiens abhängt. Riemann, München 2011