Die Stimme der Stillen

Ob vor der Kamera als KZ-Kommandant oder dahinter auf der Suche nach den blinden Flecken deutsch-deutscher Geschichte – Stefan Weinert beschäftigen die Traumata, die vielen auch 30 Jahre nach dem Mauerfall wie ein Stein auf der Seele liegen.

ifa: Am 9. November 1989 wurde in Berlin ein Stück Weltgeschichte geschrieben. Viele Ostdeutsche erinnern sich noch genau, was sie an jenem Abend, als die Mauer fiel, gemacht haben. Sie sind gebürtiger Kölner, damals waren Sie 25 Jahre alt. Können Sie sich noch erinnern?

Stefan Weinert: Ich war für mein Studium gerade in Wien und saß in der Küche meiner WG, als ich die Bilder im Fernsehen sah. Ich habe zwei Tage gebraucht, um das zu glauben. Ich dachte, wenn etwas fällt, dann alles, aber nicht die Mauer. Klar hatte ich mitbekommen, dass die Grenze zwischen Österreich und Ungarn langsam abgebaut wurde, aber dass die Mauer fallen würde, damit hatte ich nicht gerechnet.

ifa: 20 Jahre später haben Sie einen Dokumentarfilm über fünf ehemalige DDR-Bürger gemacht, die wegen ihrer Versuche, in den Westen zu fliehen, inhaftiert wurden. Was hat Sie zu diesem Film bewogen?

Weinert: Der Film hat eine lange Vorgeschichte. Als ich in den 1990er-Jahren in Barcelona gelebt habe, wurde ich immer wieder gefragt, wie wir Deutschen mit der ehemaligen SED-Diktatur umgehen. Ich habe das lange als ein Thema abgetan, das nichts mit mir zu tun hat. Aber irgendwann stellte ich fest, dass ich von der jüngeren deutschen Geschichte einfach keine Ahnung hatte. Ich fing an, mich damit zu beschäftigen, aber damals war es sehr schwierig, an Informationen zu kommen. Es gab zwar Dokumentationen und Reportagen, aber die waren meistens ziemlich weichgespült. Die Brutalität der Geschichten, die ich später hörte, spielte darin keine Rolle. 2002 zog ich für Dreharbeiten nach Berlin und war dort mit den Geschichten von Kollegen über Republikflucht und den damit verbundenen Bestrafungen konfrontiert. Es machte mich wütend, dass das bis dahin nie erzählt worden war. Da wurde mir klar, dass ich mit dem Thema arbeiten wollte. Ursprünglich hatte ich einen Spielfilm geplant, aber alle Produktionsfirmen versicherten mir: Staatssicherheit, Unterdrückung – so etwas Langweiliges will niemand sehen. Und weil ich praktisch kein Geld hatte, entschied ich mich für einen Dokumentarfilm.

ifa: War es ein Vorteil, sich dem Thema als jemand mit Westbiografie zu nähern?

Weinert: Absolut, ja. Ich wurde mitunter auf meine politische Einstellung, unter anderem zur Partei Die Linke, getestet. Der Sohn einer der Erzählerinnen bestand zum Beispiel darauf, dass ich mich mit ihm treffe, bevor ich mit seiner Mutter reden durfte. Es war ihnen sehr wichtig, dass ich selbst nicht befangen war, also nicht argumentiere, dass man in der DDR doch gut hatte leben können und ich ihre Biografien vielleicht im Nachhinein verdrehe.

ifa: Im Film erzählt Andreas, einer der Protagonisten, zum ersten Mal von seinen traumatischen Erlebnissen, den Methoden der Zersetzung wie Schlafentzug, stundenlange Verhöre, Isolation. Wie haben Sie das Vertrauen zu den Erzählerinnen und Erzählern aufgebaut?

Weinert: Es war ein sehr langer Prozess. Ich habe viel Zeit mit ihnen verbracht, zugehört, aber auch viel von mir erzählt. Insgesamt habe ich mehr als drei Jahre gedreht. Es gibt im Film diesen Moment, in dem Andreas in die Kamera schaut und man das Gefühl hat, dass er sich dem Sinn, das alles zu erzählen, bewusst wird. Dieser Blick, dass er vielleicht zum ersten Mal gehört wird und anderen vermitteln kann, wie es ihm damals ging, das war auch für mich ein sehr wichtiger Punkt.

ifa: Heute wissen wir, dass nicht verarbeitete Traumata in die nächste Generation weitergegeben werden können. Waren Ihre Filme auch ein Beitrag, um diese Traumata zu verarbeiten?

Weinert: Ich wollte diesen Menschen vor allem eine Plattform geben und ihre Geschichte erzählen – insbesondere in der Debatte, ob die DDR nun ein Unrechtstaat war oder nicht. Es ging mir in erster Linie darum, diese Traumata sichtbar zu machen, denn das betrifft ja in der Regel Menschen, die nicht in die Öffentlichkeit gehen. Es ist wichtig, sich die Dimension bewusst zu machen. Wenn wir uns allein die Zahl der politisch Inhaftierten anschauen – 200.000 bis 250.000 – und bedenken, wer eigentlich noch betroffen ist, dann ist das ja nicht nur die Person, die inhaftiert wurde; es sind die Eltern, Geschwister, vielleicht auch Partner. Ausgehend von 250.000 sprechen wir also von einer Million Menschen – und das nur in Bezug auf die politische Inhaftierung.

ifa: Sie sind mit den Protagonisten an die Orte des Geschehens zurückgegangen, zum Beispiel in das Stasigefängnis Hohenschönhausen. Wie sind Sie mit dem Risiko umgegangen, die Menschen zu retraumatisieren?

Weinert: Das ist eine wichtige Frage. Ich war sensibilisiert für das Risiko. Ich wusste, dass so etwas passieren kann. Ich hatte bei einem anderen Filmemacher mitbekommen, wie zwei Protagonisten, auch ehemals Inhaftierte, während der Dreharbeiten so heftig retraumatisiert worden, dass sie anschließend in die Psychiatrie mussten. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich habe sehr eng mit Psychologen und Therapeuten zusammengearbeitet. Es war wichtig, den Erzählern immer die Möglichkeit zu geben auszusteigen, ihnen das Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit zu vermitteln. Das konnte zum Beispiel ein Hund sein, der bei den Dreharbeiten immer dabei war.

ifa: Wie Deutschland seine Vergangenheit in der Gegenwart präsent hält, gilt als beispielhaft. Erst 2018 wurde das Forscherpaar Jan und Aleida Assmann für seine Arbeit zur Erinnerungskultur mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Gibt es etwas, das Sie in der aktuellen Erinnerungskultur vermissen?

Weinert: Wir haben in Deutschland eine Erinnerungskultur, die in den Händen der Historiker liegt. Sie bestimmen die gesellschaftliche Debatte, wie man mit Vergangenheit umgeht, und das ist aus meiner Perspektive ein Problem. Sie blicken ganz anders auf Geschichte als Psychologen oder Soziologen. Ich würde Historiker gerne einladen, andere Bereiche in ihre Arbeit einzubeziehen.

ifa: Inwiefern?

Weinert: Man kann das vielleicht ganz gut am Film "Die Familie" erklären, in dem Angehörige der Maueropfer zu Wort kommen. Aus der Historikerperspektive wird die Biografie des Erschossenen erzählt. Anhand des Films kann man aber sehen, dass hinter dieser Biografie noch viele andere Personen stehen, die Mutter, die Partner, die Geschwister, die ebenfalls betroffen sind. Diese Traumata sind auch Teil der Geschichte und müssen in der Aufarbeitung eine Rolle spielen. Da können Soziologen und Psychologen einen wichtigen Beitrag leisten. Ich glaube, es ist eine Bereicherung, sich diesem Thema von verschiedenen Seiten zu nähern.

ifa: Der Film "Gesicht zur Wand" endet mit dem Hegel-Zitat "Aus der Geschichte der Völker können wir lernen, dass die Völker nichts aus der Geschichte gelernt haben." Was entgegnen Sie den Forderungen der AfD nach einem Schlussstrich und einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad"?

Weinert: Ein Schlussstrich ist mit unserer Vergangenheit nicht möglich. Es ist wichtig, über das zu sprechen, was im Argen liegt. Und davon gibt es einiges. Das ist mir in den letzten Jahren immer wieder bewusst geworden. Als Schauspieler habe ich mich deutscher Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln genähert. Anfang des Jahres habe ich zum Beispiel in einer polnischen Serie einen NS-Schergen gespielt, der für die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes 1944 verantwortlich war. Das ist in Deutschland kaum ein Thema.

ifa: Im September 2019 sind Sie für das Vortragsprogramm der Bundesregierung in die australischen Städte Adelaide, Brisbane und Melbourne gereist. Ihre Filme wurden hauptsächlich an Universitäten gezeigt. Wie haben Sie die Themen dort vermittelt? Vermutlich hatte das Publikum vorher wenig Berührungspunkte mit DDR-Geschichte.

Weinert: Ich habe am Anfang meiner Vorträge gefragt, wer das Buch "Stasiland" von der Australierin Anna Funder gelesen hatte. Das war meistens die Mehrheit. Als dieses Buch 2002 erschien, habe ich darauf mit völliger Ablehnung reagiert. Ich konnte nicht verstehen, wie jemand, der nie in dieser Zeit, nie in diesem Land gelebt hatte, ein Buch über ostdeutsche Geschichte schreiben konnte. Als ich dann wenige Jahre später die Arbeit an meinen Dokumentarfilmen begann, war ich plötzlich selbst in dieser Rolle und begegnete dem gleichen Argument. Dieses Erlebnis war in Australien mein Türöffner. Thematisch habe ich den Bezug über die Verantwortung für die indigene Bevölkerung und deren Traumata hergestellt. Zwar wird inzwischen zu Beginn jeder offiziellen Veranstaltung an die indigene Bevölkerung erinnert, aber viele Geschichten werden bisher nicht oder nur im kleinen Kreis erzählt.

ifa: Und wie hat das Publikum auf Ihre Filme reagiert?

Weinert: Interessant war, dass auch einige Deutsche mit Ostbiografie zu den Veranstaltungen kamen. Sie haben zum Teil empört reagiert, die Diktatur verklärt. Aber das Publikum war gemischt, und das Interesse groß. In Adelaide kamen fast 500 Leute. Was mich begeistert hat, war die Offenheit und das Interesse der unterschiedlichen Fachbereiche. Da saßen die Soziologen, Psychologen, und Künstler – Menschen, die sich aktiv mit unserer Gesellschaft auseinandersetzen –, die ich in Deutschland in meinen Veranstaltungen oft vermisse.

Ich glaube, dass sich beide Seiten mehr zuhören und miteinander reden sollten. Ich bedauere sehr, dass kein echter Dialog stattfindet. 

ifa: Welche Ideen und Eindrücke haben Sie mit zurück nach Deutschland genommen?

Weinert: Ich fühle mich bestätigt darin, andere Bereiche einzuladen, sich in die Debatte um die Aufarbeitung der SED-Diktatur einzubringen. Deutsch-deutsche Geschichte ist nicht nur ein Thema von Historikern und ehemaligen Bürgerrechtlern, sondern all jener, die sich mit Gesellschaft und den Folgen einer Diktatur auseinandersetzen. Ich persönlich werde mich intensiver mit australischer Erinnerungskultur beschäftigen. Ich glaube, dass es Außenstehende immer leichter haben, unangenehme Kapitel der Vergangenheit anzusprechen. Sie haben die nötige emotionale Distanz.

ifa: Mit welchen neuralgischen Punkten deutscher Erinnerungskultur werden Sie sich demnächst beschäftigen?

Weinert: In meinem nächsten Film geht es um das Thema Zwangsadoptionen in der DDR. Es hat mich überrascht, dass 30 Jahre nach dem Mauerfall sehr wenig darüber erforscht ist. Erst 2018 hat sich eine Vorstudie genauer damit beschäftigt. Geplant ist eine Fernsehfassung, die im Herbst 2020 im RBB ausgestrahlt werden soll, aber auch eine längere Kinofassung, um den Menschen und ihren Geschichten gerecht zu werden.

ifa: Ist Ihnen noch etwas wichtig, wonach ich nicht gefragt habe?

Weinert: Ja, ich bin etwas traurig über die Tatsache, dass wir heute, wenn wir über 30 Jahre Mauerfall reden, die DDR immer mit dem Jetzt vergleichen. Das, was wir heute erleben, ist nicht die BRD und auch nicht die DDR von 1989. Wir leben in einer anderen Zeit mit anderen, auch komplexeren Themen. Ich finde, dass oft sehr romantisierend auf die DDR geschaut wird. Mir fehlen die Nuancen und auch die Westgeschichten. Ich glaube, dass sich beide Seiten mehr zuhören und miteinander reden sollten. Ich bedauere sehr, dass kein echter Dialog stattfindet. Es gibt viele Vorstellungen darüber, wie etwas oder jemand ist. Die Unzufriedenheit entsteht dadurch, dass man die Probleme vor Ort oft gar nicht kennt, aber darüber redet, als würde man sie kennen. Die Leute fühlen sich übergangen. Umso wichtiger ist es, dem Bedürfnis, gehört zu werden, stattzugeben.

Interview von Juliane Pfordte

Über den Autor
Stefan Weinert
Schauspieler und Filmemacher

Stefan Weinert studierte Schauspiel sowie Bühnen- und Filmgestaltung in New York und Wien. Seit 1996 steht er weltweit für TV- und Kinoproduktionen vor und hinter Kamera. "Gesicht zur Wand", sein erster Dokumentarfilm aus dem Jahr 2009 wird international als Film für die Aufarbeitung deutsch-deutscher Geschichte gezeigt. 2013 folgte "Die Familie", ein Film, der Angehörige der Maueropfer porträtiert.

Vortragsprogramm der Bundesregierung

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