Illustration: Europaflagge mit Steckdose und Drähten.

Die verschollenen Teile Europas

Die Länder außerhalb der Europäischen Union im Osten führen vor Augen, dass Europa nicht gleich Europa ist. Ihre Zugehörigkeit zum Kontinent wird durch die Geschichte untermauert. Gibt es eine gemeinsame Kulturpolitik, die ihre Integration fördert?

Es gibt Orte in Europa, dicke Streifen, lange Breiten, ganze Gegenden, ein halbes Dutzend Länder, die anders sind. Die die Vorstellung davon, was Europa einmal war und was es heute ist, sehr viel schwieriger machen. Weil mehrdeutiger. Dafür können sie, wenn man Glück und Beharren hat, einen aber auch einfühlsamer machen. Denn sie verkomplizieren den Begriff Europa und hinterfragen ihn. Für manche betrüben und entstellen, für andere verstellen, verwischen und verwässern sie ihn. Vom Eigentlichen in Europa ablenken und das Spiel verderben. Europa verspielen.

Für mich wiederum nur und immer bereichern und erweitern. Für alle allerdings und auf jeden Fall – herausfordern. Europa verspielter machen, nicht verspielen.

Einfach einzuordnen im heutigen Europa, in dem, was heutzutage als „europäisches Geschehen“ gilt, sind diese Gegenden beileibe nicht. Sie zwingen zu Revisionen und erzwingen Ausnahmen und Sonderzulassungen, produzieren Sonderfälle und nötigen zu Sonderbedingungen. Eingeständnisse gehen da mit Vorbehalten einher, Sukzessionen mit Konzessionen. Sie führen zu Differenzierungen und lassen das wenig angenehme Ende der Eindeutigkeit irgendwo ganz in der Nähe erahnen. Sie bedeuten Uneindeutigkeit, denn sie sind selber lauter Uneindeutigkeiten in und für sich.

Diese Gegenden zwingen zu Revisionen und erzwingen Ausnahmen und Sonderzulassungen, produzieren Sonderfälle und nötigen zu Sonderbedingungen.

Der Umgang mit ihnen ist zäh und mühsam, das Verstehen immer aufwendig und beglückt oft wenig. Macht nicht eben gerade gleich glückselig. Und doch lohnen sich beide, denn diese Gegenden haben mehr, vielfältiger und stärker mit Europa zu tun, als es dessen anderen, sich eindeutiger und unmissverständlicher wähnenden Teilen bewusst, vielleicht auch lieb und bequem wäre. Eine Auseinandersetzung mit diesen anderen, mit diesen anders (gewordenen) europäischen Gegenden ist zwar immer aufwendig, aber am Ende macht sie einen vielleicht wenigstens in einem einsichtiger.

Europa: Werden statt sein?

Es scheint mir manchmal, die wichtigste Aufgabe dieser Gegenden, der Gegenden wie der meinen, besteht darin, den Begriff und die Vorstellung von Europa, die immer – immer wieder – nach Vereinfachung und vor allem nach vermeintlicher Klarheit streben, zu erschweren. Ihre Hauptfunktion ist die: zu veranschaulichen und vorzuleben, dass Europa etwas Gemachtes ist und nicht etwas Gegebenes, ein Werden und kein Sein, eine beständige Produktion und kein fertiges Produkt. Eine Idee und ein Ideal, das schon, aber keine Substanz und auch keine Essenz. Ein unaufhörliches und nur sehr schwer – wenn überhaupt – zu befriedigendes Begehren und nie ein bedingungsloses Haben. Dass kein Europa eben eine Selbstverständlichkeit weder ist noch bringt. Und vor allem, dass Europa nichts Endgültiges ist, weder im Sinne von fertig noch im Sinne von ewig.

Diese Gegenden sind die lebenden Dekonstruktivisten (vorausgesetzt man nimmt sie überhaupt zur Kenntnis, man ahnt etwas von deren Existenz). Denn sie führen stets und ständig vor Augen, dass Europa nicht gleich Europa ist. Das von heute. Und – wenn man willens ist, weiter zurück in die Geschichte zu gehen –, dass Europa niemals sich selber identisch war, sondern immer schon Zweifel und verzweifelte Suche nach Vergewisserung, Versuch und Versuchung, Entwurf und Verwerfung, Korrektur und Kurswechsel. Dass sein geistiges und vielerorts auch legitimes juristisches Zentrum, seine Werte, um die sich dieser partielle Kosmos zu drehen bemüht, sich allzu oft als Vakuum herausstellte und entblößte, als dass man von den „ewigen Werten“ sprechen und sie behaupten könnte. Und dass ohne dieses Beharren und Bemühen Europa als ein gültiger und gemeinsamer Wert überhaupt keinen Sinn hat.

Erinnerung und Mahnung für Besteuropa

Die europäischen Länder und Gegenden, in denen es heute mit Demokratie und Menschenrechten, mit Umweltzustand und Umwälzungen, mit Bürger- und Beamtenmoral, mit Gerechtigkeit und Richtigkeit der Argumente und Ausreden, warum es hier so ist, wie es ist – und noch mit unzähligen anderen Dingen – schlechter bestellt ist, sind für Besteuropa zugleich Erinnerungen und Ermahnungen. Und haben mit ihm daher schon deshalb viel mehr zu tun und machen die krassen Unterscheidungen in genuin unterschiedliche europäische Regionen so fragwürdig. Denn diese Teile Europas vergegenwärtigen allen im Augenblick besser europäisch situierten Ländern ihre Vergangenheit und führen auch potenzielle – manchenorts vielleicht sogar wahrscheinliche – europäische Vergänglichkeit vor Augen.

12 Spinde mit bunten Türen
Foto: Moren Hsu via unsplash

Diese Gegenden erinnern Europa an die Existenz der Welt. Denn nirgends finden gravierende Veränderungen von weltweiter Bedeutung so früh, so gravierend und so plastisch statt wie hier. Gut möglich, dass die schlechter bestellten europäischen Länder nur das vorwegleben, was dann den anderen noch bevorsteht. Im Guten wie im Schlechten. Eine Sonderzone daraus zu machen, die es fernzuhalten gilt, käme daher einer unverzeihlichen Blindheit gleich. Es ist erfreulicher, Gutes zu teilen und naheliegender, Schlechtes gemeinsam zu bewältigen, als in Gut und Böse zu spalten, was es hier auf Erden in dieser Reinheit sowieso nicht gibt. Es ist auch gut möglich, dass diese Streifen gerade deswegen so wenig beachtet werden, weil man in und mit ihnen eigene unangenehme historische Reminiszenzen und unerfreuliche künftige Aussichten schlicht und einfach zu verdrängen sucht.

Gibt es eine gemeinsame europäische Geschichte?

Es gibt heute europäische Länder – mein Land, die Ukraine, gehört sicherlich dazu –, die sich sehr schwer tun, ihre Zugehörigkeit zu Europa anders als durch die als gemeinsam reklamierte Geschichte für sich und andere plausibel zu machen. Denn alles andere, alles Heute, sämtliche Realitäten scheinen sich dagegen verschworen zu haben, das Europäische in ihnen zu belegen. Alles Aktuelle, sei es in der Politik, Kultur oder in den Entwicklungsrichtungen, sämtliche Prioritäten, öffentlich gelebte Werte, ausschlaggebende Lebensentwürfe, Alltagsästhetiken und Architektur, Umwelt und Technologien, die Art und Weise, wie sich hier der Eros präsentiert, scheinen nur dazu da zu sein, das Gegenteil zu beweisen, indem sie gleichsam einstimmig eine Kontradiktion dazu abgeben, was „europäisch“ zu sein hat, wie „Europa“ sein sollte.

Andererseits scheint das, worüber im Moment ein Konsens besteht, „europäisch“ zu sein, einen völlig anderen Weg beschritten zu haben und sich sehr wenig bis gar nicht zu kümmern, wie es mit diesen verdrängten, verschollenen, nicht begehrten Teilen Europas bestellt ist. Das Europa von heute wächst immer stärker mit der EU-Identität zusammen. Bis zur Tautologie. EU und Europa sind nicht nur meto-, sondern sogar synonymisch geworden. Wenn jemand eine andere Bedeutung von Europa als diese anstrebt, muss er es eigens apostrophieren. Das bedeutet, die europäischen Nicht-EU-Länder müssen es ständig bemühen. Für die anderen, aber vor allem für sich selbst.

Dazugehören wollen, aber nicht dazugehören dürfen

Diese Mühe ist nicht überall gleich mühsam. Besonders beschwerlich ist sie für diejenigen europäischen Nicht-EU-Länder, die – anders als etwa die Schweiz oder Norwegen – nicht aus eigenem Willen und auch nicht aus eigener Entscheidung nicht zum EU-Europa gehören, sondern weil sie dort nicht gewollt und nicht begehrt werden. Nicht gewollt und nicht begehrt zu werden sind schwer zu ertragende Erfahrungen. Dazugehören zu wollen und nicht dazuzugehören zu dürfen ebenfalls. Das beeinträchtigt das Selbstgefühl sehr. Und nicht nur das europäische – aber dieses besonders stark.

Denn nirgends ist die Überzeugung schwächer, wirklich Europa zu sein, als hier. Und nirgends schwindet sie rascher. Nirgends ist das europäische Minderwertigkeitsgefühl so groß. Und nirgends hat es eine solche Hochkonjunktur. Der europäische Selbstzweifel erreicht hier das Maß der Verzweiflung, und der europäische Selbsthass ist so stark, überzeugt zu sein, das auch selbst verursacht und zu Recht verdient zu haben, um dafür mit der Nicht-Zugehörigkeit zu Europa bestraft zu werden.

Besonders beschwerlich ist sie für diejenigen europäischen Nicht-EU-Länder, die – anders als etwa die Schweiz oder Norwegen – nicht aus eigenem Willen und auch nicht aus eigener Entscheidung nicht zum EU-Europa gehören, sondern weil sie dort nicht gewollt und nicht begehrt werden.

Deshalb klammern sich die Menschen hier so an die Geschichte, von der sie glauben, dass es eine vielsagende und vielbedeutende gemeinsame europäische Geschichte ist. Meistens ist sie das auch wirklich. Nur die Leidenschaft, mit der man sich immer wieder vergewissert und sie auch hochträgt und pflegt, mag etwas seltsam anmuten bei denjenigen, von denen man nicht einmal annimmt, dass sie dazugehören und mit denen, die dazugehören, eine gemeinsame Geschichte und Kultur teilen könnten. Geschichte ist unser größtes Alibi. Und unser wichtigstes – weil anscheinend einziges – Argument. Das Anscheinende ist oft das Scheinbare. Nur nützt es uns wenig, weil wir das meistens nicht sehen.

Selten wird man so viele so skurrile Sammler und Hüter von Historien, die auf die einmalige europäische Gemeinsamkeit verweisen, treffen wie hier. Selten wird man erleben, wie stark diese Geschichten mit der gefühlten Gegenwart und mit der ersehnten und begehrten Zukunft zu tun haben. Andernorts lächerliche Fakten zelebriert man hier mit existenzieller Ernsthaftigkeit, die seinesgleichen sucht. Man kann es befremdend oder lächerlich finden oder gar als obskur und unmodern abtun. Mir machen diese Sachen Hoffnung. Denn erstens zeugen sie für mich vom starken Willen, doch dazu zu gehören, sich mit allen zugänglichen Mitteln als eben europäisch auszuweisen und zu legitimieren. Andererseits sind sie immerhin viel besser und produktiver, als eigene europäische Provenienz mit einem zweiten sehr zweifelhaften Mittel zu behaupten, das zur Verfügung steht: mit der weißen Hautfarbe.

Die Beschäftigung mit der Geschichte ähnelt der Regression. Wenn sie zu kurz kommt, kommt es zu Versteifung, Stagnation und Schematismus. Wenn dagegen zu viel von der Geschichte vorhanden ist, kann man ertrinken, untergehen und den Platz im Hier und Jetzt verlieren. Genauso die seelische Regression: sie ist wie Wasser, worin man wunderbar schwimmen und die Schwünge genießen, aber auch ertrinken oder sich in finsteren Tiefen für immer verlieren kann. Zur Amphibie werden kann.

Es sollte von der Geschichte genauso viel da sein, wie es die eine oder andere Gemeinschaft gerade nötig hat, in dem einen oder anderen Augenblick. Nur: Wer kann dieses Maß schon festlegen. Vielleicht aber gibt es so etwas wie eine gesellschaftliche Intuition. Eine gesunde Person kann es gut handhaben, das notwendige Maß und den notwendigen Zeitpunkt an Regression zuzulassen und zu regulieren, manchmal auch provozieren, herbei beschwören. Eine gesunde Person erholt sich, inspiriert sich und verändert sich in der Regression. Eine gesunde Person genießt die Regression letzten Endes und profitiert davon.

Geschichte als Umfeld für Veränderungen

Genauso steht es um die Gesellschaften und ihre Geschichten. Geschichte kann ein bereitendes Umfeld für Veränderungen sein. Hinwendung zur Historie kann Inspiration bringen. Ohne Eintauchen in die Geschichte – in den Begriffen der Soziologie ohne Hinwendung zu Geschichtsdebatten – ist keine Veränderung aktueller Strukturen möglich, die aus einem oder anderem Grund die jeweilige Gesellschaft nicht mehr gelten lassen will. Jede mutige und produktive Veränderung erfolgt vor dem Hintergrund einer Hinwendung zur Geschichte, der Anrufung des Historischen: Retrospektive genannt historische Debatte.

Der Mut besteht nicht im Bruch mit der Geschichte, sondern im Versichern darin. Das macht die genaue Bedeutung des Wortes „Reform“ aus. Jeder Bruch mit der Geschichte, ein bewusster Bruch, setzt eine ziemlich gute – oder eben viel zu gute – Kenntnis der Geschichte voraus. Denn gut genug brechen kann man nur mit etwas, wovon man glaubt, es gut genug zu kennen, um damit Schluss machen zu wollen.

In unseren Teilen Europas bekommt das Bewusstsein der Geschichte eine zusätzliche Bedeutung. Manchmal ist sie nämlich der einzige Faktor, der die Sicherheit gibt, überhaupt zu Europa zu gehören. Wenn dieser Faktor schwächelt oder gar schwindet, sind lange und schwere Krisen möglich, sogar voraussehbar. Dies geschieht umso leichter und umso eher dann, wenn in Sachen Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu Europa die historischen Faktoren eine führende Rolle zu spielen aufhören und aktuelle Angelegenheiten ausschlaggebend werden.

Jeder Bruch mit der Geschichte, ein bewusster Bruch, setzt eine ziemlich gute – oder eben viel zu gute – Kenntnis der Geschichte voraus.

Dann entsteht allmählich ein Raum gemeinsamer Geschichte, zu der wir aber nicht mehr gehören, die wir nicht teilen können. Gemeinsam für andere, nicht für einen selbst. Eine Gemeinsamkeit, der man selber nicht angehört.

Mehr noch: es geschieht gar nicht das, worum es im vermeintlichen „Ende der Geschichte“ ging. Sondern etwas noch viel Schlimmeres: Geschichte – im Unterschied zu Zeit – hört auf, sich gleichmäßig auf alle Teile Europas zu legen. Die historische Zeit spaltet sich von der physischen ab. Die physische Zeit dauert weiter, die historische hingegen verlangsamt sich in manchen Gegenden, kommt gar zum Stillstand oder nimmt eine andere Richtung an. Es entstehen unterschiedliche Gegenden der historischen Zeit, verschiedene Geschichtszonen. Es vollzieht sich aber in den Gegenden, wo in Gemeinschaften vereinte Menschen leben, nicht in Naturreservaten, Urwäldern, Öden oder Steppen. Das ist kein Europa von verschiedenen Geschwindigkeiten, sondern eins von verschiedenen Zeiten.

Reservate der Geschichte

In der Geschichte entstehen Reservate, nicht in der Natur. Historische Kapseln kommen zustande, Zeitinseln, in denen die historische Zeit sich nicht bloß zu verlangsamen beginnt, sondern langsam einen eigenen Charakter entwickelt, eine besondere – abgesonderte – Logik. Eine Logik der Absonderung. Wie viel Geschichte kann man aushalten? Wie viel Geschichtsdifferenzen muss man aushalten?

Manchmal hört die Zeit auf, Gestaltung zu bedeuten und fängt an, einen vollkommenen Verfall zu belegen. Derer nimmt sich die Muse des Zerfalls an. Der Verfall wird zum wichtigsten und einzigen Ausdruck der Historizität.

Geschichte bedeutet nicht „die Vergangenheit“. Zumindest nicht nur sie. Dies ist lediglich eine Dimension des Historischen. Geschichte bedeutet vor allem die Lust auf das Historische, den Wunsch der Fortsetzung, die Fähigkeit und Fertigkeit des Erzählens. Geschichte bedeutet Sinn und Zusammenhang der Erinnerung, eine nachvollziehbare Kontinuität und Überlieferung sowie das Können, die Erzählung weiter zu führen und das Erbe zu übernehmen statt davor zu fliehen. Damit das Übernehmen des Erbes gewünscht ist, muss dieses verständlich sein und einen Sinn für das Gegenwärtige haben. Einen gegenwärtigen Sinn haben.

Nur unter diesen Bedingungen können die Regressionen in die historische Vergangenheit das Ding zum Therapeutischen haben. Wenn Geschichte als etwas Fremdes, Furchtbares und Unbegreifliches dasteht, können historische Regressionen pathogen werden. Die Gefahr der Retraumatisierung ist da besonders groß, die Gefahr, dass nur jenes aus der Geschichte wiederbelebt wird, was am pathogensten, am destruktivsten ist. In solchen Fällen ist die Geschichte nicht mehr etwas, woraus man lernen kann, sondern wird zu etwas, was zu ewiger Wiederholung verdammt ist. Je traumatischer diese Geschichte, umso höher die Gefahr einer Retraumatisierung. Ein fürchterliches Dilemma besteht darin, dass wir weder auf historische Perspektiven verzichten noch wir sie therapeutisch nützen könnten. Ohne Geschichte verschwinden letzte Reste unserer europäischen Zugehörigkeit. Mit Geschichte wird sie schwer erträglich.

Es gibt Erotik der Annäherung und Eros der Abgrenzung.

 

Das „Wir“ der „Europäer“

Was sind denn überhaupt „wir“ im europäischen Sinne? Warum wollen wir oder wollen wir einander nicht? „Wir“ sind die „Europäer“. Wir sind Mitbeteiligte einer großen und großartigen gemeinsamen Vision, die die Zukunft, die Gegenwart gleichermaßen wie die Vergangenheit anbelangt. Diese Vision ist so stark, und wir brauchen sie so sehr, dass wir bereit sind, eine gemeinsame Vergangenheit zu entdecken und diese über alle Unterschiede und Auseinandersetzungen zu stellen. Weil wir es so wollen, weil wir Europa und uns darin wollen. Denjenigen, die wir wollen und begehren, sind wir bereit, eine mit uns gemeinsame Geschichte zuzulassen und sogar zu unterstellen. Wir besetzen uns gegenseitig mit unserem Begehren, weil wir ein gemeinsames begehrtes Ziel verfolgen. Darum müssen wir uns lieben und wollen. Unsere Liebe zueinander ist der Garant, dass unser Ziel erreicht wird. Daher ist unser Europa letztlich eine Frage des gegenseitigen Begehrens. Wir lieben unsere Vorstellung und unsere Aufgabe, und wir lieben uns gegenseitig als ihre Träger und Vollstrecker.

Graffiti "Come Together" auf einer weißen Mauer
Foto: Etienne Giradet via unsplash

Es ist sehr lehrreich zu beobachten, wie weit unsere europäische Libido reicht und wo und warum sie haltmacht. Dabei werden wir lernen, dass es unter „uns“ sehr verschiedene und ziemlich unterschiedliche Vorstellungen und Vorlieben gibt. Auch bezüglich unseres gemeinsamen Ziels, und voneinander sowieso. Und wir werden lernen müssen, diese Differenzen auszuhalten, vorausgesetzt wir begehren uns wirklich und sind bereit, dafür einen spürbaren Preis zu zahlen, was uns wert ist.

Es gibt Erotik der Annäherung und Eros der Abgrenzung. Die Versuchung des Einswerdens und Versuche, man selbst zu bleiben. Komplizierte Zusammenspiele von beiden kommen oft vor. Ambivalenzen zwischen Symbiose und Autonomie.

Kulturpolitik für Europa als ein gemeinsamer kulturhistorischer Raum

Europa ist nicht eins genug, auch nicht ganz genug, um es sich leisten zu können, auf eine gemeinsame Kulturpolitik ganz zu verzichten. Eine gemeinsame europäische Kulturpolitik muss erst eine werden. Und genug von einer solchen Kulturpolitik kann es auch nur schwerlich sein. Hier öffnet sich eine seltene Chance, die Worte „gemeinsam“ und „europäisch“ ausnahmsweise Wirklichkeit werden zu lassen. Denn – im Unterschied zu den weiten Feldern gemeinsamer Wirtschafts-, Finanz-, Verteidigungs- oder Bildungspolitik ist Kulturpolitik nun wirklich eine Sache, die nicht nur für das EU-Europa, das rhetorisch und gefühlsmäßig immer mehr zu Europa schlechthin wird, gelten könnte, sondern für Europa als ein gemeinsamer kulturhistorischer Raum.

Europa ist nicht eins genug, auch nicht ganz genug, um es sich leisten zu können, auf eine gemeinsame Kulturpolitik ganz zu verzichten.

Eine gemeinsame europäische Kulturpolitik ist erstens keine gemeinsame europäische Kultur. Auch nicht die Summe von einzelnen – nationalen wie regionalen – europäischen Kulturen. Dies ist etwas Anderes.

Zweitens ersetzt sie weder einzelne europäische Kulturen (kann sie auch nicht), noch sollte sie einzelne Kulturpolitiken gänzlich ersetzen. Ergänzen sollte sie, nicht ersetzen. Aber auch nicht bloß ergänzen, vielmehr eine neue Wirklichkeit werden. Eine Wirklichkeit, in der und aus der vieles möglich wird. Viel davon, was früher nicht nur nicht möglich war, sondern als eine solche Wirklichkeit schlichtweg nicht da war.

Aufgaben einer gemeinsamen Kulturpolitik

Eine gemeinsame europäische Kulturpolitik sollte dazu da sein, das Bewusstsein und das Gefühl der europäischen Gemeinsamkeit zu stiften, indem sie demonstriert, wo die Gemeinsamkeiten liegen: historische, aktuelle, die Zukunft herausfordernde. Denn diese Kultur könnte eine besondere, eine nun wirklich gemeinsame europäische Zeitebene stiften – eine europäische Kulturzeit.

Die Emotionalität des wirklich Gemeinsamen entsteht, wenn Vorurteile abgebaut werden. Selbst positive. In der Überzeugung, dass selbst die schönsten Klischees es nicht vermögen, die Wirklichkeit zu ersetzen und nur den Platz viel spannenderer, viel überraschenderer, viel differenzierterer Erfahrungen einnehmen.

Eine gemeinsame europäische Kulturpolitik ist keine Angelegenheit der Unifizierung, sondern eine der Integration.

Das Andere, dem man mit Angst begegnet und das Bedrohliches verheißt, nennen wir das Unheimliche. Das Andere mit Neugierde und Faszination verbunden, nennen wir Exotik. Die Gratwanderung sollte darin bestehen, den Exotismus zu überwinden, ohne dass dabei die Exotik verloren geht. Wo es geht, die negative Exotik in positive zu übersetzen, zu transmutieren, zu überleiten.

Junger Mann in blauem Shirt mit den Sternen der Europäischen Union
Eine gemeinsame europäische Kulturpolitik ist keine Angelegenheit der Unifizierung, sondern eine der Integration, Foto: Henri Lajarrige Lombard via unsplash

Eine gemeinsame europäische Kulturpolitik ist keine Angelegenheit der Unifizierung, sondern eine der Integration. Integration meint die Fähigkeit (und manchmal sogar Lust), Anderes zuzulassen, aufzunehmen und einen Teil von sich selbst werden zu lassen. Daher immer auch eine Selbsterweiterung.

Einer so verstandenen Kulturpolitik kommt dabei eine entscheidende Rolle zu, die Teile Europas zu integrieren und dort ein Gefühl der Erweiterung herzustellen, wo es zu eng ist. Dort die europäischen Gemeinsamkeitsgefühle aufrechtzuerhalten, wo sie mit anderen Mitteln momentan versagt bleiben. Übergangschancen ermöglichen, das europäische Selbstempfinden herüberzuretten in schlechten Zeiten.

Deshalb ist sie immer ein Zeichen des Verstehens, des Verstehen-Wollens, immer ein Bekenntnis zur Solidarität. Es gibt grelle und moderate Exotismen. Eine gemeinsame europäische Kulturpolitik sollte das vermeintlich Bekannte hinterfragen, das irrtümlich Blasse und Fade wieder konturieren.

Laboratorium der Gegenwart

Lokale Kulturen nicht übersehen, sie exponieren und schützen, aber darüber hinaus eine andere Kulturschicht legen.

Eine gemeinsame europäische Kultur gibt es weder notwendigerweise, noch ist sie selbstverständlich. Oder wenn es sie gibt, dann ist sie minimal, sehr dünn und beileibe kein Gegenstand eines Konsens.

Eine gemeinsame europäische Kulturpolitik hingegen könnte es durchaus geben. Diese entsteht dann, wenn wir ein gemeinsames Europa wollen. Das heißt, sie ist nicht so sehr ein Produkt der Geschichte, kein organisches Extrakt, sondern eine Folge gewollter Bemühungen, die darauf abzielen, zu mehr Einheit in Europa und von Europa, und das bedeutet zu mehr Europa zu kommen. Und dieses ist vor allem eine Sache des Begehrens, der Lust aufeinander und des Interesses füreinander.

Eine gemeinsame europäische Kulturpolitik sollte lediglich das Gefühl erzeugen, dass Europäisches sich aus zweierlei zusammensetzt: aus unendlicher, zu respektierender Vielfalt und aber auch – immer und gleichzeitig – aus überraschenden Perspektiven von Zusammen- und Gemeinsamkeiten.

Sie muss erst entstehen, und sie hat zu entstehen. Um zu sich selbst zu kommen, sollte eine gemeinsame europäische Kulturpolitik eine Reihe von Voraussetzungen erfüllen. Sie darf keine „Hochkultur“ vorgaukeln. Sie dürfte auch kein „Kulturapparat“ werden. Sie soll sich von keiner „Leitkultur“ leiten lassen. Ihre wichtigste Aufgabe bestünde darin, etwas schon Vorhandenes präsenter zu machen. Sichtbar zu machen, was Sichtbarkeit verdient. Verdeutlichen, was undeutlich (geworden) ist. Sie sollte nichts negieren, sondern Negiertes wiederbeleben. Sie soll weder entschuldigen und rechtfertigen. Nichts beschönigen und nichts bagatellisieren. Sie sollte lediglich das Gefühl erzeugen, dass Europäisches sich aus zweierlei zusammensetzt: aus unendlicher, zu respektierenden Vielfalt und aber auch – immer und gleichzeitig – aus überraschenden Perspektiven von Zusammen- und Gemeinsamkeiten.

Es darf nicht beim gemeinsam schon Erlebten und für alle gemeinsam Vergangenen bleiben. Eine solche Kulturpolitik sollte auch darauf gerichtet sein, kulturelle Visionen einer gemeinsamen Zukunft zu entwerfen. Geschichte sollte die eine Tragsäule dieser Politik sein. Immer wieder zu vergegenwärtigen, wie nahe wir uns in all unserer Unterschiedlichkeit sind (die Geschichte bietet genügend dafür), ist eine neue faszinierende Aufgabe.

Die zweite Herausforderung ist: Spannungen, Konflikte, unterschiedliche Auslegungen und Lesarten des Geschehenen und Geschehenden, aber auch diverse Interessen zu benennen, ohne gleich in Versuchung zu verfallen, harmonisierende, beschwichtigende, gutmeinende Gebärden zu unternehmen.

Dann erst hat Europa gewisse Aussichten, wieder ein Laboratorium der Gegenwart zu werden.

Über den Autor
Portrait des ukrainischen Schriftstellers Jurko Prochasko
Jurko Prochasko
Publizist, Literaturwissenschaftler und Übersetzer

Jurko Prochasko wurde 1970 in der Westukraine geboren. Er ist Essayist, Publizist, Literaturwissenschaftler und Übersetzer. Er unterrichtet am Institut für Literaturforschung der Akademie der Wissenschaften in Lwiw, Ukraine. Im Jahr 2008 erhielt er den Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland. Er hat unter anderem „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil, zwei Romane von Joseph Roth, Prosa von Gottfried Benn und Lyrik von Günter Eich, daneben Texte von Martin Heidegger und Jürgen Habermas übersetzt.

Bücher (Auswahl):

  • Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht (Hg.). Suhrkamp, Berlin 2014
  • Galizien-Bukowina-Express: Eine Geschichte der Eisenbahn am Rande Europas. Turia & Kant, Wien 2007
  • Mythos Czernowitz: Eine Stadt im Spiegel ihrer Nationalitäten. Deutsches Kulturforum östliches Europa, Potsdam 2008

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.