Diese Mühe ist nicht überall gleich mühsam. Besonders beschwerlich ist sie für diejenigen europäischen Nicht-EU-Länder, die – anders als etwa die Schweiz oder Norwegen – nicht aus eigenem Willen und auch nicht aus eigener Entscheidung nicht zum EU-Europa gehören, sondern weil sie dort nicht gewollt und nicht begehrt werden. Nicht gewollt und nicht begehrt zu werden sind schwer zu ertragende Erfahrungen. Dazugehören zu wollen und nicht dazuzugehören zu dürfen ebenfalls. Das beeinträchtigt das Selbstgefühl sehr. Und nicht nur das europäische – aber dieses besonders stark.
Denn nirgends ist die Überzeugung schwächer, wirklich Europa zu sein, als hier. Und nirgends schwindet sie rascher. Nirgends ist das europäische Minderwertigkeitsgefühl so groß. Und nirgends hat es eine solche Hochkonjunktur. Der europäische Selbstzweifel erreicht hier das Maß der Verzweiflung, und der europäische Selbsthass ist so stark, überzeugt zu sein, das auch selbst verursacht und zu Recht verdient zu haben, um dafür mit der Nicht-Zugehörigkeit zu Europa bestraft zu werden.
Besonders beschwerlich ist sie für diejenigen europäischen Nicht-EU-Länder, die – anders als etwa die Schweiz oder Norwegen – nicht aus eigenem Willen und auch nicht aus eigener Entscheidung nicht zum EU-Europa gehören, sondern weil sie dort nicht gewollt und nicht begehrt werden.
Deshalb klammern sich die Menschen hier so an die Geschichte, von der sie glauben, dass es eine vielsagende und vielbedeutende gemeinsame europäische Geschichte ist. Meistens ist sie das auch wirklich. Nur die Leidenschaft, mit der man sich immer wieder vergewissert und sie auch hochträgt und pflegt, mag etwas seltsam anmuten bei denjenigen, von denen man nicht einmal annimmt, dass sie dazugehören und mit denen, die dazugehören, eine gemeinsame Geschichte und Kultur teilen könnten. Geschichte ist unser größtes Alibi. Und unser wichtigstes – weil anscheinend einziges – Argument. Das Anscheinende ist oft das Scheinbare. Nur nützt es uns wenig, weil wir das meistens nicht sehen.
Selten wird man so viele so skurrile Sammler und Hüter von Historien, die auf die einmalige europäische Gemeinsamkeit verweisen, treffen wie hier. Selten wird man erleben, wie stark diese Geschichten mit der gefühlten Gegenwart und mit der ersehnten und begehrten Zukunft zu tun haben. Andernorts lächerliche Fakten zelebriert man hier mit existenzieller Ernsthaftigkeit, die seinesgleichen sucht. Man kann es befremdend oder lächerlich finden oder gar als obskur und unmodern abtun. Mir machen diese Sachen Hoffnung. Denn erstens zeugen sie für mich vom starken Willen, doch dazu zu gehören, sich mit allen zugänglichen Mitteln als eben europäisch auszuweisen und zu legitimieren. Andererseits sind sie immerhin viel besser und produktiver, als eigene europäische Provenienz mit einem zweiten sehr zweifelhaften Mittel zu behaupten, das zur Verfügung steht: mit der weißen Hautfarbe.
Die Beschäftigung mit der Geschichte ähnelt der Regression. Wenn sie zu kurz kommt, kommt es zu Versteifung, Stagnation und Schematismus. Wenn dagegen zu viel von der Geschichte vorhanden ist, kann man ertrinken, untergehen und den Platz im Hier und Jetzt verlieren. Genauso die seelische Regression: sie ist wie Wasser, worin man wunderbar schwimmen und die Schwünge genießen, aber auch ertrinken oder sich in finsteren Tiefen für immer verlieren kann. Zur Amphibie werden kann.
Es sollte von der Geschichte genauso viel da sein, wie es die eine oder andere Gemeinschaft gerade nötig hat, in dem einen oder anderen Augenblick. Nur: Wer kann dieses Maß schon festlegen. Vielleicht aber gibt es so etwas wie eine gesellschaftliche Intuition. Eine gesunde Person kann es gut handhaben, das notwendige Maß und den notwendigen Zeitpunkt an Regression zuzulassen und zu regulieren, manchmal auch provozieren, herbei beschwören. Eine gesunde Person erholt sich, inspiriert sich und verändert sich in der Regression. Eine gesunde Person genießt die Regression letzten Endes und profitiert davon.