Politik des Unmuts
Der Anteil des Bruttoinlandsprodukts, der auf das obere Bevölkerungsprozent entfiel, stieg hingegen zwischen 1974 und 2008 von neun auf 24 Prozent. Aber so maßgeblich das materielle Eigeninteresse auch sein mag, Menschen werden zudem von anderen Dingen motiviert, durch welche sich die disparaten Ereignisse der Gegenwart vielleicht besser erklären lassen. Diese Entwicklungen könnten als Politik des Unmuts bezeichnet werden.
In zahlreichen Fällen gelingt es politischen Führern, ihre Anhänger mit Hilfe der Vorstellung zu mobilisieren, dass die Würde der Gruppe beleidigt, herabgesetzt oder sonst wie missachtet worden sei. So erklingen Rufe danach, die Würde der betreffenden Gemeinschaft öffentlich anzuerkennen. Eine erniedrigte Gruppe, die ihre Würde wiederherstellen will, verfügt über weit mehr emotionales Gewicht als eine, die nur ihren wirtschaftlichen Vorteil verfolgt.
Das ist der Grund, warum der russische Präsident Wladimir Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion eine Tragödie nennt und warum er Europa und den Vereinigten Staaten vorwirft, die Verwundbarkeit Russlands in den 1990er Jahren ausgenutzt zu haben, um die NATO an die Grenzen seines Landes vorzuschieben. Er verabscheut die zur Schau getragene Überlegenheit westlicher Politiker und verlangt, dass Russland nicht, wie Präsident Obama es einmal formulierte, als schwacher regionaler Akteur, sondern als Großmacht behandelt wird.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán erklärte 2017, seine Rückkehr an die Macht im Jahr 2010 markiere den Zeitpunkt, an dem „wir Ungarn überdies beschlossen, dass wir unser Land, unsere Selbstachtung und unsere Zukunft zurückgewinnen wollen."
In zahlreichen Fällen gelingt es politischen Führern, ihre Anhänger mit Hilfe der Vorstellung zu mobilisieren, dass die Würde der Gruppe beleidigt, herabgesetzt oder sonst wie missachtet worden sei.
Die chinesische Regierung unter Xi Jinping geht ausführlich auf Chinas „Jahrhundert der Demütigung“ ein und behauptet, die Vereinigten Staaten, Japan und andere Länder bemühten sich, Chinas Rückkehr zu dem Großmachtstatus, den es in den vergangenen Jahrtausenden genossen habe, zu verhindern.
Als der Al-Qaida-Gründer Osama bin Laden 14 Jahre alt war, stellte seine Mutter fest, wie sehr ihn das Schicksal Palästinas fesselte: „Tränen strömten ihm über die Wangen, während er in ihrem Heim in Saudi-Arabien fernsah.“ Sein Zorn über die Kränkung von Muslimen wurde später von seinen jungen Glaubensgenossen nachvollzogen, was dazu führte, dass sie freiwillig in Syrien für eine Religion kämpften, die ihrer Meinung nach überall auf der Welt angegriffen und unterdrückt worden war. Sie hofften, im Islamischen Staat die Herrlichkeit einer früheren muslimischen Zivilisation neu erstehen lassen zu können.