Illustration: Eine Kugel ist umgeben von den Ländergrenzen der Erde, die neu angeordnet werden.

Ein Neustart für Multilatera­lismus

Die Covid-19-Krise ist ein Stresstest für den Multilateralismus: die Europäische Union (EU) schränkte den Export von Arzneimitteln ins Nicht-EU Ausland zeitweilig ein – trotz ihres Wertekanons. Wie kann eine wertebasierte multilaterale Zusammenarbeit aussehen?

Wie ihre Mitgliedstaaten wurden multilaterale Institutionen von der COVID-19-Pandemie völlig unvorbereitet getroffen. Vergleicht man aber die anfänglichen Reaktionen der meisten internationalen Organisationen mit denen einiger gut funktionierender Staaten, dann wird die Geschichte – wenn sie mit der gebotenen Sorgfalt geschrieben wird – den Multilateralismus nicht wohlwollend beurteilen.

 

Warum brauchen wir multilaterale Organisationen?

Als die Pandemie ausbrach, waren die meisten multilateralen Institutionen nicht in der Lage, der existenziellen Herausforderung zu begegnen, die die Krankheit für Menschen auf der ganzen Welt darstellte. Mehrere Lehren aus der Pandemie müssen noch gezogen werden, wenn der Multilateralismus reformiert und zweckmäßig gestaltet werden soll. Befürworter des Multilateralismus begründen die Existenz internationaler Organisationen standardmäßig so: In einer globalisierten, vernetzten Welt gibt es einfach zu viele Probleme, die nicht von einem Land alleine gelöst werden können.

 

Vier Hände halten einen Korb voller Tomaten.
Die Rolle von multilateralen Organisationen wird in Frage gestellt, Foto: Elaine Casap via unsplash

Multilaterale Institutionen sollen kollektives Handeln erleichtern, wenn es darum geht, globale öffentliche Güter (wie etwa Freihandel und globale öffentliche Gesundheit) zur Verfügung zu stellen und die negativen Auswirkungen öffentlicher Missstände einzudämmen. Zu verhindern, dass sich eine hochansteckende Krankheit – eine Krankheit mit hoher Sterblichkeitsrate und vielen Unbekannten bezüglich der möglichen Langzeitschäden für die Überlebenden – ausbreitet, ist genau die Art von Problem, mit dem sich multilaterale Organisationen beschäftigen sollten. Wenn die Prävention scheitert und es dennoch zu einer Pandemie kommt, darf man erwarten, dass die zuständigen multilateralen Organisationen dazu in der Lage sind, das Horten von Medikamenten und lebensnotwendiger Ausrüstung einzuschränken und dem entgegenzuwirken, dass Länder Engpässe und Schwachstellen zu geostrategischen Zwecken ausnutzen.

An diesen Fronten haben die multilateralen Knotenpunkte bei ihren ersten Reaktionen versagt. Am eklatantesten war das Versagen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die direkt mit Gesundheitsfragen betraut ist. Diese frühen Versäumnisse kamen zu einem Zeitpunkt, der für die Eindämmung von COVID-19 besonders kritisch war, und trugen so dazu bei, dass sich der Ausbruch im chinesischen Wuhan zu einer globalen Krise entwickelte.

Die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Historikerin und Journalistin Anne Applebaum fasst die Unterlassungssünden der WHO wie folgt zusammen: „...die WHO hat die Welt in der frühen Phase der Krise in einigen wichtigen Punkten im Stich gelassen. Sicherlich hielt sich die Organisation viel zu sehr an das Narrativ einer chinesischen Regierung, die anfangs versuchte, die Art und Verbreitung des Coronavirus zu verbergen. Noch am 14. Januar ignorierte die Führung der Organisation Beweise aus Taiwan – das dank des chinesischen Drucks nicht Mitglied der WHO ist –, dass das neuartige Coronavirus von Mensch zu Mensch übertragen werden kann“.

Am eklatantesten war das Versagen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die direkt mit Gesundheitsfragen betraut ist.

Laut Anne Applebaum folgten weitere Fehler: das „seltsame Beharren“ der WHO, dass Gesichtsmasken nicht notwendig seien, und die Entscheidung der WHO, bis zum 11. März 2020 zu warten, um die Existenz einer Pandemie zu erklären, obwohl sich die Krankheit bereits ausgebreitet hatte. „Die Entschlossenheit der WHO, China in ihren öffentlichen Erklärungen zu loben und chinesische Fehler zu ignorieren, war ebenso seltsam...“

Die WHO hat es nicht geschafft, die schnelle und globale Ausbreitung der Krankheit einzudämmen, was schreckliche Folgen für das menschliche Leben hatte. Als die Zahl der Toten stieg, begannen viele Länder, sich nach innen zu wenden, indem sie wichtige Medikamente und persönliche Schutzausrüstungen für ihre eigene Bevölkerung horteten oder sich bereit erklärten, diese nur mit wichtigen Verbündeten zu tauschen.

Selbst die Europäische Union (EU), die sich ihrer Soft Power und ihres Engagements für Werte wie Menschenrechte, Arbeitsnormen und Umweltstandards rühmt, beschloss, Notfall-Exportbeschränkungen für Krankenhauslieferungen für Nicht-EU Mitglieder zu erlassen. Dieser Schritt drohte verheerende Folgen für viele Drittländer zu haben, einmal abgesehen davon, dass die Lieferkette für medizinische Ausrüstung für die EU selbst möglicherweise unterbrochen wird. Auch mit den Nachbarländern der EU kam es zu Unstimmigkeiten. So reagierte der serbische Präsident verbittert auf die von der EU verhängten Exportbeschränkungen und erklärte: „Die europäische Solidarität existiert nicht. Das war ein Märchen auf dem Papier“ und kündigte an, dass sich Serbien stattdessen an China wenden würde. Umfragedaten zeigten außerdem, dass die Enttäuschung über die EU selbst unter ihren eigenen Mitgliedern groß war.

Gerade als die Welt ihn am dringendsten brauchte, ließ uns der Multilateralismus zu einem enormen menschlichen und wirtschaftlichen Preis im Stich.

Inmitten dieser Unterbrechung der globalen Lieferketten hätte die Welthandelsorganisation (WTO) eingreifen und den Schaden begrenzen können. Aber die WTO, die in den Punkten Verhandlung, Überwachung und Streitbeilegung bereits angeschlagen ist, war nicht wirklich fähig zu handeln. Und selbst wenn die Organisation nicht mit diesen vielfältigen Problemen konfrontiert gewesen wäre, enthielten ihre Regeln wenig, um den verhängten Exportbeschränkungen Einhalt zu gebieten, oder auch den verschiedenen Arten, in denen Handel für geostrategische Zwecke genutzt wurde. Sie stand also hilflos da und sah zu, wie sich die Krise verschärfte. Gerade als die Welt ihn am dringendsten brauchte, ließ uns der Multilateralismus zu einem enormen menschlichen und wirtschaftlichen Preis im Stich.

 

Welche Lektionen ergeben sich für den Multilateralismus?

Die Pandemie hat uns zwei harte Lektionen erteilt, und es bleibt abzuwarten, ob die Hüter und Befürworter des Multilateralismus willens sind, sie zu lernen. Dazu gehören wohlmeinende Staats- und Regierungsoberhäupter, internationale Beamte, Mitglieder der Zivilgesellschaft und andere, die glauben, dass die multilaterale Zusammenarbeit immer noch angestrebt werden soll.

 

Die erste Lektion stammt aus der „Interdependenz als Waffe“, einem Begriff, der von den amerikanischen Politikwissenschaftlern Henry Farrell und Abraham L. Newman verwendet wurde. Die „Bewaffnung der Interdependenz“ begann zwar nicht mit COVID-19, aber die Pandemie hat die sehr realen Gefahren verstärkt, die von diesem Phänomen ausgehen. Unsere multilaterale Nachkriegsordnung beruhte auf der Annahme, dass Frieden und Wohlstand untrennbar und kausal miteinander verbunden sind. Eine liberale Wirtschaftsordnung würde zu mehr Handel, Wachstum, Entwicklung und damit auch zu mehr Frieden beitragen. Das Ende des Kalten Krieges schien das Versprechen eines liberalen Friedens zu bestätigen und die Erwartung zu verstärken, dass frühere Rivalen nun durch eine stärkere wirtschaftliche Integration in das System eingegliedert werden könnten.

Eine Person im roten Kleid hält Mandarinen in den Händen.
Falsche Versprechen unter Multilateralismus, Foto: Sharon McCutcheon via unsplash

Aber dieser Multilateralismus war nicht für eine Welt gemacht, in der genau die Bindungen, die die Nationen in friedlicher Harmonie zusammenhalten sollen, zur „Waffe“ werden könnten. Und während wir in den letzten Jahren Fälle einer Independenz als Waffe gesehen haben, hat die Corona-Pandemie das Ausmaß offenbart, in dem Länder globale Wertschöpfungsketten zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen können, selbst wenn es um Leben und Tod geht. Vor diesem Hintergrund klingen die Appelle der führenden Politiker der Welt, die eigenen Volkswirtschaften nicht abzuschotten, die globalen Wertschöpfungsketten zu erhalten und den Multilateralismus zu stärken, schrecklich hohl, insbesondere für diejenigen, die miterlebt haben, wie Freunde und Familienangehörige direkt von der Pandemie betroffen waren. Wenn der Multilateralismus eine Chance haben soll, müssen diese Angelegenheiten direkt angesprochen werden.

Die zweite Lektion ist auch nicht neu, aber die Pandemie hat sie wieder einmal in den Vordergrund gerückt. Diese Lektion hat mit der Bedeutung von Narrativen und Innenpolitik zu tun. Ein wichtiger Grund, warum der Multilateralismus in den letzten Jahren eine so starke Gegenreaktion hervorgerufen hat, ist die Tatsache, dass einige Politiker (sowohl von der Linken als auch von der Rechten) die Enttäuschung und den Zorn derjenigen erfolgreich genutzt (und geschürt) haben, die glauben, dass die Errungenschaften der Globalisierung an ihnen vorbeigegangen sind. Ein Beispiel ist das „America First“-Narrativ des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, das bei den Präsidentschaftswahlen 2016 einen großen Teil der amerikanischen Wählerschaft angesprochen hat, weil es vorgab, ihren Schmerz ernst zu nehmen.

Gebraucht werden dringend überzeugende, datengestützte und auf Fakten basierende Narrative, die den Menschen zeigen, warum der Multilateralismus erhaltenswert ist.

Im Gegensatz dazu waren viele Narrative über die Vorteile eines regelbasierten multilateralen Systems zwar solide, aber inhaltlich im Wesentlichen technokratisch. Daher werden die Befürworter des Multilateralismus seit einigen Jahren dafür kritisiert, dass sie zu weit von den einfachen Menschen entfernt sind und nur die Interessen einer „globalen Elite“ vertreten. Heute, inmitten von Tod und Zerstörung durch die Pandemie, sind die Forderungen, den Multilateralismus zu erneuern, noch anfälliger für solche Vorwürfe. Gebraucht werden dringend überzeugende, datengestützte und auf Fakten basierende Narrative, die den Menschen zeigen, warum der Multilateralismus erhaltenswert ist. Dazu müssen wir zeigen, wie multilaterale Zusammenarbeit jedem Einzelnen in unseren Gesellschaften hilft. Dies sollte geschehen, indem man Akteure innerhalb der Staaten auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene einbindet, aber auch durch eine enge Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Staaten und auf transnationaler Ebene. Und obwohl überzeugende Narrative auch in den vergangenen Jahren nützlich gewesen wären, sind sie besonders wichtig in einer Zeit, in der Menschen in verschiedenen Teilen der Welt nicht nur um ihren Lebensunterhalt, sondern auch um ihr Leben kämpfen.

 

Die NATO als Vorreiter für einen „globalen Ansatz“?

 

Vier Hände halten Erde mit einem Pflanzensprössling.
Nato-Generalsekretär Stoltenberg fordert noch engere internationale Zusammenarbeit, Foto: shameersrk via pixabay

Eine der wenigen Organisationen, die beide Lehren – Interdependenz als Waffe und Narrative – erkannt haben, ist die NATO. In diesem Fall haben wir während der gesamten Pandemie eine rasche Aktualisierung sowohl in Bezug auf Interdependenz als Waffe als auch auf die Narrative erlebt. Die NATO hat relativ früh auf die Pandemie reagiert, dafür gearbeitet, dass „die Gesundheitskrise nicht zu einer Sicherheitskrise wird“, und ihre Einsatzbereitschaft aufrechterhalten. Ihre Streitkräfte unterstützten auch die zivilen Bemühungen zur Bewältigung der Pandemie. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief zu einem „globaleren Ansatz“ an drei Fronten auf – COVID-19 (einschließlich des Problems der Desinformation, d. h. der falschen Narrative), Terrorismus und, was sehr interessant ist, der Aufstieg Chinas. 

Zum letzten Punkt stellte er zwar vorsichtig fest, dass China kein Gegner des Bündnisses sei, fuhr aber folgendermaßen fort: „Es ist klar, dass China unsere Werte nicht teilt. Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit... es gibt ein klares Muster autoritären Verhaltens im Inland und zunehmende Selbstbehauptung und Schikane im Ausland“, sagte Stoltenberg in einer Rede vor dem German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg im Juni 2020.

Um diese globalen Herausforderungen zu bewältigen, sei es das Beste, „wenn Europa und Nordamerika weiterhin zusammenstehen. Und dass wir einen globaleren Ansatz verfolgen. Wir müssen noch enger mit unseren internationalen Partnern zusammenarbeiten, um unsere Werte in einer wettbewerbsintensiveren Welt zu verteidigen. Partnern von nah und fern – wie Finnland und Schweden. Aber auch Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea.“

Man könnte sich fragen, warum die NATO eine Ausnahme von der Norm darstellt, wenn es darum geht, die dringenden Lehren aus den letzten Monaten zu ziehen. Es gibt dafür mehrere Erklärungen, unter anderem die spezifische Arbeitsweise der verschiedenen Institutionen, die Führung und die Art der Mitgliedschaft. Darüber hinaus ist die NATO per definitionem eine nicht universelle Organisation, und ihr Mandat für Sicherheitsfragen erlaubt es ihr vielleicht, sowohl geoökonomische als auch wertebezogene Themen leichter zu berücksichtigen. Wenn diese beiden Lehren in anderen multilateralen Organisationen nicht beachtet werden, riskieren wir weitere Rückschläge gegen die Globalisierung. Wir riskieren das Aufkommen einer Welt des oberflächlichen und bedeutungslosen Multilateralismus, aber de facto Autarkismus, der sich zum Nachteil fast aller Länder auswirken wird, insbesondere der Armen in den reichen und armen Ländern.

Wir riskieren das Aufkommen einer Welt des oberflächlichen und bedeutungslosen Multilateralismus, aber de facto Autarkismus, der sich zum Nachteil fast aller Länder auswirken wird, insbesondere der Armen in den reichen und armen Ländern.

Was ist der Zweck von Multilateralismus?

Um diese Themen ernsthaft anzugehen, muss man die Frage nach dem Zweck des Multilateralismus kühl und nüchtern angehen. Denn viel zu oft hören wir immer noch, wie das Mantra wiederholt wird, dass der Multilateralismus wichtig sei. Es stimmt, dass der Multilateralismus wichtig ist, aber diesen Satz zu wiederholen, bringt uns nicht sehr weit, wenn es darum geht, ihn zu reformieren oder neu aufzubauen.

Letztlich ist der Multilateralismus ein Instrument der internationalen Zusammenarbeit – nicht mehr und nicht weniger. Es liegt an uns, zu entscheiden, welche Werte die multilateralen Instrumente hochhalten und welche Ziele sie verfolgen sollen. Und dies erfordert wahrscheinlich, den Zweck des Multilateralismus zu überprüfen und neu zu definieren. Dies wiederum erfordert, Werte und gleiche Gesinnung viel stärker zu beachten, als dies bisher der Fall war. Es erfordert, sich der Möglichkeit zu öffnen, sich von strategischen Rivalen allmählich und selektiv abzukoppeln oder zumindest in der Lage zu sein, eine solche Drohung glaubhaft auszusprechen.

Es wird nicht mehr funktionieren, Länder, die für grundsätzlich unterschiedliche gesellschaftliche und politische Ziele stehen – zum Beispiel Liberalismus und Pluralismus gegenüber Autoritarismus oder marktfreundliche Regeln gegenüber Regeln, die ein hohes Maß an staatlicher Intervention unterstützen – einfach unter einem Dach des universellen Multilateralismus mit einem vagen Regelwerk zusammenzufassen. Dies wird unsere multilateralen Institutionen wahrscheinlich zu immer größerem Unwohlsein und weiterem Zusammenbruch verdammen.

Über die Autorin
Portrait von Amrita Narlikar
Amrita Narlikar
Präsidentin des German Institute for Global and Area Studies (GIGA)

Amrita Narlikar ist die Präsidentin des German Institute for Global and Area Studies (GIGA) und Professorin für Internationale Beziehungen an der Universität Hamburg. Sie ist Fellow des Darwin College der Cambridge University, der Observer Research Foundation (ORF) und des Australia India Institute. Davor war sie Dozentin für Internationale Politische Ökonomie an der University of Cambridge. Ihr jüngstes Buch „Poverty Narratives in International Trade Negotiations and Beyond“ ist 2020 bei Cambridge University Press erschienen.

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