Helmut Kohl erklärte 1995, dass die europäische Integration „irreversibel“ sei. „Irreversibel heißt für mich“, präzisierte Kohl, „dass man später wohl über das Tempo der Integration in einzelnen Politikbereichen diskutieren kann, dass sich aber die Richtung nicht mehr verändern lässt.“ Das Votum für den Brexit ist nur der offenkundigste Beleg, dass Kohl sich geirrt hat. Im Jahr 2019 ist Desintegration in der EU ein politischer Fakt und erklärtes Ziel nicht weniger Regierungen. Und weitere Länder sagen: „Bis hierhin, aber nicht weiter.“ Dabei sind es keineswegs nur konservative oder rechtsgerichtete Kräfte, die dem Voranschreiten der europäischen Integration offen entgegentreten.
Zweifel gibt es genauso auf linker Seite: Der französische Linkenanführer Jean-Luc Mélenchon und Sahra Wagenknecht aus Deutschland sind führende Köpfe einer nationalorientierten Linken in Europa. Ihre Analyse lautet: Die EU tickt neoliberal, im Kampf zwischen Kapital und Arbeit steht sie systematisch auf der falschen Seite. Umverteilung, starker Arbeitnehmerschutz oder höhere Unternehmenssteuern seien mit ihr nicht umsetzbar.
Troll-Armeen, Fake News und Hass können in den sozialen Medien frei flottieren und Meinungsbildungsprozesse manipulieren.
Auch im Lager der Sozialdemokratie wird die Enttäuschung über Europa zunehmend größer. Dort besteht der Eindruck, dass man die sozialdemokratischen Trophäen des 20. Jahrhunderts nur dort verteidigen könne, wo man sie errungen hat, also im Nationalstaat. Statt mit Souveränität argumentieren solche Stimmen mit Solidarität: Die Nation sei die einzige Gemeinschaft, in der man bisher zuverlässig Solidarität im Sinne materieller Umverteilung habe organisieren können. Kurzum: Mit Europa sei kein Sozialstaat zu machen. Und es stimmt ja, die europäische Integration ist bisher eine liberale Erfolgsstory, keine linke oder sozialdemokratische. In der EU sind ökonomische Freiheiten deutlich weiter entwickelt als soziale Sicherheiten. Aber der Rückgriff auf einstige „goldene Zeiten“ stößt bei der Formulierung von Politik für die Zukunft eben auch an seine Grenzen.
So bleibt ein Widerspruch in den Apologien des Nationalstaats stets unaufgelöst: Wie will man ein kapitalistisches System, das unabhängig von nationalen Grenzen operiert, in genau diesen einhegen? Muss demokratische Kontrolle nicht vielmehr auf der Ebene organisiert werden, wo die zu kontrollierenden Akteure handeln? Man muss die real existierende Europäische Union nicht mögen, aber man kann sie als Handlungsrahmen nicht ablehnen, wenn demokratische Souveränität und soziale Rechte in der Globalisierung verteidigt werden sollen. Man muss sie mit politischen Mehrheiten verändern. Klar ist: EU-Kritik und Europafreundlichkeit sind keine Gegensätze. Im Gegenteil, wer die EU verteidigen will, muss sie kritisieren.
Gerade jetzt in der Krise müsste Europa eigentlich heftig streiten. Aber bitte über das „Wie“ gemeinsamer europäischer Politik, nicht über das „Ob“. Der vor den Nazis geflüchtete Wirtschaftswissenschaftler Albert O. Hirschmann hat in seinem Grundlagenwerk „Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten“ (1974) drei Handlungsoptionen für Bürgerinnen und Bürger skizziert, deren Institutionen sich in einer existenziellen Krise befinden: Sie können kollektiv ihre Stimme erheben (Widerspruch), die Institution verlassen (Abwanderung) oder den Frust in sich hineinfressen und treu bleiben (Loyalität).
EU-Kritik und Europafreundlichkeit sind keine Gegensätze. Im Gegenteil, wer die EU verteidigen will, muss sie kritisieren.
Den meisten Menschen in der EU bleibt heute nur die letzte Option, auch weil in vielen Ländern die zweite Option verfassungsbedingt gar nicht über ein Referendum erreichbar wäre. Sie müssten Regierungen wählen, die den Ausstieg irgendwie für sie durchsetzen. Viel sinnvoller wäre es jedoch, endlich die erste Option zu ermöglichen: den Widerspruch der Bürgerinnen und Bürger. Wenn wir die EU verändern wollen, sie etwa demokratischer, sozialer, nachhaltiger gestalten möchten, dann brauchen wir einen angemessen Kommunikationsraum, in dem wir über den Weg dorthin diskutieren können.