Illustration: Eine Figur surft auf einem mobilen Telefon

Eine Plattform für Europa

Ohne eine europäische Öffentlichkeit kann sich Europa nicht von seinen nationalen Filterblasen befreien. Eine Plattform Europa und ein europäischer Newsroom für paneuropäische Themen könnten der Startpunkt für ein zukünftiges Europa sein. Eine solche Plattform könnte auch die Polarisierung eindämmen, die von den Populisten angeheizt wird, die bisher von den Social-Media-Algorithmen profitieren.

Wenn in diesen Jahren so eifrig über Wege aus Europas Dauerkrise gesprochen wird, dann bemühen die Redner gerne einen Satz, den sie dem französischen „Vater Europas“, Jean Monnet, zuschreiben: „Wenn ich nochmals mit dem Aufbau Europas beginnen könnte, dann würde ich mit der Kultur beginnen.“ Soll Monnet gesagt haben – hat er aber nicht. Es ist ein Fake-Zitat, das ihm nachträglich in den Mund gelegt wird. Die Jean-Monnet-Stiftung in Lausanne weiß, wie es dazu gekommen ist: Den Anstoß zu dieser Legende gab – in guter Absicht wohlgemerkt – der einstige französische Kulturminister Jack Lang. Er hatte gesagt: „Monnet hätte sagen können oder sollen, dass wenn er nochmals mit dem Aufbau Europas…“ und so weiter.

Dass Monnet es hätte gesagt haben können, ist eine recht zutreffende Metapher für den Zustand Europas. Die jüngste Geschichte der Europäischen Union ist ebenfalls eine, die in großen Teilen im Konjunktiv II geschrieben werden muss. Seit der Abstimmung über den Brexit war in der EU-Politik sehr viel hätte, können, sollen und sehr wenig machte, entschied, plante.

Der Puls der Straße

Obwohl es zunächst den Anschein hatte, als würde Europa nach dem Super-GAU im Sommer 2016 die Flucht nach vorne ergreifen. In Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft oder Literatur keimte plötzlich eine europäische Aufbruchsstimmung auf. Emmanuel Macron entfesselte in seiner Rede an der Pariser Université de Sorbonne im September 2017 so etwas wie eine proeuropäische Emotion.

Er forderte nichts weniger als die Neugründung Europas, schwärmte von europäischer Souveränität und präsentierte eine ganze Liste von konkreten Reformvorschlägen. Der „Pulse of Europe“ schlug über Monate auf den Straßen. Menschen malten sich ihre Gesichter blau an, wickelten sich in EU-Fahnen, für kurze Zeit war Europa ein bisschen cool.

Experten skizzierten Szenarien für die Vollendung der europäischen Demokratie, ganz vorne dabei die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot mit ihrem Entwurf einer europäischen Republik. Den Büchermarkt erfasste ebenfalls ein neuer proeuropäischer Zeitgeist. Titel wie „Trotz alledem! Europa muss man einfach lieben“ (Heribert Prantl) oder „Wir sind Europa!“ (Evelyn Roll) dieser prominenten deutschen Journalisten ersetzten die zuvor allgegenwärtige europäische Abgesangsliteratur. Und auch wenn in Europa immer alles etwas länger dauert, war der Zeitpunkt noch günstig: Die Wahlen in Frankreich und Deutschland waren just passé, zwei Jahre noch bis zu den nächsten Europawahlen, endlich konnte mal in Ruhe gearbeitet werden.

Nichts da. Die deutsche Bundesregierung antwortete lange Zeit auf Macrons Vorschläge gar nicht, um sie nach mehr als einem Jahr „einhundertprozentig abzuwürgen“, wie Jürgen Habermas feststellte. Allenfalls reagierte Deutschland auf die ausgestreckte Hand Frankreichs nur mit dem kleinen Finger in Form von kleinteiligen Reformen in der Wirtschafts- und Währungspolitik. Ein großer Wurf gelang nicht. Der fehlende Mut der Einen kann im heutigen Europa nicht ohne den Übermut der Anderen verstanden werden.

Menschen malten sich ihre Gesichter blau an, wickelten sich in EU-Fahnen, für kurze Zeit war Europa ein bisschen cool.

Von den skandinavischen Ländern über Deutschland, Frankreich, Österreich, Italien bis hin zu den Visegrád-Staaten: Populismus und Nationalismus sind fast an allen Ecken und Enden der Union auf dem Vormarsch. In Österreich, Italien, Tschechien oder Polen sind sie aus der Opposition mittlerweile in Regierungsverantwortung aufgestiegen. Die Hoffnung von der „Mäßigung an der Macht“ hat sich bei diesen Kräften größtenteils als naiv erwiesen. Zwar sind Parteien wie die FPÖ oder die Lega von „Exit“-Forderungen, aus dem Euro oder gleich der ganzen Union, abgerückt. Statt raus wollen sie heute vielmehr rein nach Europa – aber eben in ein Europa, das dem Geiste der europäischen Integration vollkommen entgegensteht.

Der Konflikt zwischen ihnen und Politikern wie Macron dreht sich im Kern um den Ort von Souveränität. Es stehen sich Europa-Souveränisten und Nation-Souveränisten gegenüber. Die eine Seite meint, dass die EU-Staaten in einer global verflochtenen Welt nur dann handlungsfähig und selbstbestimmt bleiben, wenn sie ihre Souveränität in europäischen Institutionen bündeln. Die andere Seite, deren Vertreter es rechts wie links gibt, pocht darauf, dass Souveränität fest an die Nation geknüpft sein muss, weil sie die einzige Quelle politischer Legitimität sein könne.

Streitigkeiten über die Verteilung von Geflüchteten, die mit Mehrheit gegen einzelne Regierungen durchgesetzt wurden, sind Ausdruck von diesem Grundkonflikt. Es geht dabei nur vordergründig um die Sachfrage selbst. Viel grundlegender ist, wer das letzte Wort hat, ob solche Entscheidungen wie derzeit vorgesehen tatsächlich nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden sollen und inwiefern der Europäische Gerichtshof die europäischen Rechtsprinzipien auch im Verfassungsrecht der Mitgliedsstaaten einfordern kann.

Schillernde Figur

Wenn Macron die schillernde Figur im Lager der europäischen Souveränität ist, dann ist Viktor Orbán sein Pendant auf der Gegenseite. Seit 2010 baut Orbán sein Land in einen illiberalen Staat um und gerät dabei immer öfter mit den EU-Institutionen in Konflikt: Bei der Einschränkung der Wissenschaft, Unterdrückung der Zivilgesellschaft, Gleichschaltung der Medien oder Abschaffung der Gewaltenteilung. Orbán bezeichnet die Kritik aus Brüssel als Beleidigung des ungarischen Volkes, das doch nur sein Selbstbestimmungsrecht ausüben würde.

Und wenn die Selbstbestimmung des Volkes im Widerspruch zu den Prinzipien der Union steht, dann müsse die Nation das letzte Wort haben. Unabhängig von Sachfragen, denn bei der Flüchtlingsverteilung sind sich ein Viktor Orbán und ein Matteo Salvini ganz und gar nicht einig, ist diese Souveränitätslogik zum europäischen Zeitgeist eines erstarkten populistischen Nationalismus geworden. Selbstherrlich, aber nicht aus der Luft gegriffen, sagt Orbán: „Früher haben wir geglaubt, dass Europa unsere Zukunft ist. Heute spüren wir, dass wir die Zukunft Europas sind.“

Europa hätte die Trendwende hinlegen können, als es nach dem Brexit kurzzeitig zu dem beschriebenen europäischen Erwachen kam. Demoskopen maßen quer durch die Union Rekordwerte bei der Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes. Ein „window of opportunity“, das offen stand für Reformen, ja für eine sinnvolle Vertiefung der EU in ausgewählten Bereichen. Warum haben es die proeuropäischen Kräfte nicht genutzt, während EU-skeptische Kräfte ihre Agenda längst umsetzten? Es hat einerseits natürlich mit politischem Willen zu tun, allen voran dem der Bundesregierung. Auf der anderen Seite haben Populisten und Nationalisten einen strukturellen Vorteil im politischen Wettbewerb der EU: Es ist die Dysfunktionalität der europäischen Öffentlichkeit.

Populisten und Nationalisten haben einen strukturellen Vorteil im politischen Wettbewerb der EU: Es ist die Dysfunktionalität der europäischen Öffentlichkeit.

Heutzutage sind Öffentlichkeiten in Europa in erster Linie national und digital organisiert. Das mag zunächst wie ein Gegensatz klingen, zeichnet sich die Digitalisierung doch durch die Entgrenzung von Kommunikation aus. Technologisch und strukturell trifft das zu, diskursiv nicht. Gemessen an den Themen, Akteuren und Perspektiven sind öffentliche Debatten über europäische Politik einseitig national geprägt, egal ob sie auf analogen oder digitalen Kanälen stattfinden. Die heutige Struktur der Öffentlichkeit spielt populistischen Nationalisten zweifach in die Hände: Zum einen brauchen sie ihre nationalistischen Positionen nicht gegenüber einem europäischen Gemeinwohl zu rechtfertigen, weil es dieses als Bewertungsmaßstab im Diskurs praktisch nicht gibt.

Andererseits profitieren sie von den Algorithmen sozialer Medien, die keinem Gemeinwohlauftrag, sondern allein einem Aufmerksamkeitsauftrag der Digitalkonzerne folgen. Troll-Armeen, Fake News und Hass können in ihnen frei flottieren und Meinungsbildungsprozesse manipulieren. Dabei operiert die „digitale Rechte“ transnational, koordiniert globale Attacken etwa auf nationale Wahlen. Im schlechtesten Fall steht am Ende ein desinformierter Wählerwille wie beim Brexit-Votum, als einzelne Wählergruppen mit lügnerischen „Dark Ads“ auf Facebook bombardiert wurden. In jedem Fall sind die Öffentlichkeiten in Europa zu Resonanzräumen für Populismus und Nationalismus geworden, für die Legitimierung europäischer Politik bieten sie hingegen äußerst schlechte Umweltbedingungen.

Fenster der Gelegenheit

Helmut Kohl erklärte 1995, dass die europäische Integration „irreversibel“ sei. „Irreversibel heißt für mich“, präzisierte Kohl, „dass man später wohl über das Tempo der Integration in einzelnen Politikbereichen diskutieren kann, dass sich aber die Richtung nicht mehr verändern lässt.“ Das Votum für den Brexit ist nur der offenkundigste Beleg, dass Kohl sich geirrt hat. Im Jahr 2019 ist Desintegration in der EU ein politischer Fakt und erklärtes Ziel nicht weniger Regierungen. Und weitere Länder sagen: „Bis hierhin, aber nicht weiter.“ Dabei sind es keineswegs nur konservative oder rechtsgerichtete Kräfte, die dem Voranschreiten der europäischen Integration offen entgegentreten.

Zweifel gibt es genauso auf linker Seite: Der französische Linkenanführer Jean-Luc Mélenchon und Sahra Wagenknecht aus Deutschland sind führende Köpfe einer nationalorientierten Linken in Europa. Ihre Analyse lautet: Die EU tickt neoliberal, im Kampf zwischen Kapital und Arbeit steht sie systematisch auf der falschen Seite. Umverteilung, starker Arbeitnehmerschutz oder höhere Unternehmenssteuern seien mit ihr nicht umsetzbar.

Troll-Armeen, Fake News und Hass können in den sozialen Medien frei flottieren und Meinungsbildungsprozesse manipulieren.

Auch im Lager der Sozialdemokratie wird die Enttäuschung über Europa zunehmend größer. Dort besteht der Eindruck, dass man die sozialdemokratischen Trophäen des 20. Jahrhunderts nur dort verteidigen könne, wo man sie errungen hat, also im Nationalstaat. Statt mit Souveränität argumentieren solche Stimmen mit Solidarität: Die Nation sei die einzige Gemeinschaft, in der man bisher zuverlässig Solidarität im Sinne materieller Umverteilung habe organisieren können. Kurzum: Mit Europa sei kein Sozialstaat zu machen. Und es stimmt ja, die europäische Integration ist bisher eine liberale Erfolgsstory, keine linke oder sozialdemokratische. In der EU sind ökonomische Freiheiten deutlich weiter entwickelt als soziale Sicherheiten. Aber der Rückgriff auf einstige „goldene Zeiten“ stößt bei der Formulierung von Politik für die Zukunft eben auch an seine Grenzen.

So bleibt ein Widerspruch in den Apologien des Nationalstaats stets unaufgelöst: Wie will man ein kapitalistisches System, das unabhängig von nationalen Grenzen operiert, in genau diesen einhegen? Muss demokratische Kontrolle nicht vielmehr auf der Ebene organisiert werden, wo die zu kontrollierenden Akteure handeln? Man muss die real existierende Europäische Union nicht mögen, aber man kann sie als Handlungsrahmen nicht ablehnen, wenn demokratische Souveränität und soziale Rechte in der Globalisierung verteidigt werden sollen. Man muss sie mit politischen Mehrheiten verändern. Klar ist: EU-Kritik und Europafreundlichkeit sind keine Gegensätze. Im Gegenteil, wer die EU verteidigen will, muss sie kritisieren.

Gerade jetzt in der Krise müsste Europa eigentlich heftig streiten. Aber bitte über das „Wie“ gemeinsamer europäischer Politik, nicht über das „Ob“. Der vor den Nazis geflüchtete Wirtschaftswissenschaftler Albert O. Hirschmann hat in seinem Grundlagenwerk „Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten“ (1974) drei Handlungsoptionen für Bürgerinnen und Bürger skizziert, deren Institutionen sich in einer existenziellen Krise befinden: Sie können kollektiv ihre Stimme erheben (Widerspruch), die Institution verlassen (Abwanderung) oder den Frust in sich hineinfressen und treu bleiben (Loyalität).

EU-Kritik und Europafreundlichkeit sind keine Gegensätze. Im Gegenteil, wer die EU verteidigen will, muss sie kritisieren.

Den meisten Menschen in der EU bleibt heute nur die letzte Option, auch weil in vielen Ländern die zweite Option verfassungsbedingt gar nicht über ein Referendum erreichbar wäre. Sie müssten Regierungen wählen, die den Ausstieg irgendwie für sie durchsetzen. Viel sinnvoller wäre es jedoch, endlich die erste Option zu ermöglichen: den Widerspruch der Bürgerinnen und Bürger. Wenn wir die EU verändern wollen, sie etwa demokratischer, sozialer, nachhaltiger gestalten möchten, dann brauchen wir einen angemessen Kommunikationsraum, in dem wir über den Weg dorthin diskutieren können.

Meine Prognose lautet: Von hier an ist kein substanzieller europäischer Integrationsschritt mehr ohne eine europäische Öffentlichkeit möglich. Es muss eine europäische Öffentlichkeit geben oder es wird irgendwann die Europäische Union nicht mehr geben. Jeder noch so logische nächste Schritt, wie etwa die Einrichtung eines Euro-Finanzministers, wird heute von einem aus Ängsten, Vorurteilen und Selbstbezug zusammengesetzten nationalen Filter aussortiert.

Die große Mehrheit der Menschen in Europa fühlt sich als EU-Bürgerinnen und Bürger. An europäischer Identität mangelt es heute bei den Menschen nicht mehr unbedingt, aber keine Struktur bringt sie zusammen, um sich über ihre gemeinsamen bürgerschaftlichen Belange zu verständigen.

Auf der anderen Seite treffen EU-Politikerinnen und -Politiker weitreichende Entscheidungen, für deren Legitimierung ihnen der öffentliche Raum fehlt. Mehr noch: Weil heute die legitimierten Entscheidungen europäischer Institutionen nahezu folgenlos von nationalen Regierungen ignoriert werden können, ist jeder weitere Integrationsschritt zum Scheitern verurteilt, wenn er nicht mit der Schaffung einer Öffentlichkeit als essentiellen Reproduktionsmechanismus genau dieser demokratischen Legitimität einhergeht.

Die europäischen Krisendiskurse der letzten Jahre entpuppen sich als ein Teufelskreis aus Krise, News und Nationalismus: Europäische Politik ist vor allem dann für die Medien attraktiv, wenn sie als Krise erzählt werden kann. Hinter den Krisen stehen Konflikte zwischen den Mitgliedsländern, die medial nicht nur konfrontativ zugespitzt werden, sondern auch anhand von Auf- und Abwertungen die Abgrenzungen zwischen den Nationen befördern. Diese Diskurse stärken das Nationalbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger, die Unterstützung für gemeinsame Lösungen gerät dagegen ebenfalls in die Krise.

Soziale Netzwerke sind Resonanzräume für Populisten geworden, ihre Algorithmen unterscheiden nicht zwischen Fakten und Fakes, sie folgen einem Geschäftsmodell statt einer demokratischen Grundordnung.

Was sind die Ursachen für diesen toxischen Europadiskurs? Es fehlt an einer europäischen Öffentlichkeit, die bis heute weder über die Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten, noch eines europäischen Supermediums, noch mit Hilfe digitaler Kanäle geschaffen werden konnte.

Die Mitgliedstaaten reden zwar über die EU und übereinander, aber nicht miteinander. Europa verhandelt europäische Themen in nationalen Filterblasen statt in einem europäischen Kommunikationsraum. Soll heißen: Die Bürgerinnen und Bürger bekommen Informationen über europäische Politik durch einen nationalen Filter serviert. Dieser Filter ist kein Algorithmus, sondern eine mediale Diskursordnung, die von einer einseitig nationalen Sicht auf europäische Belange geprägt ist. Sie legt den Fokus auf den nationalen Saldo statt auf die europäische Solidarität, sie konstruiert das europäische Kollektiv auf der Basis nationaler Narrative.

Mit anderen Worten: In den Öffentlichkeiten gibt es ein Verständnis von und die Präferenz für ein „französisches Europa“, ein „deutsches Europa“ oder ein „ungarisches Europa“, aber eben nicht für ein europäisches Europa, das sich aus einem europäischen Frankreich, Deutschland und Ungarn zusammensetzt. Für einen Austausch sind die Wände der nationalen Blasen zu robust. Folglich fehlt es an einem Gefühl von Zusammengehörigkeit in Europa, weil das nicht allein durch die Summe nationaler Zugehörigkeitsgefühle zur EU entstehen kann. Dabei kommen einem einerseits die weithin unerschöpften digitalen Potenziale für eine europäische Öffentlichkeit in den Sinn. Andererseits die von privatwirtschaftlichen Interessen übertrumpften demokratischen Möglichkeiten der Digitalisierung. Soziale Netzwerke sind Resonanzräume für Populisten geworden, ihre Algorithmen unterscheiden nicht zwischen Fakten und Fakes, sie folgen einem Geschäftsmodell statt einer demokratischen Grundordnung.

Oligopolisierung des öffentlichen Raumes

Es sind Plattformen wie Facebook, Google oder YouTube, die den digitalen öffentlichen Raum privatisiert und oligopolisiert haben. An ihnen geht kaum ein Datenstrom im digitalen Ökosystem mehr vorbei. Unter ihrer Kontrolle ist die Relevanz, Sichtbarkeit, Verbreitung und Darstellungsform öffentlicher Belange. Sie haben die Hoheit über persönliche Daten, ja ihnen gehört die Infrastruktur, auf der sich demokratische Öffentlichkeit im Netz konstituiert. Man könnte sagen: Mit der Digitalisierung ist die Öffentlichkeit der Öffentlichkeit abhandengekommen.

Davon ausgehend formuliere ich den Vorschlag für eine Plattform Europa in öffentlicher Hand. Diese Plattform verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele: Erstens eine Demokratisierung des digitalen Raums in Europa, somit die Schaffung einer digitalen Öffentlichkeit nach europäischen Werten, die dem Gemeinwohl und der europäischen Demokratie dient.

Mit der Digitalisierung ist die Öffentlichkeit der Öffentlichkeit abhandengekommen.

Eine solche Plattform in die öffentliche Hand zu geben, kann durchaus als ein Schritt zur Institutionalisierung des Internets verstanden werden – nachdem man feststellen muss, dass das uninstitutionalisierte Internet nach demokratischen Maßstäben gescheitert ist, wenn nicht gar zu einer Gefahr für die Demokratie geworden ist. Zweitens sollen die dezentralen, nationenunabhängigen Strukturen des Netzes endlich für die europäische Integration nutzbar gemacht werden.

In seinem vielbeachteten Buch „The People vs Tech“ argumentiert der britische Journalist Jamie Bartlett, dass die Demokratie und das Internet in ihren Wesen unvereinbar miteinander seien. Ich argumentiere: Die Demokratie ist sehr wohl für die digitale Welt gemacht, aber die digitale Welt bisher nicht für die Demokratie. Weil die Digitalisierung bis heute von der Wirtschaft, nicht von der Demokratie gesteuert wird. Europa könnte das ändern. Muss es ändern. Denn im Grunde ist das Internet wie für die europäische Demokratie gemacht. Es kann geographische, sprachliche und kulturelle Grenzen besser überwinden als jedes andere Medium. Auf der Plattform Europa geht es deshalb darum, die Infrastruktur für einen europäischen Kommunikationsraum zu schaffen, der die zentralen Bedürfnisse einer europäischen Demokratie erfüllen kann.

Die Demokratie ist sehr wohl für die digitale Welt gemacht, aber die digitale Welt bisher nicht für die Demokratie.

Auch wenn die konkreten Funktionen und Inhalte der Plattform Europa (im Gegensatz zur EU) unbedingt bottom-up statt top-down entwickelt werden sollten, möchte ich als „Basisausstattung“ vier Bereiche vorschlagen: Ein europäischer Newsroom für einen paneuropäischen Diskurs über europäische Themen; Unterhaltungs- und Kulturangebote zur Repräsentation eines European Way of Life; Instrumente der politischen Partizipation zum Abbau des Beteiligungsdefizit in der EU sowie Apps, die alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrer Mobilität von der europäischen Integration profitieren lassen. Sprachbarrieren lassen sich heute mit Hilfe Künstlicher Intelligenz überwinden – sogar in Echtzeit.

Über den Autor
Johannes Hillje
Politikberater

Johannes Hillje (Jahrgang 1985) ist ein deutscher Politikberater und Autor. Er ist „Policy Fellow“ bei „Das Progressive Zentrum“, einem Berliner Thinktank. 2017 veröffentlichte Hillje das Buch „Propaganda 4.0 – Wie rechte Populisten Politik machen“. 2019 folgte sein zweites Buch „Plattform Europa – Warum wir schlecht über die EU reden und wie wir den Nationalismus mit einem neuen digitalen Netzwerk überwinden können“, auf den dieser Text zurückgeht. Beide Bücher erschienen im Bonner Dietz Verlag. 2018 veröffentlichte Hillje die Studie „Rückkehr zu den Politisch Verlassenen“ zusammen mit dem Progressiven Zentrum.

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.