Illustration: zwei menschen tauschen sich aus, einer redet, der andere hört zu.

Empathische Außenpolitik

Eine „Außenpolitik der Gesellschaften“ funktioniert nur, wenn die Schnittstelle zwischen Regierung und zivilgesellschaftlichen Organisationen funktioniert. Das setzt Verständnis für die Bedürfnisse vor Ort und die Dynamik von Konflikten und Friedensprozessen voraus.

Welche Rolle spielen die Zivilgesellschaften in der internationalen Politik?

Eine Zoom-Konferenz, nur wenige Tage nach dem Chaos von Kabul. Am Flughafen der afghanischen Hauptstadt versuchen zur gleichen Zeit zahllose Menschen, nach dem Abzug der ausländischen Streitkräfte aus dem Land zu entfliehen. Dr. Sima Samar, Mitglied im Global Peacebuilders Network, hat sich nicht wie üblich aus Kabul, sondern aus Houston/Texas zugeschaltet. Sie ist eine prominente afghanische Menschenrechtsverteidigerin, ausgezeichnet unter anderem mit dem Right Livelihood Award, dem alternativen Nobelpreis. Sie hat sich insbesondere für Frauenrechte eingesetzt. Deshalb war sie hochgefährdet, als die Taliban das Land übernahmen. Weil sie zufällig vorher eine Einladung in die USA angenommen hatte, konnte sie entkommen.

Der Westen hat Afghanistan nie richtig verstanden.

Ihre Kollegen aus der ganzen Welt, sind nun gespannt, wie Sima Samar in die Zukunft blickt. Was hält sie grundsätzlich von Interventionen des Westens – mit militärischem Eingreifen und dem Versuch, „Nation Building“ zu initiieren? Sima Samar spricht nicht nur über die afghanische Erfahrung, sondern verallgemeinert: „Ausländische Akteure werden zuerst als Befreier bejubelt, dann kritisch beobachtet, aber schon sehr bald als Besatzer bekämpft.“ Wie andere Intellektuelle aus ihrem Land sagt sie: „Der Westen hat Afghanistan nie richtig verstanden.“ Die Komplexität der örtlichen Verhältnisse – Ethnien, kulturelle Eigenheiten, geschichtliche Linien, geografische Unterschiede – sei aus der westlichen Perspektive kaum zu erfassen. Dieses Verständnis sei jedoch notwendig, um eine positive Entwicklung auf Dauer anstoßen zu können. Ihr Fazit am Ende des virtuellen Treffens: „Ausländisches Eingreifen, egal wo auf der Welt, sollte lieber dreimal überdacht werden, bevor Regierungen dafür grünes Licht geben.“

 

Mehr Demut in der Herangehensweise

Die desaströsen Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte – etwa mit den Missionen des Westens in Afghanistan, Irak und Somalia – müssen zu einem Umdenken auch in der deutschen Außenpolitik führen. Ich möchte dafür ein paar Impulse beisteuern, ohne mir anzumaßen, umfassend gültige Aussagen machen zu können. Vielleicht liegt darin auch ein erster Schlüssel für eine Neuorientierung: mehr Demut in der Herangehensweise.

Mehr Bescheidenheit, was die Einschätzung der eigenen Möglichkeiten angeht. Mehr Respekt vor den Kompetenzen in den Ländern, in denen wir eine positive Veränderung in Richtung Frieden, Menschenrechte und Demokratie unterstützen wollen. Demut wird hier verstanden als eine Haltung der Mitte: nicht Kleinmut (wir können eh nichts erreichen), nicht Hochmut (wir wissen eh, wie´s geht), sondern die eigene Selbstwirksamkeit und Bedeutung realistisch einschätzen.

 

Menschen aus verschiedenen Ländern diskutieren miteinander.
Die Zivilgesellschaft soll in sich entwickelnden Ländern und in Konfliktregionen eine zentrale Rolle spielen, um die Herausforderungen vor Ort zu bewältigen, Foto: Antenna via unsplash

Mich hat das Diktum des ehemaligen Außenministers und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier auf Anhieb begeistert: Er sprach auf einem Symposium im Jahr 2015 von einer „Außenpolitik der Gesellschaften“. Damit meinte er, so jedenfalls meine Lesart, dass die Verbindungen zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen einen hohen Stellenwert haben.

Einmal, weil in manchen Phasen der Kontakt über die diplomatischen Kanäle schwierig bis unmöglich werden kann. Zum Zweiten, weil die Zivilgesellschaft in sich entwickelnden Ländern und in Konfliktregionen eine zentrale Rolle spielen soll, um die Herausforderungen vor Ort zu bewältigen. Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme, asiatische Lösungen für asiatische Probleme. Das ist die Logik.

Diese programmatische Aussage hat mich inspiriert, weil sie mit den persönlichen Erfahrungen korrespondiert. Als Reporter, der viel in Entwicklungsländern und Konfliktregionen recherchiert hat, und als Koordinator des Global Peacebuilders Network (GPN) weiß ich: Friedensprozesse sind meist dann erfolgreich, wenn die regionale Zivilgesellschaft so gestärkt wird, dass sie wirkungsvoll Einfluss nehmen kann.

Die Unterstützung kann auch aus dem Ausland kommen; vielerorts muss sie es sogar, weil repressive Regimes Menschenrechtler und Friedensmacher bespitzeln, bedrohen, verhaften. Aber der wichtigste Erfolgsfaktor bleibt die regionale Kulturkompetenz. Die Mitglieder des GPN beispielsweise verbindet die gleiche Haltung, egal ob sie in Mexiko, in Ruanda oder in Indonesien aktiv sind: Wir sind hier geboren, wir sind hier vernetzt und wir bleiben hier, egal was passiert. Sie kennen die kulturellen Eigenheiten ihrer Heimatländer, mit denen sie konstruktiv umgehen können.

Sie haben – im Unterschied zu ausländischen Kräften, die kommen und gehen – den langen Atem, den gesellschaftliche Wandelprozesse brauchen. Und sie haben aus eigener leidvoller Erfahrung einen unbändigen Willen, etwas für die Menschen zu erreichen, mit denen sie zusammenleben.

 

Dem Geflüster lauschen

Wer wie Pastor James Wuye und Imam Muhammad Ashafa, die Leiter des Interfaith Mediation Center in Nigeria, zwischen Christen und Muslimen vermitteln will, braucht intime Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse. Über unsichtbare „rote Linien“, die nicht überschritten werden dürfen; über das Gespinst persönlicher Verflechtungen und Beziehungen; über die Empfindlichkeiten von Ethnien und religiösen Gruppen.

 

Deutschland-Flaggen vor und auf dem Reichstagsgebäude in Berlin.
Der deutsche Außenminister sprach von einer „Außenpolitik der Gesellschaften", Foto: Karlherl via pixabay

 

 

Friedenskonsolidierung erfordert jedoch, wie schon der Begriff sagt, eine langfristige Perspektive.

Wer wie der nordindische Menschenrechtsanwalt Babloo Loitongbam antritt, „außergerichtliche Tötungen“ durch Polizisten und Soldaten zu stoppen, muss sich nicht nur mit nationalem und internationalem Recht auskennen. Er muss auch ständig ein Ohr für das Machtgeflüster in seinem Bundesstaat Manipur haben, muss wissen, wann sich die Anführer von bewaffneten Rebellengruppen auf die Füße getreten fühlen und gewaltsam zuschlagen könnten.

Wer wie Halima Adan in Somalia ein Zentrum betreibt, in dem bei Kriegshandlungen vergewaltigte Frauen Schutz finden, muss verstehen, wie man das in einer konservativen muslimischen Gesellschaft am besten tarnt. An diesen Beispielen ist ablesbar: Über dieses komplexe Kontextwissen werden Ausländer, die für ein paar Jahre ins Land kommen, niemals verfügen können.

Vor zehn Jahren schrieb ich im Kulturreport, „die Heilung solch zerrissener, hassgeprägter Gesellschaften muss ebenfalls aus ihrer Mitte kommen.“ Die desaströsen Erfahrungen mit Interventionen des Westens, etwa mit dem Projekt eines „Nation Building“ in Afghanistan, belegen diese These auf leidvolle Weise.

 

Meterhohe Papierstapel.
Die bürokratischen Hürden sind nicht mehr zu bewältigen, Foto: Christa Dodoo via unsplash

Eine „Außenpolitik der Gesellschaften“ mit deutschem Absender kann funktionieren, wenn die Schnittstelle zwischen Regierungsstellen und zivilgesellschaftlichen Organisationen funktioniert, insbesondere auch mit denen im Ausland.

Das ist aber leider nicht der Fall. Aus Sicht der Zivilgesellschaft hapert es in den Ministerien an Verständnis für die Bedürfnisse vor Ort, für die Dynamik von bewaffneten Konflikten und Friedensprozessen, für die Art und Weise, wie bürgerschaftliche Organisationen arbeiten, leben und kommunizieren. Ich weiß von vielen NGOs, die resigniert aufgegeben haben, Unterstützung etwa beim Auswärtigen Amt oder beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu beantragen.

Die bürokratischen Hürden seien in den vergangenen Jahren immer höher geworden, der Aufwand für Antragstellungen und Berichte, Dokumentationen und Evaluierungen einfach nicht mehr zu bewältigen.

Ein Beispiel von vielen: Für die Verwendungen von Geldern des Auswärtigen Amts gilt eine Sechs-Wochen-Frist. Das heißt, dass angeforderte Beträge innerhalb von sechs Wochen ausgegeben werden müssen, bevor neue Mittel fließen dürfen. In Konfliktregionen ist das oft nicht möglich, weil unter chaotischen Bedingungen und mit maroden Banken gewirtschaftet werden muss. Anderer Hinderungsgrund, um wirklich nachhaltige Erfolge für mehr Frieden zu erzielen, ist die Vorgabe, dass nur einjährige Projekte gefördert werden. Friedenskonsolidierung erfordert jedoch, wie schon der Begriff sagt, eine langfristige Perspektive. Kurzatmige Förderpolitik ist dysfunktional.

 

Vertrauen reduziert Komplexität

Unter den gegenwärtigen Bedingungen stellt sich die Außenpolitik der Gesellschaften als ein Hürdenlauf dar, zu dem sich immer weniger Teilnehmer anmelden. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen aus dem globalen Süden wenden sich an andere internationale Player. Etwa an Schweden und die Schweiz, die eine empathischere Form der Unterstützung pflegen. Ihre Strategie, die erneut mit Demut zu tun hat: Gemeinsam werden nur die zu erreichenden Ziele eines Projekts festgelegt, die Mittel und Maßnahmen zur Umsetzung und Zielerreichung bestimmen die örtlichen Akteure selbst. Ihre Kernkompetenz ist, mit der Komplexität in ihrem Land umgehen zu können.

Misstrauen erzeugt „Kontrollitis“. Den Wunsch, dass (Steuer-)Gelder transparent und effektiv verwendet werden, teilen die meisten zivilgesellschaftlichen Akteure. Unverständnis finden dagegen immer stärker wuchernde Kontrollmechanismen, als deren Wurzel ich ein grundsätzliches Misstrauen sehe. Sie führen am Ende dazu, dass mehr Zeit für Buchhatung, Finanz- und Sachberichte draufgeht als für die Arbeit mit Menschen, für das Wirken am Friedensprozess, für Entwicklung.

Es braucht von beiden Seiten den Willen, kommunikative Brücken zu schlagen. Wer will, findet Wege, wer nicht will, findet Gründe.

Vertrauen reduziert Komplexität. Wie könnte eine vertrauensbasierte „Außenpolitik der Gesellschaften“ aussehen? Als Basis dafür schlage ich etwas sehr Banales vor: Sprecht miteinander! Das ist auch ein Erfolgsrezept für viele Friedensprozesse: über Lagergrenzen hinweg miteinander sprechen, von sich und seinen Erfahrungen, Werten und Haltungen erzählen und dem anderen mit offenem Herzen zuhören. Das bringt Menschen einander nahe. Nun gehören Regierungsmitarbeiter und zivilgesellschaftliche Akteure zwar nicht verfeindeten Gruppen an, aber sie leben durchaus in sehr verschiedenen Kulturen. Erstere im globalen Norden, in finanzieller Absicherung, eingebunden in behördliche und bürokratische Strukturen, oft den Standort zwischen Berlin und ausländischen Botschaften wechselnd. All das verhindert, sich wirklich von Themen, Menschen und deren Anliegen berühren zu lassen. Die anderen engagieren sich im globalen Süden, in prekären finanziellen Verhältnissen, getrieben von einer starken Motivation im Herzen, einen Wandel zum Besseren für ihr Land und dessen Menschen zu erkämpfen. Zwei Lebenswelten, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Es braucht von beiden Seiten den Willen, kommunikative Brücken zu schlagen. Wer will, findet Wege, wer nicht will, findet Gründe. Die Wege könnten gut moderierte, regelmäßige Dialoge sein, deren Hauptziel es ist, sich gegenseitig empathischer wahrnehmen zu können. Ich behaupte, dass in echten Dialogen die wechselseitigen „Feindbilder“ dahinschmelzen würden.

Eine wissenschaftliche Studie der Psychologin Emily Kubin von der Universität Koblenz-Landau zeigt, dass der Austausch persönlicher Erfahrungen eine der wichtigsten Brücken über gesellschaftliche Gräben hinweg sein kann. Den anderen besser zu verstehen, heißt nicht automatisch, dessen Haltungen und Logiken zu billigen – aber man kann deren Entstehung und Wirkweise besser nachvollziehen.

 

Der Norden muss diese Fragen verstehen

Illustration: Athmospären, die sich die Hände reichen und eine herzförmige Karte bilden
Der Westen selbst kann dort keinen Weltfrieden schaffen, aber er kann diejenigen mit voller Kraft unterstützen, die es versuchen, Foto: GDJ via pixabay

Von einer Gruppe deutscher NGO, die regelmäßig mit Geldern des Auswärtigen Amtes im Ausland arbeiten, wurde Ende 2020 ein solcher Gedankenaustausch vorgeschlagen. Zunächst wurde der Gedanke von Mitarbeitenden des Ministeriums begeistert begrüßt. Doch dann wurde der Termin für eine erste Gesprächsrunde so lange vertagt, bis vom Anfangsinteresse auf beiden Seiten nichts mehr übrig war.

So kam es, dass kein einziges Treffen stattfand. Ähnliche Erfahrungen werden immer wieder gemacht, wenn es um das Gespräch zwischen Regierung und Zivilgesellschaft geht.

Wir brauchen aber dringend ehrliche Dialoge als Verständnisbrücken zwischen den beiden Welten, wenn wir weiterhin das Ideal einer „Außenpolitik der Gesellschaften“ verfolgen wollen. Als Reporter in Konfliktregionen habe ich immer wieder beobachten können, dass die Wirkmöglichkeiten von Menschen aus dem globalen Norden sehr begrenzt sind.

Ich bin zu dem Schluss gekommen: Wir selbst können dort keinen Frieden schaffen, aber wir können diejenigen mit voller Kraft unterstützen, die es versuchen. Mit Geld, Beratung, Vernetzung und Angeboten zur Qualifizierung. Damit sie weiterhin und noch besser ihre gute Arbeit tun können.

Es muss jedoch den Akteuren vor Ort überlassen werden, welche Angebote sie nutzen und welche Maßnahmen zielführend sind. Hören wir ihnen zu! Das wäre eine gleichzeitig entschlossene und im besten Sinne demütige Form der Zusammenarbeit. Es wäre eine empathische „Außenpolitik der Gesellschaften“.

Über den Autor
Portrait von Michael Gleich
Michael Gleich
Wissenschaftsjournalist

Michael Gleich ist Wissenschaftsjournalist, Moderator und Entwickler publizistischer Projekte. Im Jahr 2016 initiierte er einen Gipfel für zivilgesellschaftliche Friedensmacher aus weltweiten Krisengebieten. Für sein Projekt „Peace Counts“, reisten Journalisten und Fotografen in über 30 Konfliktregionen und dokumentierten die Arbeit von Friedensmachern. Diese Initiative wurde auch vom ifa – Institut für Auslandsbeziehungen unterstützt.

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