Wandmalerei auf eine Backsteinmauer: Ein Mensch mit Vogelgesicht singt in ein Mikrofon

„Es kann nicht sein, dass wir nur viel reden, aber dann nicht entsprechend handeln“

Der Abzug der westlichen Streitkräfte aus Afghanistan und das darauffolgende Debakel werfen Fragen auf: Warum ist das Projekt, eine Nation aufzubauen, gescheitert? Was versteht Europa unter „Werteexport“? Und kann Europa neues Vertrauen schaffen?

Herr Hellyer, bedeutet das Debakel von Kabul für den Westen das „Ende des Werteexports“, wie eine deutsche Zeitung titelte?

Als Wissenschaftler, der sich mit diesen Fragen konzeptionell auseinandersetzt, aber auch als jemand, der in der „westlichen Welt“ wie auch in der „muslimischen Welt“ lebt, sind dies Fragen, mit denen ich täglich zu tun habe. Ich schätze es, wenn man diese Fragen umfassend und offen betrachtet. In Ihrer Frage steckt die Annahme, dass der Westen eine Reihe von Werten hat, die ihm wichtig sind, und dass er versucht, diese Werte als universell gültig zu exportieren. Ich denke, diese beiden Annahmen sind etwas umstritten, und ich möchte darauf eingehen, warum.

Der Westen als Untersuchungskategorie beispielsweise ist etwas nebulös und verallgemeinernd. Wir haben westliche Gesellschaften in Nordamerika, in Europa und in Australasien. Diese Kontinente unterscheiden sich sehr in der Art und Weise, wie sie die Welt philosophisch und konzeptionell betrachten. Vergleichen Sie zum Beispiel, wie die Menschen in den Vereinigten Staaten im Allgemeinen über die Frage der Waffenkontrolle diskutieren, mit dem, was die Gesellschaften in anderen Teilen der westlichen Welt tun. Betrachten Sie darüber hinaus, wie dies innerhalb verschiedener nationaler Gesellschaften geschieht – zum Beispiel das Thema Multikulturalismus in Kanada.

Es ist also ziemlich schwierig, über „westliche Werte“ zu sprechen, ohne ins Detail zu gehen, worüber wir eigentlich reden. Darüber hinaus können wir auch über die „Verwestlichung“ sprechen, die außerhalb dieser Kontinente stattfindet, und darüber, wie sich diese auf die Gesellschaften beispielsweise in Afrika und Asien auswirkt – in der Regel in den sozioökonomischen Eliten und insbesondere über die verwestlichte Bildung. Die Situation ist ziemlich komplex, und ich denke, wir müssen unsere Annahmen über das, worüber wir sprechen, differenzieren.

Die zweite Annahme bezieht sich auf die Frage, ob wir tatsächlich versuchen, diese „westlichen Werte“ zu exportieren, und auch hier würde ich sagen, dass dies umstritten ist. Ich denke, dass wir dort, wo wir Beweise für diese Annahme finden – zum Beispiel im Irak-Krieg 2003 –, mindestens ebenso viele Beweise dafür finden, dass es bei der ganzen Behauptung, „westliche Werte zu exportieren“, eher um realpolitische Ideen ging, um dem größten nationalen Interesse für dieses oder jenes Land zu entsprechen. Die gesamte Diskussion darüber, „westliche Werte zu exportieren“, war auch mit einem Militarismus und einer Vielzahl materieller und kommerzieller Interessen verwoben. Nun könnte man argumentieren, dass es bei all dem auch sehr stark um „westliche Werte“ geht – und dafür gibt es sicherlich ein Argument.

Das ist wahrscheinlich nicht genau das, was wir uns vorstellen – aber genau darauf will ich hinaus. Was meinen wir wirklich mit „westlichen Werten“, und was wollen wir damit sagen, dass wir hier oder dort etwas tun? Und zweifeln nicht zumindest einige Menschen die Vorstellung an, dass wir all diese Dinge als Ergebnis eines moralischen Internationalismus tun?

Ein apokryphes Zitat, das Mahatma Gandhi zugeschrieben wird, lautet in etwa so: Ein Journalist: Was halten Sie von der westlichen Zivilisation? Gandhi: Ich denke, sie wäre eine gute Idee.

In diesem Sinne frage ich mich, ob die Vorstellung, der Westen habe jemals versucht, irgendwelche Werte wirklich zu exportieren, nicht etwas zweifelhaft ist. Meistens wurde sie als rhetorisches Mittel gebraucht. Näher an der Wahrheit scheint mir die Vorstellung, dass viele westliche Staaten – eher willkürlich und nicht konsequent – auf eine politisch liberale internationale Ordnung gedrängt haben, die zu mindest rhetorisch durch internationales Recht und internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen usw. gestützt ist. Ich behaupte, dies ist eher willkürlich und nicht konsequent geschehen. Wir können uns zum Beispiel ansehen, wie sich die mächtigste westliche Nation, die Vereinigten Staaten, im arabisch-israelischen Konflikt engagiert hat und häufig ihr Veto im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nutzt, um Resolutionen zu kippen, die Israel für seine Verstöße gegen das Völkerrecht verurteilen sollten. Nichtsdestotrotz lautet das übergeordnete Narrativ, dass die liberale internationale Ordnung durch das Völkerrecht untermauert wird, und dass wir diese Ordnung im Westen fördern.

Natürlich werden viele Staaten dagegen argumentieren, dass das wirklich aufrichtig ist. Denn was in den 1990er Jahren in Bosnien oder in den 2010er Jahren in Syrien geschehen ist und natürlich der Irak-Krieg von 2003 stellen all das in Frage. Und das ist meine grundsätzliche Kritik an diesem Narrativ: Auch wenn wir hoffen, dass das Völkerrecht die Grundlage der internationalen Ordnung bildet, ist dies nicht wirklich der Fall. Und ich bin mir nicht sicher, wann dies jemals so war.

Ist die Idee des Westens gescheitert?

Ich bin mir nicht sicher, was wir damit wirklich meinen. In der chauvinistischsten Lesart ist „die Idee des Westens“ eine Art von Exzeptionalismus, der den Westen als Vorbild des zivilisatorischen Fortschritts betrachtet, der ein Leuchtturm für den Rest der Welt sein sollte. In der wohlwollendsten Lesart betrachten wir den Westen immer noch als eine Art einheitliches Gebilde. In beiden Fällen denke ich, die Wahrheit ist, dass der Westen eine Menge zu bieten hat – immer noch – vor allem in Bezug auf die Idee der Rechtsstaatlichkeit und einer verantwortlichen Regierung, zumindest im Vergleich zu anderen Ländern – aber er hat immer noch große Probleme im Inneren, die wir ernst nehmen müssen.

Sollten der Westen und Europa weiterhin dafür eintreten, die Demokratie in der Welt zu verbreiten, während China zunehmend sein Gegenmodell propagiert?

Ich würde das ein wenig abändern und sagen, dass alle – auch der Westen und die Europäer – sich für Grundrechte und -freiheiten, für eine verantwortliche Regierung, die von den Regierten gebilligt wird, und für ein internationales Ordnungssystem einsetzen sollten, das durch das Völkerrecht gestützt wird. Andernfalls entsteht ein Vakuum, und in diesem Vakuum fördert China eindeutig sein eigenes „Gegenmodell“, dessen Kern eine Art von Autoritarismus ist, der sich am deutlichsten im Umgang mit der eigenen muslimischen Bevölkerung der Uiguren zeigt.

Mir liegt sehr viel daran, dass wir, auch wenn wir im Westen weiterhin selbstkritisch über unsere eigenen Schwächen und Fehler sprechen, anerkennen, dass Politik die Kunst des Möglichen ist. Der Westen mag nicht perfekt sein, aber hätte man lieber eine heuchlerische, kaputte internationale Ordnung, die zumindest teilweise durch internationales Recht gestützt wird – oder eine von China geführte? Denn im Moment bin ich mir nicht sicher, ob es viele Alternativen gibt, die einigermaßen plausibel sind.

Illustration: Zwei Menschen. Der eine schaut durch ein Loch in die Brust des anderen und sieht das Universum.
Politik ist die Kunst des Möglichen, © CDD20 via pixabay

 

 

Mir liegt sehr viel daran, dass wir, auch wenn wir im Westen weiterhin selbstkritisch über unsere eigenen Schwächen und Fehler sprechen, anerkennen, dass Politik die Kunst des Möglichen ist.

Wie kann man den Multilateralismus, die Menschenrechte und die friedliche Koexistenz weiter fördern?

Theoretisch ist der Multilateralismus genau der Weg nach vorne, wenn es darum geht, Grundfreiheiten und Grundrechte zu fördern. Ein Teil des Problems für uns im Westen besteht jedoch darin, dass wir dies nur selten besonders ernsthaft tun. Wir haben unsere Menschenrechtsabteilungen in den Außenministerien und so weiter, aber ihre Anliegen und Berichte werden fast immer auf einer viel niedrigeren Prioritätsebene behandelt als Handels-und Sicherheitsinteressen.

Das haben wir in den letzten zehn Jahren mehrfach erlebt, zum Beispiel in der Art und Weise, wie wir mit verschiedenen Ländern in der MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika) zusammengearbeitet haben. Wir reden viel über die Menschenrechtslage in diesen Ländern, aber letzten Endes geben wir unseren Sorgen über Flüchtlingsströme und radikalen Extremismus den Vorrang. Alles andere ist in der Politik viel weniger wichtig, und so normalisieren wir Autoritarismus und Autokratie ganz leicht. Ich behaupte nicht im Entferntesten, dass wir etwas ähnliches wie das Debakel des Irak-Kriegs wiederholen sollten – aber wenn wir es mit dem Völkerrecht und den Grundrechten ernst meinen, dann sollte das viel mehr Einfluss darauf haben, wie wir uns innerhalb unserer Gesellschaften und auch international engagieren. Leider sehe ich von dieser Ernsthaftigkeit nicht mehr, sondern weniger.

Welche Rolle kann der kulturelle Dialog in der Zukunft spielen und wie kann Europa sein Potenzial ausschöpfen?

Das ist eine sehr interessante Frage, und ich denke, sie trifft ein echtes Anliegen, das Europa heute hat, und auch haben sollte. Die Geschichte auf unserem Kontinent ist sehr bedeutend, und für die Welt von großem Wert. Aber, und das ist ein großes Aber, während ich glaube, dass diese Art des kulturellen Dialogs sehr wichtig ist, gibt es zwei elementare Voraussetzungen, die wir im Auge behalten müssen.

Die erste ist, dass wir Europäer unsere eigene Geschichte nicht kennen. In unseren Bildungssystemen wird sie unseren Kindern nur unzureichend beigebracht, und wir geben nur ungern zu, dass sie in weiten Teilen falsch ist. Selbst heute gibt es große Debatten darüber, wie viel wir unseren Kindern über die Geschichte der verschiedenen europäischen Kolonialismen in Afrika und Asien beibringen sollen – oder ob wir das überhaupt tun sollen; auch das ist ein Teil unserer Geschichte. Der Kolonialismus endete nicht einfach im 20. Jahrhundert – er wirkt bis heute in unseren Gesellschaften nach, und es ist sehr schwierig für uns, diese Auswirkungen zu verstehen, ohne offen über unsere Vergangenheit zu sprechen. Wenn wir im Ausland einen kulturellen Dialog führen, ist es wichtig, dass wir ehrlich über unsere eigene Vergangenheit sprechen und auch anderen gegenüber ehrlich sind, dass wir damit zu kämpfen haben.

Gleichwohl, und dies ist die zweite Vorraussetzung, gibt es viel, worauf wir stolz sein können, und viel, dessen wir uns bewusst sein müssen. Wir sollten nicht versuchen, das zu leugnen, in der Hoffnung, irgendwie „verständnisvoll“ oder „sensibel“ zu sein – es ist sehr einfach, bewusst und dankbar dafür zu sein, Engländer, Deutsche, Franzosen, Europäer usw. zu sein, und sich nicht arrogant gegenüber anderen Kulturen zu verhalten oder sie zu verunglimpfen. Das ist gar nicht so schwer zu erreichen. Als Europäer und Engländer bin ich dankbar – ich bin dankbar für die guten Dinge, die die Engländer getan haben, die guten Dinge, die Europa getan hat – und ich versuche, mir aller Mängel bewusst zu sein. Ich glaube, das macht einen Menschen zu einem besseren Bürger und ermöglicht es, ein wahrer und aufrichtigerer Patriot zu sein. Wenn wir diese Art von Gefühlen im Hinterkopf behalten, glaube ich, dass wir in Bezug auf den interkulturellen Dialog über unseren Kontinent hinaus viel zu bieten haben.

Welche außenkulturpolitischen Initiativen braucht Europa?

Es gibt zwei Dinge, die ich angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts für besonders wichtig halte. Erstens müssen wir alle lernen, dass uns Menschen in der Welt mehr verbindet als trennt. Interkulturelle Initiativen müssen nach den Gemeinsamkeiten suchen, aber auch über die unterschiedlichen Perspektiven, die wir haben, informieren.

Zweitens gibt es aber auch einen übergreifenden universellen Wert, den wir in Europa hoffentlich zusammen mit anderen in der Welt zu fördern versuchen – nämlich eine internationale Ordnung, die durch das Völkerrecht gestützt wird, und die Vorstellung, dass das Recht und nicht die Macht die Grundlage für internationale (und sogar nationale) Beziehungen ist. Ich bin nicht daran interessiert, diesbezüglich Kompromisse einzugehen oder so zu tun, als ob diese Ordnung derzeit nicht angegriffen würde.

Ja, sie wird von vielen angegriffen, und zwar gegen schwächere Teile unserer Gesellschaften. Aber ich denke daran, was in Syrien unter Bashar al-Assad passiert ist, was mit den Uiguren in China, den Rohingya in Myanmar und den Jesiden im Irak geschehen ist, und wir müssen uns darüber im Klaren sein. Und wenn wir uns deutlich ausdrücken, dann müssen wir das auf eine Art und Weise tun, die nicht doppelzüngig ist – wenn wir diese Werte ernsthaft für verteidigungswürdig halten, können wir unsere eigenen Bemühungen nicht sabotieren, indem wir nur viel reden, aber dann nicht entsprechend handeln.

 

Der Kolonialismus endete nicht einfach im 20. Jahrhundert – er wirkt bis heute in unseren Gesellschaften nach, und es ist sehr schwierig für uns, diese Auswirkungen zu verstehen, ohne offen über unsere Vergangenheit zu sprechen. Wenn wir im Ausland einen kulturellen Dialog führen, ist es wichtig, dass wir ehrlich über unsere eigene Vergangenheit sprechen und auch anderen gegenüber ehrlich sind, dass wir damit zu kämpfen haben.

Illustration: Ein Mensch zieht eine Maske von seinem Gesicht.
Wir müssen ehrlich über unsere Vergangenheit sprechen, © CDD20 via pixabay

Das Interview führte William Billows aus der Kulturreport Redaktion.

Über H.A. Hellyer
Portrait von H.A. Hellyer
H.A. Hellyer
Wissenschaftler und Analytiker

H.A. Hellyer ist Fellow an der University of Cambridge, Senior Associate Fellow am Royal United Services Institute in London und Non-Resident Scholar am Carnegie Endowment for International Peace. Als prominenter Intellektueller englischer und arabischer Herkunft, der auf drei Kontinenten aufgewachsen ist, klärt er seit mehr als zwei Jahrzehnten die Öffentlichkeit und Regierungen weltweit über die Geopolitik des Nahen Ostens, des Westens und Südostasiens auf. 2020 wurde er zum Fellow der britischen Royal Society of Arts gewählt, in Anerkennung seiner wissenschaftlichen Arbeit und seiner Analysen zu internationalen Beziehungen, Sicherheit und Glauben.
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