Neue fiktionale Dystopien
Daneben werden die üblichen Höflichkeitsregeln durch die Anonymität beseitigt. Die sozialen Medien unterstützen nicht nur die allgemeine Bereitschaft der Menschen, sich nach Identitätskategorien einzuordnen, sondern sie fördern auch die Entstehung neuer Identitäten durch den Online-Austausch, etwa durch zahllose Subreddits. Ängste um die Zukunft lassen sich häufig am besten durch die Literatur ausdrücken, vor allem mit Hilfe der Science-Fiction, da sie Welten ausmalt, die auf neuen Technologien beruhen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts richteten sich viele dieser Zukunftsängste auf große, zentralisierte, bürokratische Tyranneien, die Individualität und Privatsphäre erstickten. In George Orwells „1984“ kontrolliert Big Brother die Bürger mit Hilfe von Fernsehschirmen, und in Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ bedient sich der Staat biotechnologischer Mittel, um die Gesellschaft zu gliedern und zu überwachen.
Aber das Wesen fiktionaler Dystopien änderte sich in den späteren Jahrzehnten des Jahrhunderts, als Umweltkollaps und unkontrollierbare Viren ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten. Eine spezifische Kategorie widmete sich jedoch den von der Identitätspolitik ausgelösten Befürchtungen. Cyberpunk-Autoren wie William Gibson, Neal Stephenson und Bruce Sterling dachten sich eine Zukunft aus, die nicht von zentralisierten Diktaturen, sondern von einer ungebremsten, durch das Internet ermöglichten Fragmentierung beherrscht wird.
Unsere heutige Welt bewegt sich gleichzeitig auf die gegensätzlichen Dystopien der Hyperzentralisierung und der endlosen Fragmentierung zu. China etwa baut eine gewaltige Diktatur auf, in der die Regierung hochspezifische persönliche Daten über die täglichen Transaktionen sämtlicher Bürger sammelt und ihre Bevölkerung unter Einsatz von Big-Data-Techniken und einem Sozialkreditsystem unter Kontrolle hält. In anderen Teilen der Welt hingegen kann man den Zusammenbruch zentralisierter Institutionen, scheiternde Staaten, zunehmende Polarisierung und einen wachsenden Mangel an Konsens über gesellschaftliche Ziele beobachten. Die sozialen Medien und das Internet ermöglichen die Entstehung eigenständiger Gemeinschaften, die nicht durch physische Barrieren, sondern durch den Glauben an eine gemeinsame Identität abgeschottet sind.
Dystopische Literatur wird zum Glück fast nie wahr. Die Darstellung aktueller, doch zunehmend extremer Trends taugt jedoch als nützliche Warnung: „1984“ wurde zum mächtigen Symbol einer totalitären Zukunft, welche die Menschen vermeiden wollten, und das Buch trug so dazu bei, uns gegen den Autoritarismus zu immunisieren.
Unsere heutige Welt bewegt sich gleichzeitig auf die gegensätzlichen Dystopien der Hyperzentralisierung und der endlosen Fragmentierung zu.
Gleichermaßen können wir uns bessere Lebensbedingungen ausmalen, in denen man größere Vielfalt fördert und zudem akzeptiert, dass Diversität gemeinsamen Zielen dienen und die liberale Demokratie stärken kann, statt sie zu untergraben. Identität ist das Thema, das vielen politischen Phänomenen zugrunde liegt: den neuen populistischen und nationalistischen Bewegungen, dem islamistischen Fanatismus und den Auseinandersetzungen, die sich an Universitäten abspielen.
Wir werden nie aufhören, Identitätsmaßstäbe an uns selbst und unsere Gesellschaften anzulegen. Dennoch müssen wir im Gedächtnis behalten, dass die Identitäten tief in unserem Innern weder fixiert sind noch uns zwangsläufig durch den Zufall der Geburt beschert werden. Identität kann zur Spaltung, aber auch zur Einigung benutzt werden. Letztendlich wird diese Erkenntnis das Heilmittel für die populistische Politik der Gegenwart sein.