Illustration: Frau mit Kopf in verschlossener Kiste, umgeben von Stacheldraht und Luftballons.
Heilmittel für populistische Politik

Francis Fukuyama erinnert daran, dass die Identitäten tief in unserem Innern weder fixiert sind noch uns zwangsläufig durch den Zufall der Geburt beschert werden. Identität kann zur Spaltung, aber auch zur Einigung benutzt werden. Letztendlich wird diese Erkenntnis das Heilmittel für die populistische Politik der Gegenwart sein.

Liberale Demokratien profitieren in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht erheblich von Einwanderern. Aber sie haben unzweifelhaft auch das Recht, ihre eigenen Grenzen zu kontrollieren. Ein demokratisches politisches System stützt sich auf einen Vertrag zwischen Regierung und Bürgern, der beiden Pflichten auferlegt. Dieser Vertrag ist sinnlos ohne eine Eingrenzung der Staatsbürgerschaft und der Wahlrechtsausübung.

Alle Menschen verfügen über ein Grundrecht auf Staatsbürgerschaft, das ihnen gemäß der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nicht willkürlich genommen werden kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie dieses Recht in jedem beliebigen Land für sich beanspruchen können. Zudem stellt das Völkerrecht nicht die Befugnis von Ländern in Frage, ihre Grenzen zu sichern und Kriterien für die Staatsangehörigkeit festzulegen.

Liberale Demokratien profitieren in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht erheblich von Einwanderern.

Was Flüchtlingen geschuldet wird, sind Verständnis, Mitgefühl und Unterstützung. Wie alle moralischen Verpflichtungen müssen sie freilich durch praktische Gedanken über knappe Ressourcen, miteinander konkurrierende Prioritäten und die Tragfähigkeit eines Hilfsprogramms gemäßigt werden.

Dies bedeutet für die EU, dass sie ihre Außengrenzen besser schützen muss. In der Praxis sollten Staaten wie Griechenland und Italien mehr finanzielle Mittel und juristische Kompetenzen zur Regulierung des Einwandererstroms erhalten. Die dafür zuständige Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex ist unterbesetzt und unterfinanziert und wird gerade von den Mitgliedstaaten, die am stärksten daran interessiert sind, Migranten zurückzuweisen, politisch nicht hinreichend unterstützt. Das Schengen-System der Freizügigkeit innerhalb der EU wird sich politisch nicht aufrechterhalten lassen, falls das Problem der europäischen Außengrenzen nicht gelöst wird.

In den Vereinigten Staaten herrscht eine andere Situation, denn die Einwanderungsgesetze sind im Lauf der Jahre uneinheitlich angewandt worden. Ihre Vollstreckung ist nicht unmöglich, sondern eine Frage des politischen Willens. Auch wenn die Ausweisungen unter der Regierung Obama zunahmen, kann man angesichts des häufig willkürlichen Charakters jener Maßnahmen nicht von einer dauerhaften und langfristigen Strategie sprechen.

Die Anwendung der Gesetze erfordert keine Grenzmauer, denn ein hoher Prozentsatz undokumentierter Ausländer reist rechtmäßig ein und bleibt einfach nach Ablauf des Visums in den Vereinigten Staaten. Viel besser könnten die Vorschriften durch Sanktionen gegen Arbeitgeber durchgesetzt werden, die Illegale beschäftigen. Dazu benötigt man jedoch ein nationales Identifikationssystem, das Firmen dabei hilft, zu ermitteln, wer legal im Land ist. Solch ein System ist bisher nicht aufgebaut worden, weil zu viele Unternehmen von billigen Arbeitskräften in Gestalt illegaler Migranten profitieren und sich nicht als Überwacher betätigen wollen.

Ein weiterer Grund für das Fehlen einer Reglementierung ist der beispiellose Widerstand der Bevölkerung gegen ein Identifikationssystem, da Linke wie Rechte dem Staat sehr misstrauisch begegnen. Infolgedessen beherbergen die Vereinigten Staaten gegenwärtig 11 bis 12 Millionen undokumentierte Einwanderer. Die allermeisten sind seit Jahren im Land, verrichten nützliche Arbeit, ziehen Kinder auf und sind gesetzestreue Bürger.

Menschen mit unterschiedlichen Anliegen

Ein Mann auf einer Demonstration trägt ein Sweatshirt mit der Aufschrift "will trade racists for refugees".
Maßnahmen, die Einwanderer, Flüchtlinge und Staatsbürgerschaft betreffen, stehen im Mittelpunkt der aktuellen Identitätsdebatten, doch das Problem ist viel umfassender, Foto: Amir Hanna via unsplash

Die neuen Gruppen, die lautstark gegen jegliche Einwanderung protestieren, sind Bündnisse von Menschen mit unterschiedlichen Anliegen. Ein harter Kern wird von Rassismus und Borniertheit motiviert, kaum etwas könnte die Meinung dieser Personen ändern. Rassisten darf man nicht entgegenkommen, man muss ihnen allein schon aus moralischen Gründen Widerstand leisten.

Andere dagegen machen sich Sorgen darüber, ob sich Immigranten letztlich anpassen werden. Sie sind weniger beunruhigt über die Tatsache der Einwanderung als über ihre Dimensionen, das Tempo des Wandels und die Kapazität bestehender Einrichtungen, den Umschwung zu verarbeiten.

Eine Assimilationsstrategie könnte ihre Sorgen lindern und ihnen helfen, sich von den Fanatikern zu distanzieren. In jedem Fall wäre eine solche Strategie nützlich für den nationalen Zusammenhalt. Maßnahmen, die Einwanderer, Flüchtlinge und Staatsbürgerschaft betreffen, stehen im Mittelpunkt der aktuellen Identitätsdebatten, doch das Problem ist viel umfassender. Die Identitätspolitik ist in einer Welt verwurzelt, in der die Armen und Ausgegrenzten unsichtbar für ihre Mitbürger sind. Der Zorn über Statusverluste beginnt mit realer wirtschaftlicher Not, und er ließe sich eindämmen, wenn es gelänge, die Ängste um Arbeitsplätze, Einkommen und Sicherheit abzuschwächen. Vor allem in den Vereinigten Staaten haben große Teile der Linken bereits vor Jahrzehnten aufgehört, über ehrgeizige Sozialmaßnahmen nachzudenken, welche die Lebensbedingungen der Armen verbessern könnten. Es war leichter, sich über Respekt und Würde auszulassen, als potenziell kostspielige Pläne zu entwerfen, welche die Ungleichheit tatsächlich verringert hätten.

Im 20. Jahrhundert drehte sich die Politik in liberalen Demokratien vorwiegend um übergreifende Wirtschaftsfragen. Die progressive Linke wollte gewöhnliche Bürger vor den Fährnissen des Marktes bewahren und die Ressourcen mit Hilfe des Staates gerechter verteilen. Die Rechte dagegen zielte darauf ab, die freie Marktwirtschaft zu schützen, ebenso wie die Möglichkeit aller, daran teilzuhaben. Kommunistische, sozialistische, sozialdemokratische, liberale und konservative Parteien ordneten sich von links nach rechts auf einem Spektrum an, das sich einerseits am erwünschten Maß staatlicher Intervention und andererseits am Engagement für Gleichheit oder individuelle Freiheit orientierte.

Auch damals gab es bedeutende Identitätsgruppen, darunter Parteien mit nationalistisch, religiös oder regional ausgerichteten Programmen. Doch die Stabilität der repräsentativen Politik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart beruhte auf dominierenden Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien, die sich weitgehend über die Zweckmäßigkeit eines demokratischen Sozialstaats einig waren.

Dieser Konsens steht nun für eine alte Ordnung, die von neuen, in der Identitätspolitik verankerten Parteien heftig angefochten wird. Hier haben wir es mit einer großen Herausforderung für die Zukunft der demokratischen Politik zu tun. Obwohl Auseinandersetzungen über die Wirtschaftspolitik im frühen 20. Jahrhundert zu einer scharfen Polarisierung führten, konnten sich die Vertreter gegensätzlicher ökonomischer Vorstellungen häufig auf halbem Weg treffen

Mühsame Kompromisse

Bei Identitätsfragen ist es ungleich mühsamer, Kompromisse zu schließen: Entweder du erkennst mich an oder nicht. Der Zorn über den Verlust der Würde oder über die eigene Unsichtbarkeit hat oftmals wirtschaftliche Ursachen, doch Kämpfe um die Identität lenken uns davon ab, solche Probleme zu beheben. In Ländern wie den Vereinigten Staaten, Südafrika oder Indien, die stark nach Hautfarbe, Ethnizität und Religion gegliedert sind, ist es schwieriger, breite Arbeiterbündnisse herzustellen und eine Umverteilung ins Auge zu fassen, da Identitätsgruppen mit höherem Status nicht gemeinsame Sache mit gesellschaftlich unter ihnen stehenden machen wollen, und umgekehrt.

Der Aufstieg der Identitätspolitik ist vom technischen Wandel begünstigt worden. Als das Internet in den1990er Jahren zu einer Plattform der Massenkommunikation wurde, glaubten viele Beobachter (darunter auch ich), dass es sich als wichtige Kraft zur Förderung demokratischer Werte erweisen werde.

Etliche antiautoritäre Erhebungen [...] wurden von sozialen Medien und dem Internet angetrieben.

Information ist eine Form der Macht, und wenn das Internet den allgemeinen Zugang zu Informationen vergrößerte, sollte es auch die Macht breiter verteilen können. Darüber hinaus scheint insbesondere der Aufstieg der sozialen Medien ein nützliches Mobilisierungsinstrument zu sein, das es gleichgesinnten Gruppen ermöglicht, sich zu Themen von gemeinsamem Interesse zusammenzuschließen. Sein Peer-to-Peer-Charakter würde die Tyrannei hierarchischer Wächter beseitigen, welche die generell verfügbaren Informationen im Griff hatten.

Und so geschah es: Etliche antiautoritäre Erhebungen, von der Rosen- und der orangenen Revolution in Georgien und der Ukraine bis zu der gescheiterten Grünen Revolution im Iran, der tunesischen Revolte und dem Aufstand auf dem Tahrir-Platz in Kairo, wurden von sozialen Medien und dem Internet angetrieben.

Es ist viel schwerer geworden, Regierungsaktionen geheim zu halten, seit Normalbürger die technischen Mittel zur Publikation von Missbräuchen besitzen. Die Black-Lives-Matter-Bewegung wäre wahrscheinlich ohne allgegenwärtige Mobiltelefone und Videoaufnahmen nicht in Schwung gekommen. Allerdings fanden autoritäre Regierungen wie in China mit der Zeit heraus, wie sie den Gebrauch des Internets durch ihre eigene Bevölkerung kontrollieren und politisch entschärfen konnten, und der Kreml lernte, die sozialen Medien als Waffe gegen seine demokratischen Rivalen einzusetzen.

Doch auch ohne diese äußeren Akteure haben die sozialen Medien es geschafft, die Zersplitterung liberaler Gesellschaften zu beschleunigen, indem sie allerlei Identitätsgruppen in die Hände spielen. Sie verbinden gleichgesinnte Menschen miteinander, die nun nicht mehr dem Zwang der Geographie unterliegen und sich von Personen und Meinungen, die ihnen nicht gefallen, in „Filterblasen“ abschotten können.

In den meisten durch persönlichen Kontakt geprägten Gemeinschaften wäre die Anzahl von Individuen, die einer absurden Verschwörungstheorie Glauben schenken, sehr begrenzt, doch online lassen sich Tausende von Geistesverwandten entdecken. Dadurch, dass die sozialen Medien die Redakteure, Faktenchecker und Berufsstandards der traditionellen Medien umgehen, erleichtern sie die Verbreitung von Falschinformationen sowie Versuche, politische Gegner anzuschwärzen und ihren Ruf zu untergraben.

Illustration eines Mannes und einer Frau mit geometrischen Köpfen, die sich gegenüberstehen.
Soziale Medien verbinden gleichgesinnte Menschen miteinander, die sich von Personen und Meinungen, die ihnen nicht gefallen, in „Filterblasen“ abschotten können, Illustration: Gary Waters / Westend61 via picture alliance

Neue fiktionale Dystopien

Daneben werden die üblichen Höflichkeitsregeln durch die Anonymität beseitigt. Die sozialen Medien unterstützen nicht nur die allgemeine Bereitschaft der Menschen, sich nach Identitätskategorien einzuordnen, sondern sie fördern auch die Entstehung neuer Identitäten durch den Online-Austausch, etwa durch zahllose Subreddits. Ängste um die Zukunft lassen sich häufig am besten durch die Literatur ausdrücken, vor allem mit Hilfe der Science-Fiction, da sie Welten ausmalt, die auf neuen Technologien beruhen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts richteten sich viele dieser Zukunftsängste auf große, zentralisierte, bürokratische Tyranneien, die Individualität und Privatsphäre erstickten. In George Orwells „1984“ kontrolliert Big Brother die Bürger mit Hilfe von Fernsehschirmen, und in Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ bedient sich der Staat biotechnologischer Mittel, um die Gesellschaft zu gliedern und zu überwachen.

Aber das Wesen fiktionaler Dystopien änderte sich in den späteren Jahrzehnten des Jahrhunderts, als Umweltkollaps und unkontrollierbare Viren ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten. Eine spezifische Kategorie widmete sich jedoch den von der Identitätspolitik ausgelösten Befürchtungen. Cyberpunk-Autoren wie William Gibson, Neal Stephenson und Bruce Sterling dachten sich eine Zukunft aus, die nicht von zentralisierten Diktaturen, sondern von einer ungebremsten, durch das Internet ermöglichten Fragmentierung beherrscht wird.

Unsere heutige Welt bewegt sich gleichzeitig auf die gegensätzlichen Dystopien der Hyperzentralisierung und der endlosen Fragmentierung zu. China etwa baut eine gewaltige Diktatur auf, in der die Regierung hochspezifische persönliche Daten über die täglichen Transaktionen sämtlicher Bürger sammelt und ihre Bevölkerung unter Einsatz von Big-Data-Techniken und einem Sozialkreditsystem unter Kontrolle hält. In anderen Teilen der Welt hingegen kann man den Zusammenbruch zentralisierter Institutionen, scheiternde Staaten, zunehmende Polarisierung und einen wachsenden Mangel an Konsens über gesellschaftliche Ziele beobachten. Die sozialen Medien und das Internet ermöglichen die Entstehung eigenständiger Gemeinschaften, die nicht durch physische Barrieren, sondern durch den Glauben an eine gemeinsame Identität abgeschottet sind.

Dystopische Literatur wird zum Glück fast nie wahr. Die Darstellung aktueller, doch zunehmend extremer Trends taugt jedoch als nützliche Warnung: „1984“ wurde zum mächtigen Symbol einer totalitären Zukunft, welche die Menschen vermeiden wollten, und das Buch trug so dazu bei, uns gegen den Autoritarismus zu immunisieren.

Unsere heutige Welt bewegt sich gleichzeitig auf die gegensätzlichen Dystopien der Hyperzentralisierung und der endlosen Fragmentierung zu.

Gleichermaßen können wir uns bessere Lebensbedingungen ausmalen, in denen man größere Vielfalt fördert und zudem akzeptiert, dass Diversität gemeinsamen Zielen dienen und die liberale Demokratie stärken kann, statt sie zu untergraben. Identität ist das Thema, das vielen politischen Phänomenen zugrunde liegt: den neuen populistischen und nationalistischen Bewegungen, dem islamistischen Fanatismus und den Auseinandersetzungen, die sich an Universitäten abspielen.

Wir werden nie aufhören, Identitätsmaßstäbe an uns selbst und unsere Gesellschaften anzulegen. Dennoch müssen wir im Gedächtnis behalten, dass die Identitäten tief in unserem Innern weder fixiert sind noch uns zwangsläufig durch den Zufall der Geburt beschert werden. Identität kann zur Spaltung, aber auch zur Einigung benutzt werden. Letztendlich wird diese Erkenntnis das Heilmittel für die populistische Politik der Gegenwart sein.

Der Text basiert auf Francis Fukuyamas Buch "Identität – Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet", Hamburg: Hoffmann & Campe, 2019.

Über den Autor
Portrait von Francis Fukuyama
Francis Fukuyama
Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stanford, Kalifornien

Francis Fukuyama ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stanford und leitet dort das Center on Democracy, Development and the Rule of Law. In seinem Essay „Das Ende der Geschichte?“ bezeichnete er 1989 die liberale Demokratie als Höhepunkt der gesellschaftlichen Evolution. Im Oktober 2022 erschien sein neues Buch „Der Liberalismus und seine Feinde“, das sich mit der Bedrohung des Liberalismus befasst. Als einer der wichtigsten politischen Theoretiker der USA ist Fukuyama Vorsitzender des Redaktionsausschusses von American Purpose.
Bücher und Monografien

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