Illustration: Drei Menschen ziehen gemeinsam an einem Seil, um die Erde hochzuholen.

Homo Cooperativus

Vom Homo Oeconomicus zum Homo Cooperativus: Globale Herausforderungen wie die Klima- und Coronakrise erfordern nicht weniger, sondern mehr globale Kooperation. Wie können wir die internationalen Beziehungen neu denken?

Die Corona-Pandemie, die keineswegs vorbei ist, und mehr noch die Klima-Krise, die erst in den Anfängen sichtbar wird, werden das internationale System verändern. Mit dem nationalistischen Irrweg des „My Country First“, für den Donald Trump stand, auch mit der Bildung antagonistischer geopolitischer Blöcke werden die gewaltigen, alle nationalen Grenzen einreißenden Herausforderungen nicht zu meistern sein.

Zaghaft meldet sich eine internationale Politik unter dem Label „Multilateralismus“ zurück, ein Standard, der sich nach 1945 in einer Welt durchsetzte, die sich trotz der Blockkonfrontation ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten bewusstwurde und tiefe Ost-West-Gegensätze abmildern konnte. Verfolgung nationaler Interessen ja, aber auch Zusammenarbeit zum allseitigen Nutzen. Selbst die bis 1945 nur von Visionären erträumten „Vereinigten Staaten von Europa“ wurden Wirklichkeit, wenn auch nur in der abgespeckten Variante der Europäischen Union, diesem eigentümlichen Zwitter zwischen Staatenbund und Bundesstaat.

 

Der „Homo Cooperativus": Teilen und Helfen 

Die „Souveränisten“ halten dagegen und fundieren ihren Nationalismus oft mit einem klassischen Wirtschaftsprinzip: dem Selbsterhaltungsinteresse des Homo Oeconomicus. Dieser Idealtyp verfolgt vorwiegend ökonomische Ziele und ist dabei durch Eigennutz getrieben. Produzenten und Konsumenten würden demnach bei weitgehender Markttransparenz rational handeln; über die unsichtbare Hand des Marktes könnten sich private Laster (wie individuelle Gier) in öffentliche Tugenden, also allgemeinen Wohlstand verwandeln. Diese radikale Vereinfachung des Menschenbilds haben viele mit guten Gründen bestritten, auch in der etablierten Wirtschaftswissenschaft sind starke Zweifel aufgetaucht.

Aber wie könnte ein alternatives Paradigma aussehen, das weniger Eigennutz und Konkurrenz ins Zentrum rückt als menschliche Anlagen und Fähigkeiten zur Kooperation? Vorgeschlagen wird hier der „Homo Cooperativus“, den nicht zuletzt die neuere Naturforschung als Standardmodell menschlicher Interaktion belegen kann. Teilen und Helfen, fand eine Arbeitsgruppe um Michael Tomasello am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie heraus, sei schon bei Primaten angelegt, mache aber vor allem bei Menschen bereits vor dem Spracherwerb die conditio humana aus.

Erwachsene helfen einem Kleinkind spontan beim Bewältigen bestimmter Aufgaben, sei es, indem sie mit Hand anlegen oder ihm Informationen zukommen lassen, etwa über den Ort, an dem sich ein gesuchtes Ding befindet. Wäre diese Anlage nicht allgemeine Regel, würden für das Überleben und gute Leben erforderliche Übereinkünfte misslingen, von geteilten einfachen Verhaltensnormen über symbolischen Austausch bis zu höherstufigen sozialen Institutionen.

 

Altruistische Handlungen

Mit wachsender Unabhängigkeit lernen Kinder, Unterschiede zu machen und altruistische Handlungen auch auf Personen zu richten, die sich nicht eventuell einmal revanchieren werden. Die Anthropologie erkennt darin unsere natürliche Ausstattung, auf die jede nachfolgende Enkulturation aufbaut. Jean-Jacques Rousseaus von Natur aus hilfsbereiter und mitfühlender Mensch behält insofern Recht gegen Thomas Hobbes, einen Urvater des Homo oeconomicus, der als rücksichtsloser Egoist erst gezähmt wird, wenn ihm der Staat die Waffen wegnimmt. Auch der Biologe Martin Nowak fand: „Ihre Kooperationsfähigkeit ist der eigentliche Grund dafür, dass es Menschen gelungen ist, sich in fast jedem irdischen Ökosystem einen Lebensraum zu erkämpfen und über die Erde hinaus weit in den Weltraum vorzustoßen.“

Kann ein zwischenmenschliches Muster von Empathie und Zusammenwirken auch Geist und Verfahren „internationaler Beziehungen“ prägen?

Dass niemand auf seinen Vorteil verzichten muss und alle etwas von Kooperation haben, lautet die koevolutionäre Lebensregel: Wechselseitige Erwartungshaltungen erleichtern soziale Verhaltensnormen und Empathie. Aber dafür gibt es keine Garantie, die institutionelle Umwelt muss stimmen – und das ist heute, wie schon oft in der Menschheitsgeschichte, eindeutig nicht der Fall. Dass Kooperation gelingen kann und wie sehr einen ihre Resultate zufriedenstellen, hat wohl jeder schon einmal erfahren. Aber kann ein zwischenmenschliches Muster von Empathie und Zusammenwirken auch Geist und Verfahren „internationaler Beziehungen“ prägen?

Hinweise dafür gibt das Theorem des „Gabentausches“, das der französische Soziologe und Ethnologe Marcel Mauss vor 100 Jahren in Stammesbeziehungen aufgespürt, aber auch für die Neugestaltung der Nachkriegsordnung nach dem Ersten Weltkrieg vorgeschlagen hat. Die Gabe nannte Mauss ein „totales soziales Phänomen“, das heißt, sie verbindet symbolische, religiöse, wirtschaftliche, rechtliche und soziale Aspekte und ist damit mehr als bloßer wirtschaftlicher Tausch. Man kennt das vom Schenken: Ein Geschenk sollte mehr sein als „Geldbörse oder Scheckheft zücken“, es muss dem Gebenden wie dem Nehmenden etwas bedeuten, es sollte zum rechten Zeitpunkt kommen und kann nur so eine Beziehung über den Augenblick hinaus festigen.

 

Illustration: Zwei Arme greifen aus gegenüberstehenden Laptops heraus. Die Hand reicht der anderen einen Rettungsring.
Geben und Nehmen ziehen ein obligatorisches Erwidern nach sich, Illustration: Mohamed Hassan via pixabay

Kompliziert wird es, weil Geben und Nehmen ein obligatorisches Erwidern nach sich ziehen. Eben diesen Dreischritt hat Marcel Mauss an archaischen Beziehungen wie dem Potlatch nordamerikanischer Indigener beobachtet, eine rituelle und rauschhafte Verausgabung von Geschenken. Das war ein Gegenentwurf zur modernen Logik der Berechnung und der bürokratischen Anordnung – als drittes Muster sozialer Integration.

Der Gabentausch knüpft das soziale Band erst in der durchaus prekären Balance zwischen Freiwilligkeit und sozialer Verpflichtung, die langfristige Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen und ganzen Gesellschaften stiftet. Mauss hoffte in der schweren Nachkriegskrise der 1920er Jahre einen „Felsen“ gefunden zu haben, auf dem auch moderne Gesellschaften noch ruhen könnten.

Lässt sich das im Gabentausch maßgeblich erweiterte „Do, ut des“ (lat.: „Ich gebe, damit du gibst“), das Mauss in überwiegend vorkapitalistischen Gesellschaften aufgefunden hat, auf die heutige internationale Politik transferieren? An drei Beispielen möchte ich diese Übertragung auf globale Zusammenhänge in der heutigen Zeit testen und plausibel machen:

An Schuldenerlassen, an den Rechten von Klimaflüchtlingen und an einer globalen Geschenkökonomie, die sich in der aktuellen Debatte um kostenlose Patente im Gesundheitswesen herauszuschälen beginnt. Dabei muss internationale Politik zeitlich wie materiell in die Zukunft ausgreifen. Am Horizont steht dann ein neuer Gesellschaftsvertrag – nunmehr zwischen den Generationen – und auch ein neuer Naturvertrag, der die belebte und unbelebte Natur als Mitakteure transnationaler Politik repräsentiert.

 

Ein neuer Gesellschaftsvertrag 

Beginnen wir mit dem Schuldenschnitt, einer alten Übung in der Geschichte der Menschheit. Viele waren schon einmal in der unangenehmen Situation, Schulden, die sie gemacht hatten, nicht zurückzahlen zu können, oder Geld und Güter, die sie verliehen hatten, nicht zurückzuerhalten. Schulden können nicht bedient werden, wenn man die Mittel aus eigenem oder fremdem Verschulden nicht aufbringen kann, und sie werden erlassen, weil man sie nur um den Preis des Ruins des Geschäftspartners eintreiben könnte, was auch zum eigenen Schaden wäre.

Diese Alltagserfahrung ist auch internationalen Wirtschaftsakteuren vertraut. Nur der Schuldenschnitt kann einen bankrotten Mitspieler am Leben halten und den Einsturz des ganzen Kartenhauses abwenden, das – wie wir alle wissen – systemisch auf einer enormen privaten und öffentlichen Schuldenaufnahme beruht.

Es kommt nicht oft vor, dass ein homo oeconomicus derart über den Tellerrand hinausschaut, doch ein deutscher Großbanker tat es zum Entsetzen seiner Kollegen: Alfred Herrhausen, der damalige Chef der Deutschen Bank nahm 1987 bei der Tagung des Internationalen Währungsfonds die Idee des mexikanischen Präsidenten Miguel de la Madrid Hurtado auf, der ihm die katastrophale wirtschaftliche Lage seines Landes geschildert hatte, und ließ sich überzeugen, dass viele Länder der „Dritten Welt“ ihre Schulden nie würden zurückzahlen können, beziehungsweise wenn sie es täten, sich ihre Lage noch verschlimmerte. Das einzig Richtige sei es deshalb, solchen Ländern Schulden zu erlassen und sie im Gegenzug zu wirtschaftlichen Reformen anzuhalten.

Der Kern der Verquickung von Geld und Moral besteht darin, dass Menschen in der Regel überzeugt sind, Schulden zurückzahlen zu müssen.

Der linke Anthropologe David Graeber hat diesbezüglich in Erinnerung gerufen, wie intensiv Schulden mit Schuld verwoben sind. Das mittelhochdeutsche „schulden” hieß verpflichtet sein, zu danken haben und sich schuldig machen. Moralische Schulden werden so monetarisiert und monetäre Forderungen moralisch untermauert. Der Kern der Verquickung von Geld und Moral besteht darin, dass Menschen in der Regel überzeugt sind, Schulden zurückzahlen zu müssen.

Vermittlungsglied ist das Geld, das „es schafft, Moral in eine Frage der unpersönlichen Rechenkunst zu verwandeln – und auf diese Weise Dinge zu rechtfertigen, die uns ansonsten skandalös oder unanständig vorkämen“, wie es ein klassischer Soziologe, Georg Simmel formuliert hat.

Illustration: Eine Frau sitzt auf Boden, mehrere Finger zeigen auf sie.
Schuldenkrisen haben ganze Gesellschaften ruiniert, Illustration: Mohamed Hassan via pixabay

Peter Sloterdijks analoge Frage lautete 2006: „Gibt es eine Alternative zu dem triebhaften Anhäufen von Wert, zum chronischen Zittern vor dem Augenblick der Bilanz und zu dem unerbittlichen Zwang des Zurückzahlens von Schulden?” Das war noch vor der Griechenlandkrise, aber schon damals hatten Schuldenkrisen ganze Gesellschaften ruiniert. Die dirigistische Behandlung „der“ Griechen durch die EU-„Troika”, der Druck der Boulevardpresse und die Ungeduld selbst wohlmeinender Beobachter demonstrierten, dass man Griechenland im Schuldenturm auf eine Weise an eine belastete Vergangenheit kettete, die jede mögliche Zukunft kolonisierte oder ausschloss.

Dabei hätten gerade die Deutschen, denen Abzahlen und Heimzahlen nach 1918 und 1945 (ohne Zweifel zu Recht) widerfahren sind, nicht nur wissen können, wie man sich dabei fühlt, sondern auch, zu welchen irrationalen Reaktionen das geführt hat. Es konnte eigentlich niemanden verwundern, dass zahlungsunwillige Griechen ihre deutschen Zuchtmeister im Gegenzug an Massaker während der Nazi-Okkupation erinnerten und nun ihrerseits Ansprüche auf Wiedergutmachung erhoben. Sämtliche griechische Regierungen seit 1950 haben darauf gepocht, dass diese Ansprüche, anders als deutsche Gerichte und Gutachter behaupten, keineswegs durch das Londoner Schuldenabkommen von 1953 bzw. den Zwei-Plus-Vier-Vertrag von 1990 abgegolten seien.

Bei diesen Vereinbarungen war die Logik des Gabentausches zum Tragen gekommen, die auch Lord Keynes, der Patron der Wirtschaftswissenschaft, nach dem Ersten Weltkrieg für die Behandlung des Deutschen Reiches angemahnt hatte: nämlich Reparationen in einer Weise zu dosieren, dass kein Revanchegedanke entsteht, und dass der zur Zahlung gezwungene Schuldner zugleich als künftiger Kooperationspartner bestehen und zum gemeinsamen Wohl Europas beitragen kann. Reparationen beinhalten eine finanzielle Verpflichtung, aber sie müssen auch wechselseitig heilende Wirkungen haben. Das nahmen sich die westlichen Siegermächte nach 1945 zu Herzen:

Wichtiger als die Zahlung war der mögliche Beitrag der geschlagenen Deutschen zu einer supranationalen Wirtschaftsgemeinschaft, die sich als Friedens- und Entwicklungsgemeinschaft dann auch politisch an die Überwindung des europäischen Nationalismus machen konnte. Die Londoner Konferenz von 1952/53 passte die Verpflichtungen des Schuldendienstes der jungen Bundesrepublik Deutschland ihrer damaligen Leistungsfähigkeit an. „Gnädige” Gläubiger ermöglichten damit den westdeutschen Wiederaufstieg zur économie dominante in Europa, was sie mit höheren Forderungen wohl verhindert oder verzögert hätten, wenn sie es vorausgesehen hätten. Dass ein geschäftsinniger Bankier dies 1987 noch im Kopf hatte, ist plausibel.

Was für Griechenland galt, gilt mehr noch für die armen Länder des globalen Südens. Nur die Unterbrechung des Rückzahlungsgeschäfts erlaubt einen neuen Anfang und gibt, vermutlich zur Verwunderung der Geschädigten selbst, auch diesen die Freiheit wieder. Wichtiger als die Aufarbeitung der Vergangenheit sind zukunftsweisende Investitionen in den Bereichen erneuerbarer Energien, in eine emissionsarme Industrie, einen sanfteren Tourismus, eine umweltverträgliche Landwirtschaft und in den Aufbau einer Wissensgesellschaft.

 

Ein Klimapass für Migranten

Damit zum zweiten Beispiel: dem Pass für Klimaflüchtlinge als Ausdruck einer solidarischen Weltbürgerschaft. Nationalisten nähren sich vor allem an einem Thema: der Wanderungsbewegung von Süden nach Norden. Nicht ganz zufällig leugnen die meisten auch den Klimawandel und halten an einer überholten Energie- und Umweltpolitik fest. Dabei ist Umweltzerstörung jetzt schon eine der wichtigsten Fluchtursachen.

Am klarsten wird der Zusammenhang an der Existenzbedrohung flacher Inselstaaten, die schon bei einer Erderwärmung von „nur“ zwei Grad Celsius vom Untergang bedroht sind und deren Staatsvölker ihr Überleben nur durch Auswanderung sichern können. Ähnliches trifft für die meisten Mega-Cities der Welt zu, die zu einem großen Teil an Küsten gewachsen und gewuchert sind. Auch die Flüchtlingsbewegung aus dem Mittleren Osten war mit dem Klimawandel verknüpft; eine Jahrtausenddürre im „Fruchtbaren Halbmond“ verschärfte 2011 die Spannungen in Syrien. Hinter ethnischen und religiösen Auseinandersetzung die in der Disziplin der internationalen Beziehungen weiter als Haupttreiber von Kriegen gelten, stecken oft materielle Ressourcenkonflikte durch Umweltschäden, die dann ethnisch und/ oder religiös eingekleidet und legitimiert werden.

[...] eine sichere und legale Aus- bzw. Einwanderung [ist] nicht bloß ultima ratio [...], sondern [steht] den Betroffenen als Entschädigung für die mit ihrem Heimatverlust einhergehenden Schäden moralisch zu [...].

Nach dem Ersten Weltkrieg, als vor allem im zerfallenen Osmanischen Reich Millionen Menschen ihre Heimat durch ethnische Säuberungen verloren hatten, standen die meisten ohne gültige Ausweispapiere vor heruntergelassenen Schlagbäumen. Für sie erfand 1922 der Polarforscher Fridtjof Nansen, damals Hochkommissar für Flüchtlingsfragen des Völkerbundes, einen Pass für Staatenlose. Der „Nansen-Pass“, für den er später den Friedensnobelpreis erhielt, gewährte Hunderttausenden, darunter dem Maler Marc Chagall, dem Reeder Aristoteles Onassis und dem Fotografen Robert Capa, ein Gastrecht in sicheren Staaten. Bis 1942 erkannten ihn 52 Nationen grundsätzlich an. Viele Flüchtlinge kamen aber nie in den Genuss dieses Status, vor allem den europäischen Juden wurde die Aufnahme vielerorts verweigert; eine internationale Flüchtlingskonferenz in Evian am Genfer See scheiterte 1938 am Protektionismus des Westens.

 

Illustration: Eine Hand hält einen Reisepass hoch. Im Pass steckt ein Dokument.
Menschen, die von der Erderwärmung existenziell bedroht sind, sollen der Klimapass die Option bieten, Zugang zu aufnahmebereiten Staaten zu finden und dort staatsbürgergleiche Rechte zu genießen, Illustration: Mohamed Hassan via pixabay

Wichtig bleibt aber, was Nansen vorhatte: Er wollte jeden Menschen in die Lage versetzen, frei über seinen Aufenthalt zu entscheiden. Heute müssen wir begreifen, dass eine sichere und legale Aus- beziehungsweise Einwanderung nicht bloß ultima ratio ist, sondern den Betroffenen als Entschädigung für die mit ihrem Heimatverlust einhergehenden Schäden moralisch zusteht. So hat eine „Nansen-Initiative“ 2015 einen Klimapass für Migranten begründet. Menschen, die von der Erderwärmung existenziell bedroht sind, soll das Dokument die Option bieten, Zugang zu aufnahmebereiten Staaten zu finden und dort staatsbürgergleiche Rechte zu genießen.

Den Staatenlosen von morgen, als ersten den Bewohnern der kleinen Inselstaaten, eröffnet das frühzeitige, freiwillige und humane Migrationswege. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) ging noch einen Schritt weiter und empfahl, den Pass auch massiv bedrohten Menschen anderer Staaten, einschließlich Binnenvertriebenen zu geben. Unter den derzeit 82 Millionen Flüchtlingen weltweit bilden sie die größte Gruppe. Nach dem Verursacherprinzip müssen Staaten mit erheblichen historischen wie aktuellen Treibhausgasemissionen dazu bereit sein, dass sie die Hauptverantwortung für den Klimawandel tragen.

Ein Klimapass ist unumgänglich, denn global sind Millionen Menschen wegen plötzlich einsetzender Extremereignisse wie Überflutungen, Stürme, Busch- und Waldbrände auf der Flucht. Schon von 2008 bis 2016 mussten etwa 228 Millionen Menschen aufgrund solcher Katastrophen ihren Wohnort zeitweise oder dauerhaft verlassen, im Durchschnitt mehr als 22 Millionen Menschen pro Jahr.

Noch nicht eingerechnet sind hier Auslöser schleichender Veränderungen wie Dürre und Verschlechterung der Böden und Grundwasserversalzung. Nach Schätzungen der Weltbank werden bis zum Jahr 2050 insgesamt 143 Millionen Menschen in Afrika südlich der Sahara, Südasien und Lateinamerika durch Klimafolgen innerhalb ihrer Länder vertrieben, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

Ein Klimapass ist unumgänglich, denn global sind Millionen Menschen wegen plötzlich einsetzender Extremereignisse [...] auf der Flucht. 

„Wenn das morgen in der Bild steht, ist ihr Klimapass tot“, wandte sich jüngst ein wohlsituierter älterer Herr an mich. Was er vorschlägt, fragte ich ihn. Wegsehen, die Tür zuschlagen, Flüchtlinge aus Vanuatu und Tuvalu bitten, lieber zu ertrinken? Klima-Migranten können sich bisher nicht auf den internationalen Flüchtlingsschutz berufen, der nur vor absichtlichem Handeln von Regierungen schützt, wie der Verfolgung wegen religiöser oder politischer Überzeugung, nicht aber vor Umweltveränderungen und Naturkatastrophen. Seit einigen Jahren werden deshalb internationale Pakte zum Thema Flucht und Migration verhandelt.

Den Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration, eine einheitliche völkerrechtliche Erklärung zur Migration, gibt es nur auf dem Papier. Auch EU-Staaten wie Ungarn und Österreich verweigerten ihre Unterschrift. Selbst die Bedeutung eines (übrigens nicht rechtsverbindlichen) Globalpaktes wurde aus Furcht vor der völkisch-autoritären Rechten so weit herunter geredet, dass wenig blieb außer europäischer Selbstberuhigung. Doch steht der Klimapass als Offerte an die Bevölkerung flacher Inselstaaten weiter auf der Tagesordnung.

Andernfalls wird wieder ein „Undankbarer“ wie der Schriftsteller Vladimir Nabokov behaupten können, einst Inhaber des grünen Nansen-Passes, dessen kränkliche Farbe verrate, wie der Inhaber angesehen werde: wie ein Verbrecher auf Freigang. Die Lücken des Nansen-Passes sprechen nicht gegen, sondern für eine frühzeitige Befassung mit dem Klimapass. Ein Utopist ist nur, wer nichts tut. Anders als die völkische Rechte behauptet, muss Europa dem Migrationspakt zufolge nicht „alle“ aufnehmen. Am Erfordernis der normativen und operativen Weiterentwicklung eines humanitären Kosmopolitismus ändert das jedoch nichts.

Aufnahmekapazitäten berechnen sich nach objektiven Erfordernissen, wie man in der Bundesrepublik nicht vergessen sollte, die zu Beginn ihrer Geschichte unter schlechteren Bedingungen Millionen Heimatvertriebene aufgenommen hat, – und wie sich heute an den Nachbarstaaten Syriens bestätigen lässt, die die Hauptlast der Massenflucht tragen. Migration ist in diesen Zeiten und in dieser Welt normal und auch wünschenswert. Wer eine Flüchtlings-und Energiepolitik betreibt, die einzig kurzfristigen nationalen Interessen folgt, verhindert pragmatische und multilaterale Lösungen einer geregelten Einwanderung und wird sehr bald von der Wirklichkeit überrollt werden.

 

Impfstoffgeschenke versus Patentschutz

Das letzte Beispiel für die Notwendigkeit globaler Kooperation bezieht sich aktuell auf die Bewältigung der Corona-Pandemie, die auch nur international zu bewältigen ist. Gabentausch kommt hier zur Geltung, indem Staaten, deren Haushalte defizitär und deren Gesundheitssysteme marode sind, Impfstoff, Medikamente und medizinische Infrastruktur gespendet bekommen, damit die Immunisierung weltweit gelingen kann – und damit an jedem anderen, noch so reichen Ort der Welt; denn bleibt sie unvollständig, können das Virus und seine Mutanten sich rasant wieder überall verbreiten, gerade im reichen Norden.

 

Dieser Selbstverständlichkeit stehen der Patentschutz und nachvollziehbare Gewinnabsichten der Hersteller im Wege. Die Idee hinter Patenten war einfach und nicht exklusiv: Erfinder können der Welt von ihrer Innovation berichten und sie so beschreiben, dass sie theoretisch alle anderen Fachleute nachbauen könnten. Für ihre Offenheit bekommen sie Gelegenheit, ihre Erfindung eine gewisse Zeit exklusiv zu vermarkten.

Die Forderung, den internationalen Patentschutz für Corona-Impfstoffe temporär aufzuheben, damit Menschen weltweit schneller immunisiert werden und sich das Impftempo erhöht, kam aus Südafrika und Indien, wo Präparate fehlen, die rasche positive Antwort kam von US-Präsident Joe Biden persönlich.

Illustration: Ein Gehirn ist mit einer Kette und Vorhängeschloss gesichert. Eine Hand steckt den Schlüssel ins Schloss - oder zieht in ab?
Soll man geistiges Eigentum in Notsituationen enteignen? Illustration: Mohamed Hassan via pixabay

Einwände waren praktischer Natur – die Komplexität der Herstellung von Vakzinen ist auch ohne Patentschutz extrem voraussetzungsvoll und die Kapazitäten zur Produktion fehlen. Soll man also geistiges Eigentum enteignen? Freiwilligkeit ist vorzuziehen, Zwangslizenzen aber sind im WTO-Recht durchaus vorgesehen. Denn ist es andererseits legitim, in einer solchen Notlage Impfstoffe zu privatisieren, die doch in der Regel mit öffentlicher Forschungsförderung, also aus Steuergeldern entwickelt worden sind?

Impfstoffe müssten ein weltweites öffentliches Gut werden, forderte auch Frankreichs Präsident Macron. Das Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum (namens TRIPS) behindert den schnellen Zugang zu erschwinglichen Impfstoffen und Medikamenten. Auch betroffene Konzerne schlugen Alternativen vor: Exportverbote für die Rohstoffe von Impfstoffen aufzuheben oder Impfstoff zum Selbstkostenpreis abzugeben.

Den Patentschutz aufzuheben ist nur ein Aspekt, die ungerechte internationale Arbeitsteilung zu beseitigen und den Wissenstransfer in allen Hinsichten in Gang zu setzen, das größere Projekt.

Die Sorge, dass mit einer Freigabe nicht mehr in die Forschung investiert wird, zählt am Ende nicht. Auch nicht, dass es dauern könnte, bis die Länder des globalen Südens in der Lage sind, Impfstoffe selbst herzustellen. Daran, solche Produktionskapazitäten aufzubauen, sind sie eben durch den Patentschutz gehindert und abgehalten worden. Eine Umstellung der Produktion überlebenswichtiger Güter müsste grundsätzlich in Open Source- und Open-Access-Verfahren entwickelt werden. Jeder Mensch muss zu fairen Preisen Zugang zum Impfstoff bekommen. Das geht nur mit einer veritablen Geschenkökonomie und schützt die reicheren Schichten der Weltgesellschaft ebenso wie die Armen. Den Patentschutz aufzuheben ist sicher nur ein Aspekt, die ungerechte internationale Arbeitsteilung zu beseitigen und den Wissenstransfer in allen Hinsichten in Gang zu setzen, das größere Projekt.

Wir haben drei Konfliktarenen skizziert, die nach globaler Kooperation und mehr noch, nach einem modernen Gabentausch zwischen reichen und armen Nationen rufen:

  • Schuldenerlasse
  • Öffnung der Migrationswege
  • solidarische Gesundheitsversorgung

Die Vorschläge betonen die Gleichheit der Staaten und mehr noch ihrer Bevölkerungen gegenüber Argumenten unmittelbarer Nützlichkeit und Konkurrenz um knappe Ressourcen. Der Ansatz ist normativ und wer ihn vertritt, ist sich besser darüber im Klaren, dass die Welt, dass die internationalen Beziehungen so leider nicht sind. Dass die kapitalistische Weltgesellschaft voller Ungerechtigkeiten ist, die auch durch die Kodifizierung globaler Rechte für alle nicht einfach überwunden werden können.

Die Renationalisierung der Interessenpolitik hat das Gefälle noch erhöht und die Reibungen noch verschärft. Und es stimmt, wie die „Realisten“ der internationalen Beziehungen hervorheben, dass auch die Sphäre der liberalen Verfassungen Machthierarchien spiegelt und befestigt hat; auch die multilaterale Nachkriegsordnung war in Wahrheit nie eine Versammlung der Gleichen; sie spiegelte das materielle Gefälle, koloniale und postkoloniale Herrschaftsverhältnisse und die Dominanz eines westlich-liberalen Verständnisses der modernen Welt. Und ja: Auch die NATO war nie die Hüterin eines common good regionaler Sicherheit, die EU selten eine Appellationsinstanz für Unterdrücke und Beleidigte, die WTO keine Garantien gerechten Handels. Aber sie hielten doch Normen, Klagewege und Prozeduren bereit, um die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu kritisieren und abzumildern, und speziell internationale Gerichtshöfe und Schiedsstellen schmücken ihre Präambeln mit aufgeklärten kosmopolitischen Idealen.

 

Eine „realistische" Alternative 

Eine „realistische“ Alternative ist nur, diese Ideale noch entschlossener zu verfolgen – oder vollends in Chaos und Anarchie zu versinken. Was auch immer die Autokraten meinen und tun: Natürlich benötigt die Menschheit verbindliche Regeln, respektierte Abkommen und durchsetzbare Sanktionen gegen Regelverstöße. Nur so können globale Probleme wie eine Pandemie oder der Klimawandel und das Artensterben bewältigt, nur so kann Korruption und autokratische Anmaßung gebannt und nur so können ethnische Säuberungen und religiös motivierte Verfolgung beendet werden.

Und als ob das alles nicht schon anspruchsvoll genug wäre, muss sich die Theorie und Praxis internationaler Politik nun auch noch in zwei anderen Hinsichten öffnen: zum einen, im Blick auf die ökologischen und finanzwirtschaftlichen Hypotheken, die nachlebenden Generationen faktisch seit dem 19. und noch schärfer in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit der Last der Erderwärmung und der Verschuldung aufgeladen worden sind – womit der klassische Gesellschaftsvertrag, der den Schutz der heute Lebenden garantieren soll, zu einem Generationenvertrag für die künftig Lebenden modifiziert werden muss.

Nicht nur benachteiligte Menschen, auch Tiere, Pflanzen [...] müssen in der internationalen Politik in einem „Parlament der Dinge“ repräsentiert sein und eine Stimme erhalten.

Und zum anderen muss er erweitert werden zu einem neuen Naturvertrag, der Abschied nimmt von der arroganten Rolle des Menschen als vermeintlicher „Krone der Schöpfung“, der der belebten und unbelebten Natur sein Diktat aufzwingen konnte. Nicht nur benachteiligte Menschen, auch Tiere, Pflanzen und sogar die unbelebte Natur müssen in der internationalen Politik in einem, wie es genannt worden ist, „Parlament der Dinge“ repräsentiert sein und eine Stimme erhalten.

Der Homo cooperativus ist kein Ausdruck kosmopolitischer Fantasien – schön zu haben, aber in der rauen Wirklichkeit der Weltgesellschaft eine Naivität, oder, wie einige Experten meinen: sogar eine Gefahr. Dabei gibt es längst in allen Wissensgebieten Menschen, die sehr pragmatisch und nüchtern an der Verwirklichung kosmopolitischer Ideen arbeiten. Zu nennen ist zum einen der Bereich der bildenden Künste, in dem sich experimentelle Naturforschung, die Anwaltschaft für bedrohte Völker und Arten, Schadensdokumentation und handfeste Zukunftsfantasie zu einer beeindruckenden Phalanx von „Kunst im Anthropozän" zusammengefunden haben.

Und wem das dann doch zu vage und randständig ist, der studiere jüngste Urteile nationaler und internationaler Gerichte, die sich gegen weitere Naturausbeutung, unterlassenen Klima- und Artenschutz und inhumane Lieferketten im globalen Handel richten und Verstöße derart effektiv sanktionieren, dass private Unternehmen und öffentliche Haushaltspolitik ihr Investitions- und Beschaffungsgebaren auf den Prüfstand stellen müssen. Und gegen häufige Einwände ist eine solche internationale Politik kein Einfallstor für autoritäre Politik, sondern auch noch ein Mittel zu Stärkung demokratischer Mitwirkung.

Über den Autor
Portrait von Claus Leggewie
Claus Leggewie
Politikwissenschaftler

Claus Leggewie lehrte von 1989 bis 2007 Politikwissenschaft an der der Justus-Liebig-Universität Gießen. 2001 war er Mitbegründer des Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI) , seit 2015 ist er Inhaber der Ludwig Börne-Professur am ZMI. Er war Gastprofessor an der Universität Paris-Nanterre und der New York University, Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien, am Remarque Institute der New York University und am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Von 2007 bis 2015 war Leggewie Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen und des Centre for Global Cooperation Research in Duisburg. Von 2008 bis 2016 war er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU). Leggewie ist Mitherausgeber der Blätter für deutsche und internationale Politik.

Bücher (Auswahl):

  • Reparationen. Im Dreieck Frankreich, Algerien, Deutschland. Donata Kinzelbach, Mainz 2022
  • Planetar denken. Ein Einstieg. Mit Frederic Hanusch und Erik Meyer. Transcript, Bielefeld 2021
  • Die Visegrád-Connection. Eine Herausforderung für Europa. Mit Ireneusz Pawel Karolewski. Klaus Wagenbach, Berlin 2021
  • Jetzt! Opposition, Protest, Widerstand. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2019
  • Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitserklärung. Ullstein, Berlin 2017

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.