Illustration: Eine Hand schiebt Indien durch einen Papierschredder.

Im Dickicht der Demokratie

Der indische Premier Narendra Modi versprach ein Indien, das die angloamerikanischen Phantasien erfüllte: ein asiatisches Land, das Demokratie mit freien Märkten verband. Nach acht Jahren Modi-Herrschaft ist die größte der Demokratie der Welt abgeschlagen und Indiens Ziel, die materielle Leistungsfähigkeit Chinas zu erreichen, weiter entfernt denn je.

Monument von König Leopold II in Brüssel, Belgien. König Leopold II. ist mit der kolonialen Vergangenheit verbunden, als der Kongo als "sein Liguster-Garten" bezeichnet wurde.
Das neumodische Sozialstaatsdenken in Großbritannien und den USA wird prekär bleiben, solange man dort nicht nachhaltig mit der Sklaverei, dem Imperialismus und dem rassistischen Kapitalismus abrechnet, Foto: Wiktor Dabkowski via picture alliance

Das Feuer, von dem Baldwin 1962 sprach, wütet inzwischen überall in den USA, und man begegnet ihm mit verzweifelten Appellen an den Überlebenswillen der Weißen.

„Ihr müsst die Herrschaft behalten“, forderte Trump am 1. Juni 2020 die Gouverneure der Bundesstaaten auf und versprach, „bösartige Hunde“ auf seinen politischen Gegner zu hetzen und „fürchterliche Waffen“ gegen sie einzusetzen. Verständlicherweise ist es für Menschen, die so lange das Glück der Geburt, der Klasse und der Nation genossen haben, sehr schwer oder gar unmöglich, ihre vorgefassten Vorstellungen über sich und die Welt abzulegen. Aber eine erfolgreiche Bewältigung dieser harten Selbsterziehung ist unerlässlich, wenn die ersten Beweger der modernen Zivilisation nicht hilflos in den Abgrund der Geschichte schlittern wollen.

 

In seinen frühen Jahrzehnten, als neben anderen Martin Luther King nach Indien reiste, um sich Anregungen für die Bürgerrechtsbewegung zu holen, schien das Land ein strahlendes Vorbild für aufstrebende People of Colour in aller Welt zu sein: ein nichtkommunistischer Nationalstaat mit einer unendlich armen Bevölkerung, der versuchte, eine egalitäre Gesellschaft und eine international wettbewerbsfähige Wirtschaft aufzubauen, und das innerhalb eines politischen Rahmens (mit Parlamentswahlen und Gewaltenteilung), der sich explizit am angloamerikanischen Vorbild orientierte.

Indien baute jedoch niemals einen Staat auf, der es dem vom Kolonialismus ausgeraubten Land ermöglicht hätte, seine extremen Nachteile zu überwinden: eine landwirtschaftlich geprägte Ökonomie mit geringer Produktivität, eine schwache industrielle Basis und dazu eine schlecht ernährte, größtenteils aus Analphabeten bestehende Bevölkerung.

In den ersten Jahrzehnten der Unabhängigkeit führten staatliche Eingriffe zu gewissen Fortschritten in der Schwerindustrie und der Landwirtschaft. Investitionen in das höhere Bildungswesen (nicht jedoch in den Primarschulsektor) sorgten für Generationen erstklassig ausgebildeter Inder aus den höheren Kasten. Viele von ihnen findet man heute in höheren Stellungen US-amerikanischer Unternehmen wie Microsoft und Google sowie an den Universitäten und im Journalismus.

 

Bürokratischer Apparat

Doch die Wirtschaft wuchs langsamer als in vielen ostasiatischen Ländern, obwohl Indien ursprünglich von einer breiteren industriellen Basis aus gestartet war und über einen relativ starken bürokratischen und administrativen Apparat verfügte. Ende der 1970er Jahre war die Enttäuschung über den mangelnden Fortschritt in Indien sehr groß und weit verbreitet. Eine Phase autoritärer Herrschaft unter Indira Gandhi hatte keine Lösungen erbracht, wohl aber die Rückgratlosigkeit der Medien und der Justiz, wie auch die repressive Law-and-Order-Orientierung des von den britischen Kolonialherren geerbten Staates bewiesen.

Die Armen waren weit davon entfernt, bürgerliche Freiheiten zu genießen oder eine Chance auf Wohlstand zu haben. Viele Mitglieder der oberen Kasten verloren die Geduld mit den unfähigen, durch Wahlen bestätigten Herrschern und wünschten sich, das Land würde von einem effizienten Autokraten wie Lee Kuan Yew in Singapur regiert. Ein paar neidische Blicke richteten sich auch auf den südkoreanischen Staatspräsidenten Park Chung-hee, der 1961 durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen war und während seiner 18 Jahre andauernden Regierungszeit für den Aufstieg seines bitterarmen Landes zu einem weltweit konkurrenzfähigen Industriegiganten mit einem erstklassigen Bildungssystem und einem extrem verbesserten Gesundheitswesen gesorgt hatte.

Neidische Blicke richteten sich auf den südkoreanischen Staatspräsidenten, der während seiner Regierungszeit für den Aufstieg seines bitterarmen Landes zu einem weltweit konkurrenzfähigen Industriegiganten gesorgt hatte.

Die unter Deng Xiaoping gelungene Verwandlung Chinas aus einem hoffnungslosen Fall maoistischer Misswirtschaft in ein Machtzentrum der Weltwirtschaft war für viele Inder besonders ärgerlich. Das galt vor allem für solche, die den angloamerikanischen Voraussagen eines unvermeidlichen und nicht zu stoppenden „Aufstiegs“ ihres Landes geglaubt hatten.

 

Ein Mann trägt eine Papp-Maske des indischen Premiers Narendra Modi.
Mit Narendra Modi schienen die ehrgeizigen Eliten Indiens ihren aufgeklärten Despoten gefunden zu haben, Foto: Pacific Press: Sudipta Das via picture alliance

Als Narendra Modi 2014 mit Hilfe der reichsten Geschäftsleute Indiens an die Macht kam und versprach, die indischen Märkte von staatlicher Regulierung zu befreien, um sie an die westlichen Supermächte heranzukatapultieren, schienen die ehrgeizigen Eliten ihren aufgeklärten Despoten gefunden zu haben (obwohl er im Verdacht stand, an einem Pogrom beteiligt gewesen zu sein, dem Hunderte von Muslimen zum Opfer gefallen waren).

Modi versprach offenbar ein Indien, das die angloamerikanischen Phantasien erfüllte: ein asiatisches Land, das Demokratie mit freien Märkten verband und ein Gegengewicht zum autoritären China bilden konnte.

Das American Enterprise Institute feierte ihn als Indiens Reagan bzw. Thatcher. Obama erklärte, er spiegele „die Dynamik und das Potenzial des indischen Aufstiegs“ wider. Die raschen Lösungen des Autoritarismus haben indessen die fundamentalen Probleme Indiens eher verschärft als gelöst.

 

Hindu-suprematistische Herrscher

Die hindu-suprematistischen Herrscher Indiens, die mühelos Medien, Justiz und Militär des Landes unterwanderten, haben sich als kaltblütige Fanatiker erwiesen. Sie sind bereit, antimuslimische Pogrome zu befeuern, Kritiker zu ermorden und Minderheiten kollektiv zu bestrafen (wie in Kaschmir, wo ein monatelanger Lockdown der Pandemie vorausging). Nach acht Jahren Modi-Herrschaft ist Indiens Ziel, die materielle Leistungsfähigkeit Chinas oder gar der westlichen Länder zu erreichen, weiter entfernt denn je.

Und militärisch wird es von China gedemütigt (der Zusammenstoß im Galwan-Tal im Juni 2020, bei dem mindestens 20 indische Soldaten ums Leben kamen, ist nur das jüngste Beispiel). Die Industrieproduktion stagniert seit Langem schon, und die Banken sind hoch verschuldet wegen der faulen Kredite, die sie im Rahmen der kapitalistischen Vetternwirtschaft vergeben haben. Mehr als 140 Millionen Wanderarbeiter verloren während eines verpfuschten Pandemie-Lockdowns ihre Arbeit, und mehreren hundert Millionen Indern, die schon unter schlechter Ernährung, geringer Bildung und mangelhaften hygienischen Verhältnissen leiden, droht nun auch noch Hunger. Nicht alle aktuellen Katastrophen Indiens lassen sich Modi anlasten.

Wie der Philosoph und Ökonom Amartya Sen gezeigt hat, unterließen die Herrscher Indiens seit Langem schon die entscheidenden Investitionen in das Primarschulwesen und das öffentliche Gesundheitssystem. Deshalb fehlten das für die arbeitsintensive Revolution der industriellen Produktion nötige „Humankapital“ und die erforderliche Infrastruktur. Beides hatten „ostasiatische Tigerstaaten“ wie Südkorea und Taiwan schon Jahrzehnte vor dem Aufstieg Chinas hervorgebracht.

Die Corona-Pandemie droht auch deshalb in Indien zu einem Gemetzel zu werden, weil das Land proportional noch weniger als Nepal und Osttimor – nämlich 1,3 Prozent des BIP – für das Gesundheitssystem ausgibt (Südkorea dagegen 8,1 Prozent). Außerdem ist das Gesundheitssystem in Indien weitestgehend privat organisiert. Der einzige indische Bundesstaat mit einem ausreichenden Schutz vor der Pandemie ist das kommunistisch regierte Kerala, dessen staatliches Gesundheits- und Bildungssystem seit Langem schon dafür sorgt, dass dieser Staat die höchste Lebenserwartung und den höchsten Alphabetisierungsgrad in Indien hat.

Mehr als 140 Millionen Wanderarbeiter verloren während eines verpfuschten Pandemie-Lockdowns ihre Arbeit, und mehreren hundert Millionen Indern [...] droht nun auch noch Hunger.

Südkorea startete in den 1940er Jahren von einer ähnlich niedrigen Basis und schuf nicht nur eine moderne industrialisierte Wirtschaft, sondern erreichte auch ein bemerkenswert niedriges Niveau der Ungleichheit hinsichtlich des Einkommens (sogar zwischen den Geschlechtern). Die Herrscher Indiens bezogen ihre Legitimation aus Wahlen (und ernteten für diese „Festivals“ der Demokratie viel westliches Lob). Doch der moderne indische Staat, der noch genialere Repressionsinstrumente ersann als der Kolonialstaat, dem er aufgepfropft worden war, entwickelte nie die Fähigkeit, seine vielen hundert Millionen Bürger aus Armut und sozialer Ungleichheit zu erretten.

 

Indien versus Südkorea

In seiner vergleichenden Studie über Indien und Südkorea, „Locked in Place. State-Building and Late Industrialisation in India" (2003), behauptet der US-amerikanische Soziologe Vivek Chibber, die indischen Herrscher seien nie fähig oder willens gewesen, sich gegen die Wünsche der Geschäftsleute durchzusetzen, die gegen eine vom Staat geführte Entwicklung zu Felde zogen. Südkorea bewies dagegen erneut, dass der Aufbau des Staates für Spätentwickler eine unverzichtbare Voraussetzung für den Aufbau der Nation ist und dass das soziale wie auch wirtschaftliche Wohlergehen weniger davon abhängt, wie die politischen Repräsentanten gewählt werden, als eher davon, wie klug der Staat seine Politik formuliert und realisiert. So dehnte Park die Schirmherrschaft des Staates auf die inzwischen größten Jaebeol (in Familienbesitz befindlichen Mischkonzerne) aus: Hyundai, Daewoo und Samsung.

 

Die Lehren auf dem Gebiet der Sozial- und Wirtschaftspolitik, die Deutschland im späten 19. Jahrhundert zu erteilen begann und die man sich am wirkungsvollsten in China zu Herzen nahm, gingen an den Oberschichtherrschern Indiens vollkommen vorbei. Deren wichtigstes Ziel war es, ihre eigene Macht durch Wahlen zu perpetuieren. Heute steht Indien für die schlechteste aller Welten: Rechtsextreme Hindus manipulieren geschickt die repräsentative Demokratie und die Öffentlichkeit, der Staat scheint besser für Repression als für eine Sozialfürsorge gerüstet zu sein, und die ökonomischen Experimente mit Deregulierung und Privatisierung brachten zwar zahlreiche Oligarchen hervor, aber kein einziges international anerkanntes Produkt oder Unternehmen.

Südkorea übernahm wie Indien politische Anregungen seines ehemaligen Kolonialherrn. 

Farbenfrohe Plakate und Banner bei der großen Kundgebung, die von der Vereinigung der Frauen und Transmenschen unter dem Namen "Walk for Equality & Freedom" (Marsch für Gleichheit und Freiheit) vor den Wahlen in Indien in Kalkutta organisiert wurde.
Heute steht Indien für die schlechteste aller Welten: Rechtsextreme Hindus manipulieren geschickt die repräsentative Demokratie und die Öffentlichkeit, Foto: ZUMAPRESS: Avishek Das via picture alliance

Unter japanischer Kolonialherrschaft geboren, bewunderte Park den raschen Aufstieg Japans zu einer wichtigen Industriemacht und versuchte, dieses Vorbild nachzuahmen.Wie die Japaner orientierte er sich dabei nicht an Adam Smith, sondern an dem deutschen Wirtschaftsprotektionisten Friedrich List. Nach Park kann „das Leben der Nation sich nur durch den Staat entwickeln und wachsen“. In seinen Augen förderte der von den angloamerikanischen Eliten propagierte Laisser-faire-Individualismus gesellschaftliche Zersplitterung und politischen Streit, so dass es nahezu unmöglich sei, den Staat und die Nation aufzubauen. „Wir sind anders als der Westen, der das Individuum gegen den Staat stellt“, meinte er.

Park sprach hier aus Sicht des letzten unter den Spätentwicklern, der aus den Erfahrungen der entwickelten Mächte lernen und deren Fehler vermeiden wollte. Seine Lehrer in Japan, die das deutsche Modell ebenso fleißig kopiert hatten, wie er nun das japanische Vorbild bis hin zur Verfassung übernahm, hielten gleichfalls eine von oben ausgehende Mobilisierung für einen effektiveren Rahmen als den Liberalismus, wenn es um den Aufbau der Nation und des Staates ging.

Anders als Webers Deutschland wurde Japan von der wirtschaftlichen Entwicklung nicht zerrissen. Dennoch ließen die japanischen Politiker von Anfang an Vorsicht walten. Kanai Noburu, ein Ökonom, der in den 1880er Jahren in Deutschland studiert hatte und zum Mentor zahlreicher japanischer Denker und Führer wurde, schrieb dazu: „Wenn die Arbeiter wie Tiere behandelt werden, werden nach mehreren Jahrzehnten Gewerkschaften und Sozialismus auf der Bildfläche erscheinen.“

 

Wettlauf um Territorien und Rohstoffe

Es waren der Wettlauf um Territorien und Rohstoffe, den britische Sklavenhalter und Kolonialisten begannen, und das nachfolgende internationale Wettrennen, um den zum Überleben am besten geeigneten politischen und ökonomischen Organismus zu schaffen, die die erste Hälfte des 20.Jahrhunderts so singulär gewalttätig machten (und nicht irgendeine fundamentale Unvereinbarkeit zwischen „liberaler Demokratie“ und „Totalitarismus“, wie das Narrativ des Kalten Kriegs behauptete). Auf der verzweifelten Suche nach „Lebensraum“ stießen Deutschland und Japan mit ihren Konkurrenten zusammen und kapitulierten schließlich vor der größeren militärischen Macht der Alliierten.

In der Nachkriegszeit konnten Deutschland und Japan ihre wirtschaftliche Stärke dank US-amerikanischer Hilfe wieder aufbauen, ihr Engagement für den Sozialstaat gaben sie jedoch nicht auf.

Die 1947 in Japan in Kraft gesetzte Verfassung betonte die Pflicht des Staates, soziale Sicherheit und eine öffentliche Gesundheitsfürsorge zu gewährleisten. In der Bundesrepublik Deutschland verankerte das 1949 verabschiedete Grundgesetz den „Sozialstaat“ in der Verfassung, wobei das Adjektiv „sozial“ seine Bedeutung und sein Gewicht auch in der „sozialen Marktwirtschaft“ behielt, die Ludwig Erhard einführte, Wirtschaftsminister und ein Schüler Röpkes. Seit der Privatisierungs- und Deregulierungswelle in den 1970er Jahren sind soziale Schutzmechanismen auch in Deutschland, Japan und weiten Teilen Ostasiens einschließlich Chinas abgebaut worden. Doch selbst in dieser geschwächten Form sind sie dem skelettartigen Sozialstaat in Großbritannien und den USA noch überlegen.

In der Nachkriegszeit konnten Deutschland und Japan ihre wirtschaftliche Stärke dank US-amerikanischer Hilfe wieder aufbauen, ihr Engagement für den Sozialstaat gaben sie jedoch nicht auf.

Während sich diejenigen, die den freien Markt, die Demokratie, das Ende der Geschichte, den Neoimperialismus und die flache Erde anpreisen, an ihren eigenen Drogen berauschten, entwickelte China sich zum formidabelsten Exponenten konzertierter Staatsmacht, den die Welt bislang gesehen hat. Während die Löhne in den USA in den 1970er Jahren zu stagnieren begannen, verbesserten sich die Lebensbedingungen eines großen Teils der chinesischen Bevölkerung ganz beträchtlich: die größte Veränderung dieser Art in der Geschichte.

 

Alternde Bevölkerung

Dieses außergewöhnliche Wirtschaftswachstum wurde begleitet von einer beispiellosen Schädigung der Umwelt und grausamen Beschränkungen der individuellen Freiheit, insbesondere in Hongkong und den Minderheitenregionen Tibet und Xinjiang.

Außerdem hat China mit einer wachsenden Staatsverschuldung und den Problemen zu kämpfen, die sich aus einer alternden Bevölkerung ergeben. Die Skepsis hinsichtlich der materiellen Fortschritte Chinas, die These, ein Regimewechsel und eine Demokratie US-amerikanischen Stils seien unausweichlich, oder auch die Behauptung, das Coronavirus stamme aus einem chinesischen Labor, tragen allerdings nichts zur Verbesserung der Zukunftsaussichten der Bürger in jenen Ländern bei, die so stolz darauf sind, Demokratien zu sein.

Deren Scheinheiligkeit vermag indessen nicht die Tatsache zu verdecken, dass China – das unbeirrbar an der Modernisierung unter Führung einer technokratischen Elite festhält – Hamiltons Überzeugung bestätigt, wonach nur ein starker, aktiver Staat seine Bürger vor dem Malstrom des stürmischen und unaufhaltsamen Wandels zu schützen vermag: „Nur eine wohlerwogene Nutzung der Ressourcen des Ganzen, unter Leitung eines Gemeinsamen Rates mit hinreichender Macht zur Durchsetzung seiner Entscheidungen kann uns davor bewahren, heute ein erobertes Volk zu sein, oder uns morgen zu einem glücklichen Volk machen.“

China bewies auch einen kühleren Pragmatismus als seine westlichen Kritiker. Schließlich musste eine herrschende Partei, die sich selbst als „kommunistisch“ bezeichnet, ihre Gründungsideologie aufgeben und sich an eine Marktwirtschaft anpassen, während die USA, die eine neue Weltordnung zu errichten versuchten, mit ihren Bemühungen scheiterten, die Demokratie in Russland, Osteuropa und der arabischen Welt durch Überredung oder militärische Gewalt einzuführen. In fast allen Ländern, die sie nach ihrem Bilde umzumodeln gedachten, leisteten sie damit nur brutaler Anarchie und Despotie Vorschub.

 

Narrative des Narzissmus

In noch jüngerer Zeit und mit noch verheerenderen Folgen hat ein von der politischen Klasse und der Mainstream-Intelligenz Angloamerikas durchgeführtes Experiment in ökonomischem Hyperliberalismus in beiden Ländern dazu beigetragen, neofaschistische Bewegungen und Einzelpersonen zu stärken. Ob China sein demokratisches Defizit beheben wird, wie Südkorea und Taiwan dies taten, ist ungewiss. Seine erschreckend einfallsreiche Unterdrückung der Opposition in Hongkong und Xinjiang erneuert die aus der Geschichte Deutschlands und Japans bekannte Warnung: dass die Biomacht des modernen Staates monströse Verbrechen hervorzubringen vermag.

Chinas Wirtschaftswachstum wurde begleitet von einer beispiellosen Schädigung der Umwelt und grausamen Beschränkungen der individuellen Freiheit.

Es führt dennoch kein Weg an der desolaten Position vorbei, in der die großen Vorbilder der Demokratie sich heute befinden. Weder Großbritannien noch die USA scheinen fähig zu sein, mit der gewaltigen Gefahr für die kollektive Sicherheit und Wohlfahrt fertigzuwerden, die das Coronavirus darstellt. Nicht weniger niederschmetternd ist die Erkenntnis, nun da das Rhodes-Denkmal endlich fällt, dass Macht und Ansehen Angloamerikas in fürchterlichen Grausamkeiten gründeten. „Das Land der Freiheit, wie es sich großsprecherisch nannte, obwohl die Sklaverei in seinem Innersten thronte“, so schrieb der US-amerikanische Psychologe und Philosoph William James 1895, sei in Wirklichkeit immer „etwas Falsches“ gewesen und habe „einen furchtbaren inneren Widerspruch“ enthalten.

Die moralisierende Geschichte der modernen Welt, die ihre frühen Gewinner schrieben – die vielen Von-Plato-zur-Nato-Erzählungen vom weltweiten Florieren der Demokratie, des liberalen Kapitalismus und der Menschenrechte –, bedarf längst einer gründlichen Revision. Mindestens müsste sie auch die Erfahrungen der erst spät entwickelten Nation berücksichtigen: ihr schwieriges und oft tragisches Streben nach ernsthafter Souveränität, ihre verächtlich abgetanen Vorstellungen über eine egalitäre Weltordnung – und die erlösenden Visionen sozialer Bewegungen, von den Grünen in Deutschland bis hin zu den Dalits in Indien.

Die jüngste Explosion politischen Demagogentums nach Jahren endloser und vergeblicher Kriege hätte eine Gelegenheit sein müssen, die Narrative des britischen und US-amerikanischen Narzissmus zu hinterfragen. Trump und der Brexit boten eine Chance, „den Bann der Demokratie zu brechen“, der auf dem angloamerikanischen Denken lag.

Die Übernahme hoher Staatsämter in London und Washington durch Demagogen führte zu einer Flut selbstmitleidiger und selbstschmeichelnder Darstellungen.

Dafür setzte sich der Politiktheoretiker John Dunn seit den späten 1970er Jahren ein, lange bevor der angloamerikanische Triumphalismus vollends erstarrte. Diejenigen, die sich von dem Wort hypnotisieren ließen, so Dunn, übersähen, dass die politischen und ökonomischen Arrangements, die sie bevorzugen und als „Demokratie“ bezeichnen, weder unendlichen Bestand haben könnten noch die „unmittelbaren Probleme des kollektiven Lebens innerhalb der einzelnen Länder und zwischen ihnen effektiv“ zu lösen vermöchten, nicht einmal in der Gegenwart.

Die Übernahme hoher Staatsämter in London und Washington durch Demagogen führte zu einer Flut selbstmitleidiger und selbstschmeichelnder Darstellungen, die beschrieben, wie der lange Marsch der „liberalen Demokratie“ von pöbelhaften „Populisten“, „Identitätsliberalen“, „Social-Justice-Kriegern“ und sogar von hochrangigen Republikanern gestört worden sei, die ihre „Ideale“ und „Prinzipien“ aufgegeben hätten, wie die Publizistin Anne Applebaum in einem Leitartikel im Atlantic schrieb.

Mark Lillas absurde, erstmals in der New York Times aufgestellte Behauptung, die „Mau-Mau-Taktik“ der Black-Lives-Matter-Bewegung und Hillary Clintons „Diversitätsrhetorik“ hätten Trump bei den Wahlen geholfen, wurde ehrfürchtig von der Financial Times und dem Guardian aufgegriffen. Mainstream-Zeitschriften auf beiden Seiten des Atlantiks machten sogleich gegen eine wiederbelebte Linke mobil, indem sie intellektuellen Trickbetrügern und lautstarken Kulturkämpfern eine Bühne boten, während sie verstärkt ihre dem Establishment gewogenen Rückzugspositionen bezogen.

„Die New York Times ist für den Kapitalismus“, versicherte deren Redaktionsleiter James Bennet seinen Kollegen, denn der sei „das größte Armutsbekämpfungsprogramm und die größte Fortschrittsmaschine, die wir jemals gesehen haben“. Bennet hatte in seinem Blatt Artikeln Raum gegeben, die den Klimawandel leugneten, sich für Eugenik einsetzten und für Palästina eine Politik der Apartheid und der ethnischen Säuberung empfahlen. 2020 musste er wegen eines Leitartikels zurücktreten, der den Einsatz des Militärs gegen antirassistische Demonstranten forderte.

 

US-Führung für immer?

Die von der ehemaligen amerikanischen UN-Botschafterin Samantha Powers kürzlich in der New York Times aufgestellte These, wonach „die Vereinigten Staaten führen, ganz gleich was sie tun“, und „die Nationen in Zeiten der Krise immer noch auf uns schauen“, bestätigt allerdings, dass die Gehilfen und Publizisten des Ancien Régime immer noch da sind und sich nach einer Restauration unter einer Biden-Administration sehnen. Nach den radikalen Umbrüchen unserer Zeit scheint es jedoch, als seien selbst die düstersten Darstellungen des in Deutschland erfundenen Sozialstaats ein nützlicherer Führer in die zukünftige Welt als die mit feuchten Augen vorgetragenen Geschichten von angloamerikanischen Maschinen universellen Fortschritts.

In Großbritannien und den USA kam es kürzlich zu einer kreischenden ideologischen Kehrtwende. Boris Johnson, der ein Subventionsmodell deutscher Prägung übernahm und sich eher an Franklin D. Roosevelt als an Churchill zu orientieren schien, erklärte nun, es gebe „so etwas wie Gesellschaft“, und versprach für Großbritannien einen New Deal.

Biden gab seinen Obama-Lite-Zentrismus auf und beeilte sich, Bernie Sanders’ Manifest zu plagiieren. Im Vorgriff auf seinen Sieg im November 2020 legte die Demokratische Partei verspätet Pläne zum Aufbau eines Sozialstaats in den USA vor, mit robusten Kündigungsschutzgesetzen, einer erweiterten, vom Staat gestützten Krankenversicherung (oder sogar einer Einheitskrankenversicherung) und gewaltigen Investitionen in das Gesundheitssystem und die Kinderbetreuung. Unternehmen versprachen eine bessere Vertretung von Minderheiten, Buch- und Zeitschriftenverlage suchten nach Texten, die das Leid von Minderheiten bezeugten, und entließen unverbesserliche Kollegen.

 

Verschärfter Kulturkampf

Solch ein spätes Erwachen, dem keine größeren ökonomischen und kulturellen Veränderungen folgen, gibt Anlass zur Skepsis – immerhin zählt das Leben von Schwarzen durchaus auch für Unternehmensbilanzen. Die Entfernung von Denkmälern für Sklavenhändler dürfte nur den Kulturkampf verschärfen, solange sie nicht von einer umfangreichen Neufassung des angloamerikanischen Geschichts- und Wirtschaftscurriculums begleitet wird.

Das neumodische Sozialstaatsdenken in Großbritannien und den USA wird prekär bleiben, solange man dort nicht nachhaltig mit der Sklaverei, dem Imperialismus und dem rassistischen Kapitalismus abrechnet. Sie waren es, die einigen Leuten in Großbritannien und den USA gewaltigen Reichtum und einzigartige Macht bescherten, die große Mehrheit der Weltbevölkerung jedoch in einen brutalen Kampf gegen Mangel und Entwürdigung stürzten.

In „Hundert Jahre Freiheit" ohne Gleichberechtigung oder in „The Fire Next Time" beschrieb der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin die Notwendigkeit solch einer moralischen und geistigen Revolution mit äußerst starken Worten und erklärte: Um „als menschliche, mitreißende, moralische Macht in der Welt zu überleben, werden Amerika und alle westlichen Länder gezwungen sein, sich zu prüfen und von vielem zu befreien, was heute noch als sakrosankt gilt, und fast alle Vorstellungen über Bord zu werfen, die bisher dazu gedient haben, ihr Leben und ihre Ängste und ihre Verbrechen zu rechtfertigen“. 

 

Über den Autor
Foto von Pankaj Mishra auf einem Podium.
Pankaj Mishra
Schriftsteller, Literaturkritiker und Lektor

Pankaj Mishra ist ein indischer Schriftsteller, Literaturkritiker und Lektor. Er schreibt regelmäßig für die New York Review of Books, den New Yorker und den Guardian über den indischen Subkontinent, Afghanistan und China. Pankaj Mishra war unter anderem Gastprofessor am Wellesley College und am University College London.

Bücher (Auswahl):

  • Freundliche Fanatiker. Über das ideologische Nachleben des Imperialismus. S. Fischer, Frankfurt/M. 2021
  • Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart. S. Fischer, Frankfurt/M. 2017
  • Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens. S. Fischer, Frankfurt/M. 2013
  • Lockruf des Westens. Modernes Indien. Berenberg, Berlin 2011

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.