Illustration: Eine Lupe schwebt über Afghanistan, aber zeigt nicht auf das Problem.

Jenseits der geopolitischen Linse

Wird ein Land wie Afghanistan durch eine orthodoxe geopolitische Linse betrachtet, werden Kultur und Geschichte entweder übersehen oder klischeehaft dargestellt. Scheiterte in Afghanistan die Demokratie oder scheiterten die geopolitischen Ambitionen mächtiger Staaten?

Was ist in Afghanistan passiert?

Im Oktober 2001 reagierte die US-geführte Koalition auf die Anschläge vom 11. September 2001 mit einem Militärangriff auf Afghanistan. Offiziell sollte mit dieser Intervention, die als Operation Enduring Freedom bezeichnet wurde, das Taliban-Regime gestürzt werden, das Al-Qaida Unterschlupf gewährte. In der Folge entwickelte sie sich zu dem am längsten andauernden und am besten finanzierten Projekt für Frieden und Staatsaufbau unserer Zeit, das von Europa maßgeblich unterstützt und gefördert wurde.

Nach zwei Jahrzehnten ist Afghanistan immer noch nicht frei und leidet weiterhin unter den zutiefst destabilisierenden und unmenschlichen Folgen des Krieges. Obwohl die Koalitionstruppen die Taliban 2001 schnell absetzten, erholte sich das Land schnell wieder und leistete Widerstand gegen die ausländische Besatzung. Im Jahr 2021 rechtfertigte US-Präsident Joe Biden seine Entscheidung, kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch der afghanischen Regierung jegliche Unterstützung einzustellen, damit, dass eine weitere militärische Präsenz in Afghanistan angesichts des lokalen Widerstands, der entschlossen war, das eigene Land zu befreien, „keinen Unterschied gemacht hätte“.

Vor diesem Hintergrund sahen sich die USA gezwungen, mit den Taliban zu verhandeln und ihre gescheiterte Expedition zu beenden, die unermessliches menschliches Leid und Zerstörung mit sich gebracht hatte. Die afghanischen Machthaber und Institutionen wie die afghanischen Sicherheitskräfte (Afghan National Defence Security Forces - ANDSF) zerfielen sofort, nachdem ihr imperialer Unterstützer beschlossen hatte, sich aus dem Staub zu machen.

Nach zwei Jahrzehnten ist Afghanistan immer noch nicht frei und leidet weiterhin unter den zutiefst destabilisierenden und unmenschlichen Folgen des Krieges.

Um dieses Scheitern zu verstehen, muss man es im kulturellen, historischen und politischen Kontext Afghanistans betrachten. In diesem Aufsatz betone ich die fehlende oder mangelnde Legitimität als zentralen Faktor für dieses Scheitern. Die mangelnde Legitimität hat die Politik Afghanistans seit der britischen Eroberung im 19. Jahrhundert belastet. Das afghanische Volk betrachtet fast alle exogenen Auferlegungen von Herrschern mit ausländischer Unterstützung, einschließlich der von außen kommenden Normen und Werte, als illegitim und hat sie auf dieser Grundlage abgelehnt und Widerstand geleistet.

Der afghanische Nationalstaat entstand durch Interventionen von außen, als dieser Raum im 19. Jahrhundert zum Schauplatz der geopolitischen Rivalität zwischen Großbritannien und Russland in Zentralasien wurde. Dieses imperiale Streben nach Einfluss störte die kulturell, ethnisch und regional verankerte Regierungsführung, die bis dahin im Lande bestanden hatte. Bis zu den britischen Invasionen (1839-42 und 1878-80) waren die Legitimität des Herrschers und des politischen Systems selbstverständlich, und die Führung war auf eine Elite beschränkt, die aus einem engen Kreis von Verwandten der Durrani-Dynastie bestand.

Der Rückgriff auf Gewalt

Umriss Afghanistans in den Farben der afghanischen Flagge.
Im Jahr 1978 wurde die Demokratische Republik Afghanistan gegründet, Illustration: GDJ via pixabay

Die britische Eroberung untergrub diese Struktur und führte zu Konflikten über das Recht, das Land zu regieren und zu beherrschen. Als im Jahr 1964 das parlamentarische System eingeführt wurde, konnte sich das Volk mehr an der Politik beteiligen. König Zahir Shah weigerte sich, mit dem neuen Parlament zusammenzuarbeiten, und wurde fast ein Jahrzehnt später von seinem Cousin Daoud Khan gestürzt. Khan schaffte die Monarchie ab und führte fortschrittliche Reformen ein. Im Jahr 1978 stürzte die Demokratische Volkspartei Afghanistans (PDPA), eine kommunistische Partei mit engen Beziehungen zur ehemaligen Sowjetunion, Khan und gründete die Demokratische Republik Afghanistan.

Damit wurden die dynastische Herrschaft und die damit verbundenen traditionellen Mechanismen, um Autorität zu legitimieren, beendet. Infolgedessen griffen die nachfolgenden Regierungen und Führer zur Gewalt, um ihren Machtanspruch durchzusetzen und zu sichern.

Während des Kalten Krieges wurde das Land erneut Opfer der geopolitischen Rivalität zwischen der Sowjetunion und dem Westen. Im Dezember 1979 startete die Sowjetunion eine groß angelegte Invasion, die mit einem weit verbreiteten Dschihad (heiliger Krieg gegen fremde Eroberung) beantwortet wurde. Westliche Mächte und US-Verbündete im Nahen Osten (insbesondere Saudi-Arabien) versorgten die dschihadistischen Bewegungen mit Waffen, finanziellen Mitteln und Kämpfern. Afghanistan wurde auch ein Ziel für militante Dschihadisten aus verschiedenen Teilen der arabischen und muslimischen Welt. In diesem Zusammenhang wurde Al-Qaida gegründet, ursprünglich als logistisches Netzwerk, um Dschihad-Kämpfer zu koordinieren und zu überwachen.

Als sich die Sowjetunion im September 1989 vollständig aus dem Land zurückzog, endete das Interesse des Westens an dem vom Krieg zerrissenen Land, einschließlich seiner schwer bewaffneten Gruppen, abrupt. Afghanistan wurde daraufhin von der internationalen Gemeinschaft praktisch aufgegeben.

Als sich die Sowjetunion im September 1989 vollständig aus dem Land zurückzog, endete das Interesse des Westens an dem vom Krieg zerrissenen Land, einschließlich seiner schwer bewaffneten Gruppen, abrupt.

Der Aufstieg der Taliban

In der Zwischenzeit führten die Auseinandersetzungen darüber, wer das Recht hatte, das Land zu regieren, zu weiteren Machtkämpfen. Die militarisierten Dschihadisten- und Widerstandsgruppen begannen, um die Macht zu konkurrieren, was zu weit verbreiteten Machtkämpfen und Unsicherheit im ganzen Land führte. 1994 machten sich die Taliban die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung zunutze, indem sie versprachen, Recht und Ordnung wiederherzustellen. Dies stärkte ihre Popularität und ermöglichte ihnen, die Kontrolle über das Land zu übernehmen, obwohl dies später einem Gefühl des Verrats wich, als die Gruppe begann, ihre restriktive Auslegung des Islam durchzusetzen.

Dass die Taliban Religion politisch instrumentalisierten und nutzten, war etwas Besonderes in der Geschichte Afghanistans. Die vielleicht einleuchtendste Analogie war die PDPA, deren Bemühungen, eine sozialistische und säkulare ideologische Autorität durchzusetzen, in ähnlicher Weise zu einer langanhaltenden nationalen Tragödie und zu nationalem Dissens und Widerstand geführt hatten.

Menschen mit Bauhelmen in den Trümmern des World Trade Centers nach 9/11.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 rückte Afghanistan in das globale Bewusstsein, Foto: wikiImages via pixabay

Die internationale Gemeinschaft schenkte Afghanistan wenig Aufmerksamkeit, bis sich Al-Qaida zu einem globalen Sicherheitsproblem entwickelte. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 rückte das Land als mittelalterlicher Raum, der von einem hasserfüllten und gewalttätigen „Anderen“ bewohnt wird, in das globale Bewusstsein. Der ehemalige US-Präsident George W. Bush behauptete bekanntermaßen: „Entweder ihr seid auf unserer Seite oder ihr seid auf der Seite der Terroristen“, und brachte damit eine aggressive und binäre Geopolitik auf den Punkt, die Afghanistans hochentwickelte Kultur, Geschichte und Bevölkerung ausschloss.

Die Afghanen waren gefangen in einem neokonservativen Projekt, das die internationale Ordnung umgestalten wollte, und einem neoliberalen Gegenstück zum Staatsaufbau, das exogene Normen und Werte durchsetzen wollte. In beiden Fällen wurden die Kultur, die ethnische Vielfalt und die Lebensweise der Afghanen grundlegend missachtet.

Und so wurde Afghanistan zum Schweigen gebracht. Politiker und Experten, die das Land nur oberflächlich verstanden, beherrschten den „Diskurs der Boulevardpresse“ (um eine Formulierung von François Debrix zu verwenden) und zwangen ihn dem Land auf. Unwissenheit in Verbindung mit Ausgrenzung waren ein tödlicher Grund dafür, Afghanistan aus seinem kulturellen und historischen Kontext herauszulösen. Unkritische und polemische Verallgemeinerungen, Selbstgerechtigkeit und zweifelhafte Behauptungen von Wohltätigkeit nahmen Gestalt an. Als Vorstufe zu militärischen und normativen Interventionen wurden ganze Kollektive als „Terroristen“, „Schurkenstaaten“, Mitglieder einer „Achse des Bösen" und unzivilisierte „Andere“ abgestempelt.

Missverständnisse mit dem Westen

Westliche ideologische Doktrinen spielten eine entscheidende Rolle, und insbesondere der Liberalismus bot eine Möglichkeit, unfreie Subjekte zu disziplinieren und sie (angeblich) besser auf eine zivilisierte Selbstverwaltung vorzubereiten. Afghanistan und der Irak wurden zu Laboratorien des 21. Jahrhunderts für einen liberalen Staatsaufbau auf der Grundlage angeblich universeller Werte wie individuelle Freiheit, freie Marktwirtschaft, Demokratie und starke staatliche Sicherheitsinstitutionen.

Dieses Unterfangen scheiterte trotz der üppigen Mittel, die dafür investiert wurden. Die Koalition war nach zwei Jahrzehnten gezwungen, sich auf chaotische und unkoordinierte Weise zurückzuziehen. Obwohl es dafür viele Gründe gab, bin ich der Meinung, dass die zutiefst fehlerhaften Annahmen neoliberaler Interventionen, die eine Legitimitätskrise hervorriefen, an erster Stelle standen.

Liberalismus bot eine Möglichkeit, unfreie Subjekte zu disziplinieren und sie (angeblich) besser auf eine zivilisierte Selbstverwaltung vorzubereiten.

Die Beziehungen zwischen dem offiziellen Westen und der außereuropäischen Welt waren durch ein großes Macht- und Hierarchiegefälle gekennzeichnet, was zu einem Gefühl der Rechtschaffenheit führte, das sich in einem Appell an „universelle“ Normen und Werte ausdrückte. Die koloniale/imperiale „zivilisatorische Mission“ wurde daher in unserer Zeit neu erfunden, um westliche Normen, Regierungsformen und vor allem Demokratie zu exportieren. Dies führte dazu, dass lokale Kulturen und Werte gleichgültig oder sogar verächtlich betrachtet wurden. Diese neoliberalen Maßnahmen waren in einem Land, in dem soziale Werte und Gruppensolidarität wichtiger sind als individuelle Interessen, besonders unklug.

Selbst wenn die intervenierenden Mächte lokale Vorstellungen und Praktiken anerkennen, machen sie sich diese zu eigen, um exogenen politischen Entscheidungen Legitimität zu verleihen. Man denke beispielsweise daran, wie die von der US geführte Koalition die afghanische Jirga-Praxis angepasst hat und insbesondere, wie die Versammlung der Ältesten für die Entscheidungsfindung als Rahmen verwendet wurde, um Streitigkeiten innerhalb lokaler Gemeinschaften beizulegen.

Im Jahr 2002 wurde diese Praxis auf nationaler Ebene zu einer Loya Jirga für Notfälle erweitert. Während die Jirga in ihrer ursprünglichen afghanischen Kultur eine auf Konsens basierende Praxis ist, wurde sie von den federführenden Nationen (USA, Vereinigtes Königreich, Deutschland und Italien) irreführenderweise als Ausdruck der Demokratie dargestellt und in ein Abstimmungssystem umgewandelt, um unpopulären Parametern, die von westlichen Akteuren und afghanischen Kriegsherren und Menschenrechtsverletzern auf der Bonner Konferenz 2001 gesetzt wurden, den Anschein von Legitimität zu verleihen.

Diese neoliberalen Maßnahmen waren in einem Land, in dem soziale Werte und Gruppensolidarität wichtiger sind als individuelle Interessen, besonders unklug.

In den Folgejahren wurde die lokale Bevölkerung weitgehend von extern finanzierten, konzipierten und durchgeführten Projekten zum Staatsaufbau ausgeschlossen, die nicht auf die spezifischen kulturellen oder wirtschaftlichen Bedürfnisse des Landes eingingen. So floss ein großer Teil der für die Projekte bereitgestellten Mittel in Form von Beraterhonoraren und Gewinnen an die Geberländer zurück, wie Thomas Barfield, US-amerikanischer Sozialanthropologe, beobachtete, der Mitte der 1970er Jahre umfangreiche ethnografische Feldforschungen unter Hirtennomaden in Nordafghanistan durchführte.

Ein Werkzeug für Bevollmächtigungskonflikte

Afghanistan kann der Liste der gescheiterten liberalen friedens- und staatsbildenden Interventionen seit den 1990er Jahren hinzugefügt werden, und dies unterstreicht, dass es notwendig ist, die gesamte neokoloniale und neoliberale Praxis des Exports der „universellen“ Werte der überlegenen Kultur zur Disziplinierung der widerspenstigen Peripherie kritisch zu hinterfragen.

Bei dieser Praxis werden Kultur und Werte nicht benutzt, um für Koexistenz und produktiven Austausch einzutreten, sondern um Macht und Hegemonie zu erlangen, Klientelregime und Einflusssphären zu schaffen und die internationale Ordnung zu beeinflussen. Und das erklärt, dass der unbeugsame lokale Widerstand gegen die aufgezwungenen Ideale nicht aus ihrem westlichen Charakter resultiert (schließlich sind nicht alle westlichen Werte neoliberal), sondern weil sie eng mit imperialer Eroberung und Herrschaft verbunden sind. Sie verleugnen die Handlungsfähigkeit und den Willen der Menschen und reduzieren sie auf passive und reaktive Wesen, die diszipliniert werden müssen. Und das ist einer der Hauptgründe, warum der westliche Interventionsrahmen in Afghanistan im Besonderen und im Globalen Süden im Allgemeinen nicht ausreichend legitimiert ist.

 Am Abend, bevor sich die USA aus Afghanistan zurückzogen, griffen westliche Analysten auf vorgefertigte Orthodoxien zurück, die das gesamte Land und die Gesellschaft als ein „Vakuum“ darstellten, das entweder von China oder Russland gefüllt werden würde.

Militärfahrzeuge in unwirtlichem Gelände
Der Export von „universellen“ Werten muss kritisch hinterfragt werden, Foto: ArmyAmber via pixabay

Dies zu behaupten, vernachlässigt erstens die afghanische Seite. Zweitens wird das Land auf subtile Art durch eine imperialistische geopolitische Rationalität als westlicher Besitz dargestellt, der wahrscheinlich an andere globale Mächte „verloren“ geht. Damit sollen nicht die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen Chinas in dem Land abgetan werden, sondern vielmehr die Nullsummenannahme in Frage gestellt werden, die besagt, dass die Beziehungen zwischen zwei Ländern mit gemeinsamen Grenzen und einer etablierten Geschichte des kulturellen und wirtschaftlichen Austauschs (über die Seidenstraße) als der Verlust eines anderen betrachtet werden sollten.

Wenn ein Land durch eine orthodoxe geopolitische Linse und das Wissen der Boulevardpresse betrachtet wird, werden seine komplexe und vielfältige Kultur, Geschichte und Bevölkerung entweder übersehen oder auf orientalistische Weise dargestellt. In seinem Buch „Identity: the Demand for Dignity and the Politics Ressentiment“ hat der Stanford-Professor Francis Fukuyama beispielsweise die Vielfalt Afghanistans als gleichbedeutend mit „Gewalt und Konflikt statt Kreativität und Widerstandsfähigkeit“ betrachtet.

Historisch gesehen war die ethnische Vielfalt des Landes ohnehin zweitrangig, da die wenigen flüchtigen Momente der Meuterei eher auf einen kleinen Kreis von Elitenpolitikern zurückzuführen waren, die sich um die Nachfolge stritten. Wie der Historiker und Anthropologe Thomas Barfield in seinem Buch „Afghanistan: A Cultural and Political History“ zeigt, war es nicht diese Vielfalt, die zu den landesweiten Kämpfen führte, sondern die englischen, russischen und amerikanischen Invasionen und Stellvertreterkriege, die darauf abzielten, geopolitische Hegemonie und Einflusssphären zu schaffen.

Starke Kultur und Gruppensolidarität

Afghanen, die ihren Traditionen treu bleiben (etwa im Hinblick auf Kleidungsstil, Architektur und starke Gruppensolidarität), erscheinen Außenstehenden oft als kulturell stagnierend und unfähig, sich zu verändern. Und wenn diese fehlerhafte Lesart in außenpolitische Vorstellungen einfließt, liefert sie die perfekte rhetorische Munition für imperialistische zivilisatorische Missionen und Interventionen unter dem Deckmantel von Freiheit und Humanität.

Rote und weiße Puzzleteile scheinen zu schweben
Die Kultur und Gesellschaft Afghanistans bestehen aus einem komplexen Mosaik ethnischer, sprachlicher und religiöser Gruppen, Illustration: PIRO4D via pixabay

Nach der Invasion beeilten sich die westlichen Länder, das liberale Friedensmodell umzusetzen und das Land nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Dabei vernachlässigten sie jedoch den Kern der afghanischen Gesellschaft, nämlich ihre starke Kultur, ihre Gruppensolidarität und ihr stolzes Selbstverständnis. Die Kultur und Gesellschaft Afghanistans bestehen aus einem komplexen Mosaik ethnischer, sprachlicher und religiöser Gruppen, die seit jeher friedlich nebeneinander existieren und zusammenarbeiten. Dies spiegelt sich in der nationalen Identität des Landes wider, insbesondere in seinem fortschrittlichen, nichtethnischen und nicht-ideologischen Charakter.

Obwohl es sich um eine muslimische Nation handelt (etwa 80 Prozent Sunniten und 20 Prozent Schiiten und Ismailiten), ist die Religion, wie Thomas Barfield feststellt, „keine Ideologie, sondern [eine] allumfassende Lebensweise“.

Diese Vielfalt und der ideologiefreie Nationalismus haben die kulturelle Koexistenz, die Dynamik und den Widerstand gegen radikale innere und äußere Zwänge gefördert. So sind beispielsweise die Versuche der PDPA und der Salafisten (Taliban und seit 2015 der Islamische Staat in der Provinz Chorasan), ideologische Autorität und Strenge durchzusetzen, auf landesweite Opposition und Widerstand gestoßen.

Afghanistan als zentrales Land in der Region

An dieser Stelle sollten auch einige Beispiele für den Beitrag Afghanistans zur Zivilisation erwähnt werden, die im öffentlichen Diskurs meist ausgeblendet werden. 

Abu Hanifa, ein afghanischer islamischer Gelehrter aus dem achten Jahrhundert, der als Sohn afghanischer Eltern in Bagdad geboren wurde, schuf die toleranteste und am weitesten verbreitete Rechtsschule in der islamischen Welt. Die Flexibilität seiner Schule des Islams, der die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung des Landes und der islamischen Welt anhängt, ermöglichte es, dass die Religion zu einer Lebensweise und nicht zu einer herrschenden Ideologie wurde.

Jalal ad-Din Mohammad Rumi (gemeinhin als Rumi bekannt), der berühmte Dichter aus dem 13. Jahrhundert, dessen fromme und romantische Poesie ein bleibendes Vermächtnis in der arabischen, persischen und türkischen Literatur hinterlassen hat, stammte aus der Provinz Balkh in Afghanistan. Seine übersetzten Werke sind in den meisten europäischen Sprachen und im normalen Buchhandel zu finden, und sein Einfluss reicht sogar noch weiter.

Jamal al-Din al-Afghani (1839-1897) ist ein weiterer bedeutender afghanischer Gelehrter, dessen Denken und Wirken die gesamte islamische Welt inspirierte. Er griff auf Kultur und Ideen zurück, um dem westlichen Imperialismus zu widerstehen. Er begründete die Bewegung des islamischen Modernismus, die etablierte islamische Konzepte und Praktiken kritisch hinterfragte, um modernen Idealen gerecht zu werden, einschließlich solcher, die sich auf Bürgerrechte, Demokratie und technologische Entwicklung beziehen.

Diese drei Beispiele zeigen die schwachen Grundlagen der starren binären Unterteilung, die das Narrativ des Zivilisierten (Westen) in direkten Gegensatz zum Unzivilisierten (Osten/Orient) stellt – und umgekehrt. Implizit ist der angenommene Konflikt zwischen westlichen und nichtwestlichen Werten eine erfundene koloniale Formel, die der neokoloniale Diskurs wiederbelebt hat, um Interventionen zu rechtfertigen und Feindseligkeit zu verstärken. Diese und ähnliche Darstellungen fallen in sich zusammen, wenn Kultur, Humanismus und eine längere Perspektive ins Spiel gebracht werden.

 

US-Präsident Obama steht vor der amerikanischen Flagge bei seiner Rede zur Lage der Nation
Im Jahr 2010 wollte die Obama-Regierung die Militärintervention in Afghanistan beenden, photo: Janeb13 via pixabay

Im Jahr 2001 wurden hehre Ideale wie Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und Frieden in die großen politischen Pläne der USA aufgenommen, um die internationale Ordnung zu verändern. Diese Strategie wurde jedoch durch nachfolgende globale Ereignisse und Trends in den Hintergrund gedrängt, darunter der Niedergang der USA, das Wiedererstarken Russlands, der Aufstieg Chinas und regionale Neuausrichtungen. Das Wiedererstarken der Taliban im Jahr 2005 und der erbitterte afghanische Widerstand machten den Einsatz der USA und der NATO im Lande ebenfalls unhaltbar.

Im Jahr 2010 war die Obama-Regierung trotz der Genehmigung einer Aufstockung der Truppen im Land bereits zu dem Schluss gekommen, dass die Militärintervention beendet werden müsse. Als sich die USA schließlich zurückzogen, verrieten sie ihre moralischen Grundsätze und das afghanische Volk, das den höchsten Preis dafür zahlen musste. Auch die engsten Verbündeten Washingtons, sowohl in Europa als auch im Nahen Osten, waren schockiert und begannen, die Glaubwürdigkeit der USA in Frage zu stellen.

Verwertung von Idealen und Werten

Die tragischen und unmenschlichen Folgen der westlichen Intervention, die ehrwürdige Ideale und Werte ausgenutzt hat, müssen nun kritisch hinterfragt werden. Und hier sollte ich betonen, dass es die Kooptation und Aushebelung von Demokratie, Menschenrechten und Freiheit im Dienste imperialistischer geopolitischer Ambitionen mächtiger Staaten waren und nicht die Prinzipien selbst, die in Afghanistan so kläglich und auffällig scheiterten.

Es besteht ein großer Unterschied zwischen einem organischen kulturellen und sozialen Dialog, Austausch und Überarbeitung (z. B. durch Bildung, Einwanderung, Literatur, Handelsnetze und Tourismus) und einem Austausch durch Eroberung und Terrorismus. Kulturelle Zusammenarbeit, Austausch und Demokratie wachsen nicht aus dem Gewehrlauf, vielleicht abgesehen von den radikal unterschiedlichen Kontexten in den Fällen Deutschland und Japan.

Die tragischen und unmenschlichen Folgen der westlichen Intervention, die ehrwürdige Ideale und Werte ausgenutzt hat, müssen nun kritisch hinterfragt werden.

Militärische Macht und hochmütige Ansprüche auf Universalismus und Wahrheit sind die Grundlage für westliche Interventionen in außereuropäischen Räumen und Kulturen. Wenn Macht und verkündete „Wahrheit“ von außen eingesetzt werden, neigen sie dazu, das Besondere und Wertvolle der Kulturen der „Anderen“ zu verunglimpfen und zu verflachen.

Exogene Aufregungen, die in einen humanitären Diskurs verpackt sind, um Hegemonie und geopolitische Ziele zu erreichen, stehen im Gegensatz zu humanistischem Verständnis und kulturellem Austausch und schaffen weder Legitimität noch Vertrauen zwischen Gesellschaften.

Im Gegenteil: Eroberung und Beherrschung schüren Angst, Furcht und tiefes Misstrauen zwischen Gemeinschaften und Kulturen. Kultur und gegenseitiges Verständnis sind gleichzeitig Bereiche friedlicher Zusammenarbeit und Orte, an denen willkürliche diskursive Grenzen zwischen wir/sie und westlich/nicht-westlich ihre Wirkung verlieren.

Wenn Europa einen anderen, humanen und friedlichen Weg einschlagen will, muss es koloniale Muster und Hierarchien aus seiner Außenpolitik verbannen. Zu diesem Zweck werden, wie Edward Said scharfsinnig argumentiert, ein kritischer Humanismus, Huma - nisten und Intellektuelle dringend benötigt, um das, was als universell, unproblematisch und selbstverständlich dargestellt wird, gebührend und vorsichtig in Frage zu stellen.

 

Über den Autor
Potrait Emile Badarin
Emile Badarin
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Europakolleg in Warschau

Dr. Emile Badarin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) am Europakolleg, Natolin Campus, in Warschau, das 2020 gegründet wurde. Er konzentriert sich auf die Bereiche internationale Politik und Außenpolitik mit dem Nahen Osten und der EU.

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