An einem Zaun hängt ein Plakat auf dem in blauer Schrift steht: Abus of Power comes as no surprise.
Kampf um die liberale Demokratie

Mit dem Brexit hat der Populismus im Ursprungsland des Kapitalismus gesiegt. Wie konnte es dazu kommen? Ist der Wunsch nach Wertschätzung maßgeblich? Gerade abgehängte Bevölkerungsgruppen sind empfänglich für die Parolen populistischer Bewegungen.

Der ehemalige amerikanische Präsident Donald Trump repräsentiert einen breiteren Trend der internationalen Politik in Richtung des populistischen Nationalismus. Populistische Führer sind bemüht, ihre Macht durch die Legitimität zu konsolidieren, die sie aus demokratischen Wahlen beziehen. Sie wollen eine direkte charismatische Verbindung zum „Volk“ herstellen, das oftmals nach sehr eingegrenzten, ethnischen Begriffen definiert wird, die große Teile der Bevölkerung ausschließen.

Institutionen behagen ihnen nicht, und so sind sie stets versucht, die Gewaltenteilung zu untergraben, welche dafür sorgt, die persönliche Macht des Staatschefs in modernen liberalen Demokratien einzuschränken: die Gerichte, die Legislative, unabhängige Medien und eine unparteiische Bürokratie.

Andere zeitgenössische Regierungschefs, die man dieser Kategorie zuordnen kann, sind Wladimir Putin in Russland, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei, Viktor Orbán in Ungarn, Jarosław Kaczyński in Polen und der ehemalige Präsident Rodrigo Duterte auf den Philippinen.

 

Globaler Drang zur Demokratie

Der globale Drang zur Demokratie, der Mitte der 1970er Jahre begann, ist, wie mein Kollege Larry Diamond schreibt, in eine globale Rezession übergegangen. Im Jahr 1970 gab es nur rund 35 repräsentative Demokratien – eine Zahl, die in den folgenden drei Jahrzehnten stetig anstieg, bis sie Anfang des 21. Jahrhunderts fast 120 erreichte. Die stärkste Beschleunigung fand zwischen 1989 und 1991 statt, als der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und der UdSSR eine demokratische Welle in der gesamten Region auslöste.

 

Seit Mitte der Nullerjahre hat sich der Trend jedoch umgekehrt, und die Anzahl der demokratischen Staaten ist wieder gesunken. Gleichzeitig sind autoritäre Länder wie China selbstbewusster geworden. Es ist kein Wunder, dass es potenziellen neuen Demokratien wie Tunesien, der Ukraine und Myanmar schwerfällt, tragfähige Institutionen aufzubauen, und dass es der liberalen Demokratie nicht gelang, in Afghanistan oder im Irak nach den dortigen US-Interventionen Fuß zu fassen. Es ist enttäuschend, wenn auch nicht allzu erstaunlich, dass Russland zu seinen autoritären Traditionen zurückgefunden hat.

Eine Person hält ein Schild hoch mit den Worten: We demand demcracy.
Der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und der UdSSR zwischen 1989 und 1991 löste eine demokratische Welle in der gesamten Region aus, Foto: Fred Moon, unsplash

Viel unerwarteter war indes, dass sogar in Ländern mit etablierten freiheitlichen Systemen Bedrohungen der Demokratie auftauchten. Ungarn gehörte zu den ersten Staaten Osteuropas, die ihr kommunistisches Regime stürzten. Als es sich sowohl der NATO als auch der Europäischen Union anschloss, schien es, wie die Politologen meinten, als „konsolidierte“ liberale Demokratie nach Europa zurückgekehrt zu sein.

Doch unter Orbán und seiner Fidesz-Partei ist es inzwischen zu einem Paradebeispiel der (von Orbán so genannten) „illiberalen Demokratie“ geworden. Eine noch viel größere Überraschung waren jedoch die Wahlergebnisse in Großbritannien und den Vereinigten Staaten für den Brexit und für Trump 2016. Dies betraf die beiden führenden Demokratien, welche die moderne liberale, internationale Ordnung errichtet hatten – Länder, die während der 1980er Jahre unter Reagan und Thatcher die Wegbereiter der „neoliberalen“ Revolution gewesen waren. Doch auch sie schienen sich nun einem engeren Nationalismus zuzuwenden.

 

Was sind die Vorteile der liberalen Demokratien?

Sie verstehen sich ziemlich gut darauf, für Frieden und Wohlstand zu sorgen (wenn auch mit Einschränkungen in den letzten Jahren). Diese vermögenden, ungefährdeten Gesellschaften sind die Domäne von Nietzsches letztem Menschen oder von C. S. Lewis’ „Menschen ohne Brust“, die ihr Leben mit der endlosen Suche nach Konsumbefriedigung verbringen, jedoch nichts in ihrem Innern aufweisen, keine höheren Ziele oder Ideale, die sie anstreben und für die sie Opfer bringen können. Ein solches Leben wird nicht jedem genügen. Megalothymia gedeiht durch Besonderheit: durch hohe Risiken, imposante Kämpfe und große Effekte, denn all das bewirkt, dass jemand im Vergleich mit anderen als überlegen anerkannt wird.

Die liberale Weltordnung kam jedoch nicht allen zugute. In vielen Ländern, besonders in den wohlhabenden Demokratien, nahm die Ungleichheit erheblich zu, was bedeutete, dass etliche Vorteile des Aufschwungs in erster Linie einer durch ihre Ausbildung definierten Elite zufielen.

In manchen Fällen kann sie heroische Führer wie Lincoln, Churchill oder Nelson Mandela hervorbringen, doch in anderen mag sie Tyrannen wie Cäsar, Hitler oder Mao schaffen, die ihre Gesellschaft in Diktatur und Katastrophen stürzen.

 

Verlangen nach Anerkennung

Da Megalothymia, historisch gesehen, in allen Gesellschaften existiert hat, kann sie nicht ausgeschaltet, sondern nur umgelenkt oder gemäßigt werden. Dieser Umstand wurde von den Gründervätern der Vereinigten Staaten vollauf zur Kenntnis genommen. Bei ihrem Bemühen, in Nordamerika eine republikanische Regierungsform aufzubauen, waren sie sich der Geschichte des Falls der Römischen Republik bewusst und machten sich Sorgen um das Problem des Cäsarismus. Ihre Lösung war das Verfassungssystem der „Checks and Balances“, das die Macht verteilt und ihre Konzentration auf einen einzigen Führer verhindert.

 

Foto von verschieden großen Klötzen die wie ein Siegerpodest aufgebaut sind.
Die Zunahme der Identitätspolitik in modernen liberalen Demokratien ist eine ihrer Hauptbedrohungen, Foto: Rodion Kutsaiev, pexels

Das Verlangen nach Anerkennung der eigenen Identität vereint als Leitmotiv vieles von dem, was sich heutzutage in der Weltpolitik abspielt. Es beschränkt sich nicht auf die Identitätspolitik, wie sie an Universitäten praktiziert wird, oder auf den weißen Nationalismus, den es erzeugt hat, sondern es erstreckt sich auch auf breitere Phänomene wie den Aufschwung des altmodischen Nationalismus und des politisierten Islam.

Ein großer Teil dessen, was als wirtschaftliche Motivation gilt, ist in Wirklichkeit in dem Verlangen nach Anerkennung verwurzelt und kann deshalb nicht einfach mit wirtschaftlichen Mitteln befriedigt werden. Dies hat direkte Konsequenzen dafür, wie wir gegenwärtig mit dem Populismus umgehen sollten. Laut Hegel wurde die Menschheitsgeschichte durch das Ringen um Anerkennung vorangetrieben. Er führte aus, dass die einzig rationale Lösung für das Verlangen nach Anerkennung universaler Art sei, was nichts anderes heißt, als dass die Würde jedes Menschen akzeptiert werden müsse.

Seitdem wird die universale Anerkennung immer wieder in Frage gestellt durch partielle Varianten der Anerkennung, die auf Nation, Religion, Sektenzugehörigkeit, Rasse, Ethnizität oder Gender beruhen, oder durch Individuen, die als überlegen anerkannt werden wollen. Die Zunahme der Identitätspolitik in modernen liberalen Demokratien ist eine ihrer Hauptbedrohungen. Wenn es uns nicht gelingt, zu einem universalen Verständnis der menschlichen Würde zurückzukehren, werden wir zu ständigen Konflikten verurteilt sein.

Das Verlangen nach Anerkennung der eigenen Identität vereint als Leitmotiv vieles von dem, was sich heutzutage in der Weltpolitik abspielt.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich ein dramatischer Wandel in der Weltpolitik vollzogen. Zwischen den frühen 1970er Jahren und der Mitte der ersten Dekade dieses Jahrhunderts fand das statt, was Samuel Huntington die „dritte Demokratisierungswelle“ nannte: Die Anzahl der repräsentativen Demokratien erhöhte sich weltweit von rund 35 auf über 110. In diesem Zeitraum wurde die liberale Demokratie zum Regierungsstandard für erhebliche Teile der Welt, jedenfalls dem Bestreben nach, wenn auch nicht unbedingt in der Realität.

 

Globalisierung führt zu wirtschaftlicher Interdependenz

Parallel zu diesem Wandel politischer Institutionen wuchs die wirtschaftliche Interdependenz zwischen den Staaten, also das, was wir als Globalisierung bezeichnen. Letztere wurde von liberalen Wirtschaftsstrukturen wie dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen und der sich daran anschließenden Welthandelsorganisation untermauert. Als Ergänzungen dienten regionale Handelsvereinbarungen in Form der Europäischen Union und des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens.

Während dieser Periode übertraf die Wachstumsrate des internationalen Handels und der internationalen Investitionen jene des globalen Bruttosozialprodukts. Sie galt allgemein als Hauptantriebskraft des Wohlstands.

In vielen Ländern, besonders in den wohlhabenden Demokratien, nahm die Ungleichheit erheblich zu, was bedeutete, dass etliche Vorteile des Aufschwungs in erster Linie einer durch ihre Ausbildung definierten Elite zufielen.

Zwischen 1970 und 2008 vervierfachte sich der weltweite Ertrag an Gütern und Dienstleistungen. Das Wachstum erstreckte sich auf praktisch alle Regionen, während sich der Anteil der unter extremer Armut leidenden Menschen in den Entwicklungsländern von 42 Prozent der Gesamtbevölkerung im Jahr 1993 auf 17 Prozent im Jahr 2011 verringerte.

Der Anteil der Kinder, die vor ihrem fünften Geburtstag starben, ging von 22 Prozent im Jahr 1960 auf weniger als 5 Prozent im Jahr 2016 zurück. Die liberale Weltordnung kam jedoch nicht allen zugute. In vielen Ländern, besonders in den wohlhabenden Demokratien, nahm die Ungleichheit erheblich zu, was bedeutete, dass etliche Vorteile des Aufschwungs in erster Linie einer durch ihre Ausbildung definierten Elite zufielen.

 

Mit dem wirtschaftlichen Wachstum wurden viele Güter leichter verfügbar, es war mehr Geld im Umlauf, und die Mobilität der Bevölkerung erhöhte sich– all das stiftete auch Unruhe. In Entwicklungsländern fanden sich Dorfbewohner, die zuvor nicht einmal einen Stromanschluss gehabt hatten, plötzlich in großen Städten wieder, wo sie fernsehen konnten und durch die allgegenwärtigen Mobiltelefone mit dem Internet verbunden waren.

Die Arbeitsmärkte passten sich den neuen Gegebenheiten an und zwangen Abermillionen Menschen, auf der Suche nach besseren Chancen für sich selbst und ihre Angehörigen oder auf der Flucht vor unerträglichen Verhältnissen in der Heimat internationale Grenzen zu überqueren.

Einen Drohnenfoto über einer Autobahn in Shanghai.
Mit dem wirtschaftlichen Wachstum erhöhte sich die Mobilität der Bevölkerung und die Arbeitsmärkte zwangen Menschen internationale Grenzen zu überqueren, Foto: Denys Nevozhai, unsplash

Trend zu einer offeneren und liberaleren Weltordnung beginnt zu stocken

In Ländern wie China und Indien entstanden riesige neue Mittelschichten, doch deren Tätigkeit ersetzte die Arbeit, die zuvor die etablierten Mittelschichten in der entwickelten Welt verrichtet hatten. Die Fertigungsindustrie verlagerte sich kontinuierlich aus Europa und den Vereinigten Staaten nach Ostasien und in andere Niedriglohnregionen.

Mitte des letzten Jahrzehnts begann der Trend in Richtung einer immer offeneren und liberaleren Weltordnung zu stocken und kehrte sich schließlich um. Dieser Wechsel fiel mit zwei Finanzkrisen zusammen: Die erste, 2008 verursacht vom US-amerikanischen Subprime-Markt, führte zu der sich anschließenden Großen Rezession. Die zweite war die Eurokrise nach der drohenden Staatspleite Griechenlands.

Eine Reihe autoritärer Länder, angeführt von China und Russland, ist seitdem viel selbstbewusster und energischer geworden: Das Erstere propagierte sein „China-Modell“ als eindeutig undemokratischen Pfad zu Entwicklung und Reichtum, während Russland die liberale Dekadenz der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten attackierte.

In beiden Fällen verursachten elitäre politische Maßnahmen weltweit heftige Konjunkturrückgänge, hohe Arbeitslosenquoten und Einkommensverluste für Millionen gewöhnlicher Beschäftigter. Da es sich bei den Vereinigten Staaten und der Europäische Union um führende Vertreter des Systems handelte, schadeten die Krisen dem Ruf der liberalen Demokratie als Ganzem.

Der Soziologe Larry Diamond charakterisiert die Jahre nach den Krisen als Periode einer „demokratischen Rezession“, in der die Gesamtzahl demokratischer Staaten in praktisch allen Gebieten der Welt zurückging.

Eine Reihe autoritärer Länder, angeführt von China und Russland, ist seitdem viel selbstbewusster und energischer geworden: China propagierte sein „China-Modell“ als eindeutig undemokratischen Pfad zu Entwicklung und Reichtum, während Russland die liberale Dekadenz der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten attackierte.

Etliche Länder, die in den 1990er Jahren den Eindruck erfolgreicher liberaler Demokratien gemacht hatten, glitten ab in autoritärere Regierungsformen, darunter Ungarn, die Türkei, Thailand und Polen.

Der Text basiert auf Francis Fukuyamas Buch "Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet", Hamburg: Hoffmann & Campe, 2019.

Über den Autor
Portrait von Francis Fukuyama
Francis Fukuyama
Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stanford, Kalifornien

Francis Fukuyama ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stanford und leitet dort das Center on Democracy, Development and the Rule of Law. In seinem Essay „Das Ende der Geschichte?“ bezeichnete er 1989 die liberale Demokratie als Höhepunkt der gesellschaftlichen Evolution. Im Oktober 2022 erschien sein neues Buch „Der Liberalismus und seine Feinde“, das sich mit der Bedrohung des Liberalismus befasst. Als einer der wichtigsten politischen Theoretiker der USA ist Fukuyama Vorsitzender des Redaktionsausschusses von American Purpose.
Bücher und Monografien

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