Illustration: Menschen stehen an einem Abgrund auf einer Wippe.

Kippendes Ökosystem

Das westlich geprägte Verständnis der Moderne dominiert das öffentliche Leben weltweit. Doch wie lange wird das Wissensökosystem des Westens die Diskurse der Welt bestimmen? Der indische Autor Pankaj Mishra zieht eine ernüchternde Bilanz: „Die Demokratie garantiert keine gute Regierung, und das nicht einmal in ihren ursprünglichen Kernländern."

Zu den „kleineren Bösewichtern der Geschichte“, schrieb der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr 1957, „gehören die freundlichen Fanatiker der westlichen Zivilisation, die die doch so sehr bedingten Leistungen unserer Kultur für die endgültige Form und Norm der menschlichen Existenz halten.“ Für Niebuhr waren die größeren Bösewichter natürlich Kommunisten und Faschisten. Als überzeugter Antikommunist war er anfällig für Ausdrücke wie „die moralische Überlegenheit der westlichen Zivilisation“.

Dennoch sah er den seltsamen Weg, den der Liberalismus genommen hatte: „Ein Dogma, das die wirtschaftliche Freiheit des Individuums gewährleisten sollte, wurde in einer späteren Periode des Kapitalismus die „Ideologie“ großer, körperschaftlicher Strukturen, die es nutzten und immer noch nutzen, um eine echte Kontrolle ihrer Macht zu verhindern.“ Er beobachtete auch aufmerksam das fundamentalistische Credo, das unser Zeitalter prägte – Kapitalismus und liberale Demokratie westlicher Prägung würden sich nach und nach in der ganzen Welt ausbreiten, und alle Gesellschaften sollten sich, kurz zusammengefasst, in derselben Weise entwickeln wie Großbritannien und die Vereinigten Staaten.

 

Apologeten globalisierter Märkte

Natürlich konnte Niebuhr nicht voraussehen, dass die freundlichen Fanatiker, die den Kalten Krieg so heimtückisch machten, an dessen Ende die Weltbühne beherrschen würden. In Gestalt liberaler Internationalisten, neokonservativer Verfechter der Demokratie und Apologeten freier globalisierter Märkte sollten sie durch eine inzwischen komplexere und widerspenstigere Welt stolpern und dazu beitragen, dass weite Teile Asiens, Afrikas und Lateinamerikas aus den Fugen gerieten, bevor sie in ihren eigenen Gesellschaften politisches Chaos anrichteten.

Die Weltgeschichte der Ideologien des Liberalismus und der Demokratie nach 1945 wie auch eine umfassende Soziologie der angloamerikanischen und anglophilen oder amerikafreundlichen Intellektuellen wären erst noch zu schreiben, obwohl die Welt, die sie schufen und vernichteten, schon jetzt in ihre tückischste Phase eintritt.

Es ist [...] seit langer Zeit klar, dass die globale Wette auf unregulierte Märkte und auf militärische Interventionen zu deren Gunsten das ehrgeizigste ideologische Experiment der Moderne darstellte.

Die meisten von uns erwachen gerade erst mit verschlafenen Augen aus den frenetischen Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Kriegs, in denen, wie der amerikanische Schriftsteller Don DeLillo schrieb, „der dramatische Anstieg des Dow Jones und die Geschwindigkeit des Internets uns alle aufforderten, permanent in der Zukunft zu leben, im utopischen Glanz des Cyberkapitals“. Es ist jedoch bereits seit langer Zeit klar, dass die globale Wette auf unregulierte Märkte und auf militärische Interventionen zu deren Gunsten das ehrgeizigste ideologische Experiment der Moderne darstellte.

Deren Anhänger, Verbündete und Unterstützer, von Griechenland bis nach Indonesien, waren zudem weitaus einflussreicher als ihre sozialistischen und kommunistischen Rivalen. Homo oeconomicus, das autonome, nach rationalen Grundsätzen handelnde, mit Rechten ausgestattete Subjekt der liberalen Philosophie, überzog alle Gesellschaften mit phantastischen Plänen zur Steigerung der Produktion und des Konsums.

 

Idiom der Moderne

Die Freiheitsstatue vor blauem Himmel.
Das in London, New York und Washington geprägte Idiom der Moderne bestimmte wie weite Teile der Weltbevölkerung Gesellschaft, Wirtschaft, Nation, Zeit und individuelle wie kollektive Identität verstanden, Foto: Zoonar Edi Chen via picture alliance

Das in London, New York und Washington geprägte Idiom der Moderne bestimmte den Common Sense des öffentlichen intellektuellen Lebens auf sämtlichen Kontinenten und veränderte radikal, wie weite Teile der Weltbevölkerung Gesellschaft, Wirtschaft, Nation, Zeit und individuelle wie kollektive Identität verstanden. Wer versuchte, hinter die exaltierte Rhetorik der liberalen Politik und Ökonomie zu schauen, fand dort natürlich nur selten entsprechende Realitäten.

Mein persönlicher Lernprozess hinsichtlich des fehlenden Realitätsgehalts eigenen Erfahrungen in Kaschmir, wo Indien, angeblich die größte Demokratie der Welt, zu einer Form von Hindu-Suprematismus und rassistischem Imperialismus ebenjener Art herabgesunken war, von dem das Land sich 1947 befreit hatte.

Als ich 1999 dorthin ging, hatte ich viele Vorurteile hinsichtlich der befreienden „zivilisatorischen“ Rolle Indiens im Gepäck und gehörte zu denen, die stillschweigend annahmen, dass die Muslime in Kaschmir mit dem „säkularen“, „liberalen“ und „demokratischen“ Indien besser führen als mit dem islamischen Staat Pakistan.

Die brutalen Realitäten der militärischen Besatzung Kaschmirs durch indische Truppen und die eklatanten Lügen und Täuschungen, die damit verbunden waren, zwangen mich, einen Großteil der alten Kritik am westlichen Imperialismus und der daran geknüpften Fortschrittsrhetorik wieder aufzugreifen. Als meine kritischen Artikel über Kaschmir im Jahr 2000 in The Hindu und The New York Review of Books erschienen, wurden sie in meiner Heimat am lautesten nicht von Hindu-Nationalisten, sondern von selbsternannten Wächtern der „liberalen Demokratie“ Indiens attackiert.

Ich hatte mich mit der einflussreichen Ideologie eines indischen Exzeptionalismus angelegt, der für Indiens einzigartig starke und vielfältige liberale Demokratie moralisches Ansehen wie auch geopolitische Bedeutung einforderte. Viele dieser selbstgerechten Vorstellungen rochen nach der Scheinheiligkeit der oberen Kasten und nach Klassenprivilegien. Die Fetischisten einer rein formalen und verfahrensorientierten Demokratie beriefen sich frömmlerisch auf „die Idee Indien“, das Experiment eines säkularen und liberalen Staatswesens. Sie schienen sich nicht an der Tatsache zu stören, dass die Menschen in Kaschmir und den Bundesstaaten an der Nordostgrenze Indiens de facto unter einem Kriegsrecht lebten, das den Sicherheitskräften das uneingeschränkte Recht zu Massakern und Vergewaltigungen verlieh – und auch nicht an dem Umstand, dass für einen großen Teil der indischen Bevölkerung das Versprechen der Gleichheit und Würde, gestützt durch Rechtsstaatlichkeit und unparteiische Institutionen, ein fernes, fast schon phantastisches Ideal geblieben war.

Jahrzehntelang zog Indien Vorteile aus einer im Kalten Krieg verbreiteten Vorstellung von „Demokratie“, die diese Staatsform auf ein moralisch glänzendes Etikett für die Wahl der Regierenden reduzierte, statt darauf abzustellen, welche Macht sie in den Händen hielten und wie sie diese Macht ausübten. Als ein nichtkommunistisches Land, das regelmäßig Wahlen abhielt, erfreute Indien sich eines makellosen internationalen Ansehens, obwohl es ihm nicht – und sogar noch weniger als vielen asiatischen, afrikanischen und latein-amerikanischen Ländern – gelang, seinen Bürgern auch nur die elementaren Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben zu bieten. Der Heiligenschein leuchtete noch heller, als die Regierungen des Landes sich dem freien Markt zuwandten und das kommunistische China plötzlich als Herausforderer des Westens auftrat.

Jahrzehntelang zog Indien Vorteile aus einer im Kalten Krieg verbreiteten Vorstellung von „Demokratie“.

Selbst als Indien sich dem Hindu-Nationalismus verschrieb, entwickelte sich in den angloamerikanischen Eliten ein überschwänglicher Konsens: dass die liberale Demokratie tiefe Wurzeln im indischen Boden geschlagen und ihn so für das Wachstum freier Märkte vorbereitet habe.

 

Spektakel einer liberalen Intelligenzija

Für einen Autor mit meinem Hintergrund wurde es zwingende Notwendigkeit, diese Einmütigkeit in Frage zu stellen – zunächst in meiner Heimat und dann immer häufiger im Ausland. Die freundlichen Fanatiker Indiens, die entschlossen schienen, den Herzen und Köpfen der Kaschmiris die „Idee Indien“ einzuhämmern, bereiteten mich in vielerlei Hinsicht auf das Spektakel einer liberalen Intelligenzija vor, die den Krieg für „Menschenrechte“ im Irak mit jener humanitären Freiheits-, Demokratie- und Fortschrittsrhetorik feierte, die man ursprünglich von europäischen Imperialisten des 19. Jahrhunderts kannte. Mir war schon lange klar, dass westliche Ideologien den Aufstieg des „demokratischen“ Westens während des Kalten Kriegs in geradezu absurder Weise geschönt hatten.

Der lange Kampf gegen den Kommunismus, der den Anspruch auf höchste moralische Tugend erhob, hatte mancherlei zweckdienliche Täuschungsmanöver verlangt. Die Jahrhunderte des Bürgerkriegs, der imperialen Eroberung, der brutalen Ausbeutung und des Völkermords wurden schlichtweg ausgelassen in historischen Darstellungen, die zeigten, wie die Menschen des Westens die moderne Welt geschaffen hatten und mit ihren liberalen Demokratien zu den Vorbildern geworden waren, denen alle anderen nachstreben sollten.

 Die Jahrhunderte des Bürgerkriegs, der imperialen Eroberung, der brutalen Ausbeutung und des Völkermords wurden schlichtweg ausgelassen in historischen Darstellungen, die zeigten, wie die Menschen des Westens die moderne Welt geschaffen hatten.

Was ich allerdings nicht wusste, bevor ich im Wissensökosystem Londons und New Yorks zu leben begann, war die Tatsache, dass die Ausflüchte und Auslassungen mit der Zeit zu gewaltigen Defiziten im Wissen über den Westen wie auch die außerwestliche Welt geführt hatten. Einfältige und irreführende Vorstellungen und Annahmen, die aus dieser bornierten Geschichte stammten, prägten die Reden westlicher Politiker, die Berichte von Denkfabriken sowie die Leitartikel von Zeitungen und lieferten das nötige Futter für zahllose Kolumnisten, TV-Fachleute und Terrorismusexperten.

Es mag heute – vor allem für jüngere Leser – kaum noch präsent sein, dass der Mainstream im angelsächsischen Raum in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts Figuren wie den britischen Historiker Niall Ferguson, der den Irakkrieg von George W. Bush unterstützte, hervorbrachte. Auch hatten Thesen Konjunktur, laut denen die Besetzung der Territorien fremder Völker und die Unterdrückung ihrer Kultur wirkungsvolle Instrumente der Zivilisierung gewesen seien. Demnach bräuchte es mehr von diesem emanzipatorischen Imperialismus, um hartnäckig rückständige Völker dem fortgeschrittenen Westen anzupassen.

 

Statue eines Kolonialisten vor blauem Himmel.
Auch hatten Thesen Konjunktur, laut denen die Besetzung der Territorien fremder Völker und die Unterdrückung ihrer Kultur wirkungsvolle Instrumente der Zivilisierung gewesen seien, Foto: Kevin Olson via unsplash

Der britische Imperialismus, den westliche Wissenschaftler und führende Antikolonialisten gleichermaßen jahrzehntelang für einen rassistischen, illegitimen und häufig räuberischen Despotismus gehalten hatten, wurde in unserer Zeit erstaunlicherweise zu einer segensreichen Veranstaltung umgedeutet. Sie habe, in Fergusons Worten, „unbezweifelbar dem freien Handel, der freien Bewegung des Kapitals und, durch die Abschaffung der Sklaverei, der Freiheit der Arbeit den Weg“ geebnet.

Die Märchen von der Erschaffung der modernen Welt durch die Briten wurden nicht etwa nur in heimlichen rechtsextremen Versammlungen oder Luxusklausuren für Hedgefonds-Investoren verbreitet. Vielmehr übernahmen Mainstream-Medien aus Fernsehen, Funk und Presse die Aufgabe, ihnen bei einem breiteren Publikum intellektuelle Anerkennung zu verschaffen.

Politiker wie auch Vertreter der Fernsehgesellschaften fügten sich der kriegerischen Unlogik dieser Ansichten. Die BBC stellte Niall Fergusons Glauben an die Notwendigkeit, den Imperialismus wiederherzustellen, ihre Hauptsendezeit zur Verfügung. Der Tory-Bildungsminister bat ihn, als Berater für den Lehrplan im Fach Geschichte tätig zu werden.

Auf der Suche nach einem noch einflussreicheren Publikum überquerten die Revanchisten den Atlantik und statteten jene US-Amerikaner mit intellektuellem Rüstzeug aus, die versuchten, die moderne Welt durch freie Märkte und militärische Gewalt umzubauen. Natürlich übergingen die Barden eines neuen weltumspannenden liberalen Imperiums nahezu vollständig alle asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Stimmen. Und die wenigen, die Zugang zur Mainstream-Presse fanden, mussten erkennen, dass ihr einzigartiges Privileg sie verpflichtete, zunächst einmal das Terrain von all den falschen Darstellungen oder schlichten Unwahrheiten zu säubern, die sich über Jahrzehnte dort angesammelt hatten.

 

Verführerischer Gegensatz

Dieser oft frustrierende Kampf prägte auch meine eigenen reflektierten Bemühungen. Diese waren indes unvermeidlich, denn in allen Bereichen des Journalismus waren die Vorurteile längst tief verwurzelt und traten immer wieder hartnäckig zutage, ob man nun über Afghanistan, Indien oder Japan schrieb.

Hier nur ein Beispiel: In „Chancen, die ich meine", einem äußerst einflussreichen Buch (und einer zehnteiligen Fernsehserie), hatten Milton und Rose Friedman einen verführerisch binären Gegensatz zwischen rationalen Märkten und staatlichen Eingriffen konstruiert (ein Gedanke, der die Analysen, die Politik und die Rezepte der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds für die nächsten zwei Jahrzehnte prägen sollte).

Friedman hatte eine Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler, die sogenannten „Chicago Boys“, bei deren Umbau der chilenischen Wirtschaft nach dem von der CIA initiierten Sturz Salvador Allendes 1973 inspiriert und suchte nun nach intellektueller Bestätigung in Ostasien. Er behauptete, Japan, Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur wären deshalb erfolgreich, weil sie sich auf „private Märkte“ stützten.

In „Das Ende der Geschichte“ schloss Francis Fukuyama sich dieser These an und erklärte, die ostasiatischen Volkswirtschaften hätten „ähnliche Erfahrungen gemacht wie Deutschland und Japan im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Ihre Entwicklung hat bestätigt, dass späte Modernisierer in einer liberalen Wirtschaftsordnung ihre Vorgänger einholen und sogar überholen können.“

Die Fabel vom ostasiatischen „Wunder“ wurde in den Mainstream-Medien zu einem zentralen Bestandteil der Berichterstattung über Asien. Sie stimmte allerdings gar nicht mit den historischen Befunden überein, die zeigten, dass staatlich gelenkte Modernisierung und ökonomischer Protektionismus für die Vorkriegswirtschaft Japans und Deutschlands von ebenso zentraler Bedeutung gewesen waren wie für die Nachkriegswirtschaft Ostasiens. In jüngster Zeit erwiesen sich die alten Traditionen technokratischer Herrschaft in Ostasien als äußerst bedeutsam für den relativ erfolgreichen Umgang mit der Covid-19-Pandemie, während angloamerikanische Verfechter des freien Marktes an dieser Aufgabe scheitern – mit tödlichen Folgen.

Die Fabel vom ostasiatischen „Wunder“ wurde in den Mainstream-Medien zu einem zentralen Bestandteil der Berichterstattung über Asien.

In „Atlantiküberquerungen. Die Politik der Sozialreform 1870 – 1945“ zeigt Daniel Rodgers, dass im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zahlreiche US-Amerikaner nach Aufenthalten in Deutschland mit Ideen heimkehrten, die prägend für den New Deal wurden. Der New Deal war das außergewöhnliche Beispiel einer US-amerikanischen Regierung, die erkannte, dass der Staat ein Wächter der Interessen des Volkes sein kann und sein sollte. Dies war aus den beiden Katastrophen des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise erwachsen.

 

Moralische Anstalt

Im Kampf ums Überleben mussten selbst extreme Individualisten einräumen, dass es „die elementarste Pflicht des demokratischen Staates“ sei, „einen Mindestlebensstandard festzulegen, unter den kein Mensch sinken darf “, wie Walter Lippmann es formulierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg akzeptierten nahezu alle westlichen Regierungen in unterschiedlichem Maße, dass der Staat, um es mit dem deutschen Ökonomen Gustav Schmoller zu sagen, die größte moralische Anstalt zur Erziehung des Menschen sei.

Die Führer der freien Welt erweckten eifrig den Eindruck, dass sie hart arbeiteten, um soziale Gerechtigkeit herzustellen und den Wohlstand der Bürger zu sichern. Selbst die konservativsten unter ihnen schienen Bismarcks Ansicht zu teilen, wonach „der Staat ohne einen gewissen Sozialismus nicht bestehen kann“.

Als Reaktion auf den ostdeutschen Anspruch, ein besseres soziales Sicherungssystem zu besitzen, erweiterten die Christdemokraten in Westdeutschland das System, so dass es immer mehr Menschen umfasste. In diesen Jahrzehnten wurde auch der britische National Health Service gegründet. In den USA wurden Wohlfahrtsprojekte wie Lyndon B. Johnsons Great Society begonnen, die bedürftigen Familien Unterstützungszahlungen versprachen, und Bürgerrechtsgesetze verabschiedet.

 

Ins Kraut schießende Phantasien

All das geschah mit nervösem Blick auf die sowjetische Propaganda, die unermüdlich und unwiderlegbar auf die organisierte Entwürdigung der Afroamerikaner in den USA hinwies. Milton Friedman konnte 1970 mit einem freundlichen ideologischen Klima rechnen, als er im New York Times Magazine behauptete, die Unternehmen hätten keine andere soziale Verpflichtung als die, Profite zu machen.

Er war das öffentliche Gesicht eines ideologischen Wandels, in dessen Rahmen libertäre Ökonomen wie James Buchanan gemeinsam mit dem rechten Eiferer Charles Koch und Lobbyisten von Firmen wie Shell Oil, Exxon, Ford, IBM, der Chase Manhattan Bank und General Motors mit Hilfe willfähriger Medien und eines neuen Lehrplans für die Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten ihre radikalen Vorstellungen verbreiteten.

Das Reagan-Thatcher-Modell [...] setzt eine unvorstellbar große Zahl von Menschen einem vorzeitigen Tod oder einem verzweifelten Existenzkampf aus.

Zum Teil infolge ihres Einflusses und ermutigt durch Reagans und Thatchers Rhetorik, begannen Politiker des gesamten ideologischen Spektrums in den 1980er Jahren, soziale Sicherungen abzubauen, die Arbeitnehmerrechte einzuschränken und die Steuern für die Reichen massiv zu senken. Dieser Prozess beschleunigte sich noch nach dem „Sieg“ des Westens im Kalten Krieg, als Phantasien über eine Amerikanisierung der gesamten Welt ins Kraut schossen: „Ich möchte, dass alle Amerikaner werden“, erklärte Thomas Friedman, Globalisierungsberater von CEOs und auf Modernisierung bedachten Despoten, noch 2008.

Von Thatcher und rechten Thinktanks in den USA inspiriert, drängte Tony Blair die staatliche Politik und die Einstellung der britischen Öffentlichkeit noch weiter in Richtung der Vorstellung, staatliche Wohlfahrtssysteme seien eher ein Problem als die Lösung. Über das letzte Jahrzehnt schredderten mehrere aufeinanderfolgende konservative Regierungen im Zuge ihrer „Sparpolitik“ skrupellos, was von den sozialen Sicherungssystemen geblieben war. Sie beschleunigten damit den Verfall Großbritanniens zu einem scheiternden – wenn nicht gar gescheiterten – Staat, der nicht einmal die Versorgung seines Krankenhauspersonals mit Schutzmasken und Handschuhen zu sichern vermag.

In den USA wurde „Sozialhilfe“ durch Reagans Ausfälle gegen „Sozialhilfebetrüger“ („welfare queens“) zu einem Schimpfwort, danach geriet sie unter intensiven Beschuss durch Bill Clinton. Die chaotische Reaktion auf Hurrikan Katrina bewies, dass George W. Bush „sich nicht für Schwarze interessiert“, wie es der (heute umstrittene) Kanye West ausdrückte, während die Nachwirkungen der Finanzkrise zeigten, dass Barack Obama sehr darauf bedacht war, nicht den Eindruck zu erwecken, er interessiere sich allzu sehr für Schwarze. Der schwarze US-Präsident belehrte Afroamerikaner über individuelle Verantwortung, während er seine zukünftigen Zahlmeister an der Wall Street vor dem Ruin rettete.

 

Ideologisches Exportgut

Die Pandemie, die mehrere hunderttausend Menschen in den USA das Leben gekostet hat, zeigt heute weitaus deutlicher als Katrina 2005 und die Finanzkrise 2008: Das Reagan-Thatcher-Modell, das die Risiken privatisiert und die staatliche Verantwortung dem Einzelnen zuschiebt, setzt eine unvorstellbar große Zahl von Menschen einem vorzeitigen Tod oder einem verzweifelten Existenzkampf aus.

Immer klarer schält sich die vernichtende Erkenntnis heraus, dass die Demokratie, das wichtigste ideologische Exportgut Angloamerikas und Hauptstütze seines moralischen Ansehens, niemals wirklich das war, was sie angeblich sein sollte. Die Demokratie garantiert keine gute Regierung, und das nicht einmal in ihren ursprünglichen Kernländern.

Die moderne Demokratie hat kaum noch etwas gemein mit der Staatsform, die im alten Griechenland diesen Namen trug.

Und auch die individuellen Wahlmöglichkeiten, die Bürger von Demokratien in gewissen Zeitabständen – in Gestalt von Referenden oder Wahlen – nutzen dürfen, verleihen den Gewählten keine politische Weisheit. Sie können sie sogar, wie Johnson und Trump bestätigen, zu krankhaften Allmachtsphantasien verleiten. Das Ideal der Demokratie, wonach alle Erwachsenen gleich sind und gleiche Chancen haben, durch Wahlen über das politische und ökonomische Geschehen zu bestimmen, ist nirgendwo verwirklicht. Schon die wirtschaftliche Ungleichheit sorgt dafür, dass dieses Ideal gar nicht verwirklicht werden kann – vom kompromittierten Charakter der politischen Repräsentanten ganz zu schweigen.

Noch beunruhigender ist indessen, dass die Wähler nicht zuletzt durch einen lügenhaften oder nach Clicks gierenden Vierten Stand immer mehr der Fähigkeit beraubt worden sind, das Gemeinwohl zu erkennen oder danach zu streben.

 

Anders gesagt: Die moderne Demokratie hat kaum noch etwas gemein mit der Staatsform, die im alten Griechenland diesen Namen trug.

Und nirgendwo trägt die Demokratie so deutlich die Züge eines Zombies wie in Indien, dem eifrigsten Schüler Angloamerikas. Dort lenkt eine unerhört populäre hindu-suprematistische Bewegung von einer Ungleichheit grotesken Ausmaßes und ihrer eigenen kriminellen Unfähigkeit ab, indem sie einen mörderischen Hass auf Muslime schürt.

Wer wie ich in den 1970er und 1980er Jahren in Indien aufwuchs, erlebte dort das Fiasko der Demokratie und den ebenso katastrophalen Aufbau des Staates. Anders als Thomas Jefferson und George Washington waren die Gründungsgestalten Indiens ausgesprochene Anhänger der sozialen, politischen und ökonomischen Gleichheit.

 

 

Ruine eines antiken griechischen Torbogens.
Immer klarer schält sich die Erkenntnis heraus, dass die Demokratie, niemals wirklich das war, was sie angeblich sein sollte, Foto: Micheile via unsplash
Über den Autor
Foto von Pankaj Mishra auf einem Podium.
Pankaj Mishra
Schriftsteller, Literaturkritiker und Lektor

Pankaj Mishra ist ein indischer Schriftsteller, Literaturkritiker und Lektor. Er schreibt regelmäßig für die New York Review of Books, den New Yorker und den Guardian über den indischen Subkontinent, Afghanistan und China. Pankaj Mishra war unter anderem Gastprofessor am Wellesley College und am University College London.

Bücher (Auswahl):

  • Freundliche Fanatiker. Über das ideologische Nachleben des Imperialismus. S. Fischer, Frankfurt/M. 2021
  • Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart. S. Fischer, Frankfurt/M. 2017
  • Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens. S. Fischer, Frankfurt/M. 2013
  • Lockruf des Westens. Modernes Indien. Berenberg, Berlin 2011

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.