Illustration: Eine Person liegt auf den Knien am Boden und duckt sich.

Krieg gegen sich selbst

Der Islam führt keinen Krieg gegen den Westen, sondern gegen sich selbst: Alle Aufstände der letzten Jahre in der islamischen Welt waren Aufstände für Demokratie und Menschenrechte. Es wird Zeit, dass der Westen diesen Krieg anerkennt und sich dazu verhält.

Es sind nicht nur die schrecklichen Nachrichten und noch schrecklicheren Bilder aus Syrien und dem Irak oder aus Afghanistan, wo der Koran noch bei jeder Schweinetat hochgehalten und bei jeder Enthauptung „Allahu akbar“ gerufen wird. Auch in so vielen anderen, wenn nicht den meisten Ländern der muslimischen Welt berufen sich staatliche Autoritäten, staatsnahe Institutionen, theologische Schulen oder aufständische Gruppen auf den Islam, wenn sie das eigene Volk unterdrücken, Frauen benachteiligen, Andersdenkende, Andersgläubige, anders Lebende verfolgen, vertreiben, massakrieren.

Unter Berufung auf den Islam werden in Afghanistan Frauen gesteinigt, in Pakistan ganze Schulklassen ermordet, in Nigeria Hunderte Mädchen versklavt, in Libyen Christen geköpft, in Bangladesch Blogger erschossen, in Somalia Bomben auf Marktplätzen gezündet, in Mali Sufis und Musiker umgebracht, in Saudi-Arabien Regimekritiker gekreuzigt, in Iran die bedeutendsten Werke der Gegenwartsliteratur verboten, in Bahrein Schiiten unterdrückt, im Jemen Sunniten und Schiiten aufeinandergehetzt.

 

Krieg für die Freiheit

Gewiss lehnen die allermeisten Muslime Terror, Gewalt und Unterdrückung ab. Das ist nicht nur eine Floskel, sondern das habe ich auf meinen Reisen genau so erlebt: Wem die Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist, der ermisst erst recht ihren Wert. Alle Massenaufstände der letzten Jahre in der islamischen Welt waren Aufstände für Demokratie und Menschenrechte: nicht nur die versuchten, wenn auch meist gescheiterten Revolutionen in fast allen arabischen Ländern, ebenso die Protestbewegungen in der Türkei, in Iran, in Pakistan und nicht zuletzt der Aufstand an den Wahlurnen der letzten indonesischen Präsidentschaftswahl.

Vergessen wir nicht, dass es an vorderster Front Muslime selbst sind, die gegen den „Islamischen Staat“ kämpfen.

Ebenso zeigen die Flüchtlingsströme an, wo sich viele Muslime ein besseres Leben erhoffen als in ihrer Heimat: jedenfalls nicht in religiösen Diktaturen. Auch die Berichte, die uns aus Mossul oder Rakka selbst erreichen, künden nicht von Begeisterung, sondern von Panik und Verzweiflung der Bevölkerung. Alle maßgeblichen theologischen Autoritäten der islamischen Welt haben den Anspruch des Islamischen Staates verworfen, für den Islam zu sprechen, und im Detail herausgearbeitet, inwiefern dessen Praxis und Ideologie dem Koran und den Grundlehren der islamischen Theologie widersprechen. Und vergessen wir nicht, dass es an vorderster Front Muslime selbst sind, die gegen den „Islamischen Staat“ kämpfen, Kurden, Schiiten, auch sunnitische Stämme und die Angehörigen der irakischen Armee.

 

Krieg gegen sich selbst 

Das muss man alles sagen, will man nicht dem Trugbild aufsitzen, das Islamisten und Islamkritiker wortgleich entwerfen: dass der Islam einen Krieg gegen den Westen führe. Eher führt der Islam einen Krieg gegen sich selbst, will sagen: die islamische Welt wird von einer inneren Auseinandersetzung erschüttert, deren Auswirkungen auf die politische und ethnische Kartographie an die Verwerfungen des Ersten Weltkriegs heranreichen dürften.

 

Illustration: Einem menschlichen Kopf wurde die Augenpartie als Scheibe entnommen. Die Person blickt sich selbst in die Augen.
Die innere Auseinandersetzung der islamischen Welt, Foto: CDD20 via pixabay

Den multiethnischen, multireligiösen und multikulturellen Orient, den ich in seinen großartigen literarischen Zeugnissen aus dem Mittelalter studiert und während langer Aufenthalte in Kairo und Beirut, als Kind während der Sommerferien in Isfahan und als Berichterstatter im Kloster von Mar Musa als eine zwar bedrohte, niemals heile, aber doch quicklebendige Wirklichkeit lieben gelernt habe, diesen Orient wird es so wenig mehr geben wie die Welt von gestern, auf die Stefan Zweig in den 1920er Jahren voller Wehmut und Trauer zurückblickte.

Was ist geschehen? Der „Islamische Staat“ hat nicht erst vor wenigen Jahren begonnen und auch nicht erst mit den Bürgerkriegen im Irak und in Syrien. Seine Methoden mögen auf Ablehnung stoßen, aber seine Ideologie ist der Wahhabismus, der heute bis in die hintersten Winkel der islamischen Welt wirkt und als Salafismus gerade auch für Jugendliche in Europa attraktiv geworden ist. Wenn man weiß, dass die Schulbücher und Lehrpläne in den vom „Islamischen Staat“ besetzten Gebieten zu 95 Prozent identisch mit den Schulbüchern und Lehrplänen Saudi-Arabiens waren, dann weiß man auch, dass die Welt nicht nur im Irak und in Syrien strikt in verboten und erlaubt eingeteilt wurde und wird – und die Menschheit in gläubig und ungläubig.

Gesponsert mit Milliardenbeträgen aus dem Öl, hat sich über Jahrzehnte in Moscheen, in Büchern, im Fernsehen ein Denken ausgebreitet, das ausnahmslos alle Andersgläubigen zu Ketzern erklärt, beschimpft, terrorisiert, verächtlich macht und beleidigt.

Wenn man andere Menschen systematisch, Tag für Tag, öffentlich herabsetzt, ist es nur folgerichtig – wie gut kennen wir das aus unserer eigenen, der deutschen Geschichte –, dass man schließlich auch ihr Leben für unwert erklärt. Dass ein solcher religiöser Faschismus überhaupt denkmöglich wurde, dass der IS so viele Kämpfer und noch mehr Sympathisanten finden, dass er ganze Länder überrennen und Millionenstädte weitgehend kampflos einnehmen konnte, das ist nicht der Beginn, sondern der vorläufige Endpunkt eines langen Niedergangs, eines Niedergangs auch und gerade des religiösen Denkens.

 

Verlust von Kreativität und Freiheit

Ich habe 1988 angefangen, Orientalistik zu studieren, meine Themen waren der Koran und die Poesie. Ich glaube, jeder, der dieses Fach in seiner klassischen Ausprägung studiert, gelangt an den Punkt, an dem er die Vergangenheit und die Gegenwart nicht mehr zusammenbringen kann. Und er wird hoffnungslos, hoffnungslos sentimental.

Natürlich war die Vergangenheit nicht einfach nur friedlich und kunterbunt. Aber als Philologe hatte ich vor allem mit den Schriften der Mystiker, der Philosophen, der Rhetoriker und ebenso der Theologen zu tun. Und ich, nein: wir Studenten konnten und können nur staunen über die Originalität, die geistige Weite, die ästhetische Kraft und auch humane Größe, die uns in der Spiritualität Ibn Arabis, der Poesie Rumis, der Geschichtsschreibung Ibn Khalduns, der poetischen Theologie Abdulqaher al-Dschurdschanis, der Philosophie des Averroes, den Reisebeschreibungen Ibn Battutas und noch in den Geschichten von Tausendundeiner Nacht begegnen, die weltlich sind, ja, weltlich und erotisch und übrigens auch feministisch und zugleich auf jeder Seite durchdrungen vom Geist und den Versen des Korans.

Es war einmal denkmöglich und sogar selbstverständlich, dass der Koran ein poetischer Text ist, der nur mit den Mitteln und Methoden der Poetologie begriffen werden kann, nicht anders als ein Gedicht.

Das waren keine Zeitungsberichte, nein, die soziale Wirklichkeit dieser Hochkultur sah wie jede Wirklichkeit grauer und gewalttätiger aus. Und doch sagen diese Zeugnisse etwas darüber aus, was einmal denkmöglich oder sogar selbstverständlich war innerhalb des Islams. Nichts, absolut nichts findet sich innerhalb der religiösen Kultur des modernen Islams, das auch nur annähernd vergleichbar wäre, eine ähnliche Faszination ausübte, von ebensolcher Tiefe wäre wie die Schriften, auf die ich in meinem Studium stieß. Und da spreche ich noch gar nicht von der islamischen Architektur, der islamischen Kunst, der islamischen Musikwissenschaft – es gibt sie nicht mehr. Ich möchte den Verlust an Kreativität und Freiheit an meinem eigenen Fachgebiet illustrieren: Es war einmal denkmöglich und sogar selbstverständlich, dass der Koran ein poetischer Text ist, der nur mit den Mitteln und Methoden der Poetologie begriffen werden kann, nicht anders als ein Gedicht.

 

Illustration: Ein Astronaut ist durch einen Schlauch mit einem Buch verbunden.
Der Koran muss als poetischer Text verstanden werden, Foto: CDD20 via pixabay

 

Es war denkmöglich und sogar selbstverständlich, dass ein Theologe zugleich ein Literaturwissenschaftler und Kenner der Poesie war, in vielen Fällen auch selbst ein Dichter. In der heutigen Zeit wurde mein eigener Lehrer Nasr Hamid Abu Zaid in Kairo der Ketzerei angeklagt, von seinem Lehrstuhl vertrieben und sogar zwangsgeschieden, weil er die Koranwissenschaft als eine Literaturwissenschaft begriff. Das heißt, ein Zugang zum Koran, der selbstverständlich war und für den Nasr Abu Zaid die bedeutendsten Gelehrten der klassischen islamischen Theologie heranziehen konnte, wird heute nicht einmal mehr als denkmöglich anerkannt.

Ein solcher Zugang zum Koran, obwohl er der traditionelle ist, wird verfolgt und bestraft und verketzert. Dabei ist der Koran ein Text, der sich nicht etwa nur reimt, sondern in verstörenden, vieldeutigen, geheimnisvollen Bildern spricht, er ist auch kein Buch, sondern eine Rezitation, die Partitur eines Gesangs, der seine arabischen Hörer durch seine Rhythmik, Lautmalerei und Melodik bewegt. Die islamische Theologie hat die ästhetischen Eigenheiten des Korans nicht nur berücksichtigt, sie hat die Schönheit der Sprache zum Beglaubigungswunder des Islams erklärt.

Was aber geschieht, wenn man die sprachliche Struktur eines Textes missachtet, sie nicht einmal mehr angemessen versteht oder auch nur zur Kenntnis nimmt – das lässt sich heute überall in der islamischen Welt beobachten. Der Koran sinkt herab zu einem Vademecum, das man mit der Suchmaschine nach diesem oder jenem Schlagwort abfragt.

Die Sprachgewalt des Korans wird zum politischen Dynamit. Oft ist zu lesen, dass der Islam durch das Feuer der Aufklärung gehen oder die Moderne sich gegen die Tradition durchsetzen müsse. Aber das ist vielleicht etwas zu einfach gedacht, wenn die Vergangenheit des Islams so viel aufklärerischer war und das traditionelle Schrifttum bisweilen moderner anmutet als der theologische Gegenwartsdiskurs.

 

Der Fluch der Moderne

Goethe und Proust, Lessing und Joyce haben schließlich nicht unter geistiger Umnachtung gelitten, dass sie fasziniert waren von der islamischen Kultur. Sie haben in den Büchern und Monumenten etwas gesehen, was wir, die wir oft genug brutal mit der Gegenwart des Islams konfrontiert sind, nicht mehr so leicht wahrnehmen. Vielleicht ist das Problem des Islams weniger die Tradition als vielmehr der fast schon vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie.

Alle Völker des Orients haben durch den Kolonialismus und durch laizistische Diktaturen eine brutale, von oben verordnete Modernisierung erlebt. Das Kopftuch, um es an einem Beispiel zu illustrieren, das Kopftuch haben die iranischen Frauen nicht allmählich abgelegt – Soldaten schwärmten auf Anordnung des Schahs 1936 in den Straßen aus, um es ihnen mit Gewalt vom Kopf zu reißen. Anders als in Europa, wo die Moderne bei allen Rückschlägen und Verbrechen doch als ein Prozess der Emanzipation erlebt werden konnte und sich über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte vollzog, war sie im Nahen Osten wesentlich eine Gewalterfahrung.

 

Die Moderne wurde nicht mit Freiheit, sondern mit Ausbeutung und Despotie assoziiert. Stellen Sie sich einen italienischen Präsidenten vor, der mit dem Auto in den Petersdom fährt, mit seinen schmutzigen Stiefeln auf den Altar springt und dem Papst seine Peitsche ins Gesicht schlägt – dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, was es bedeutete, als Reza Schah 1928 mit seinen Reitstiefeln durch den Heiligen Schrein von Ghom marschierte und auf die Bitte des Imams, wie jeder Gläubige die Schuhe auszuziehen, dem Imam mit der Peitsche ins Gesicht schlug. Und Sie fänden vergleichbare Vorgänge und Schlüsselmomente in vielen anderen Ländern des Nahen Ostens, die sich nicht langsam von der Vergangenheit lösten, sondern diese Vergangenheit zertrümmerten und aus dem Gedächtnis zu radieren versuchten.

Man hätte annehmen können, dass wenigstens die religiösen Fundamentalisten, die nach dem Scheitern des Nationalismus überall in der islamischen Welt an Einfluss gewannen, die eigene Kultur wertschätzen. Indes taten sie das Gegenteil: Indem sie zu einem vermeintlichen Uranfang zurückkehren wollten, vernachlässigten sie die Tradition nicht bloß, sondern bekämpften sie dezidiert.

Wir wundern uns nur deshalb über den Bildersturm des „Islamischen Staates“, weil wir nicht mitbekommen haben, dass in Saudi-Arabien praktisch überhaupt keine Altertümer mehr stehen.

Illustration: islamische Gebäude in einem Halbmond
Die Moderne wurde nicht mit Freiheit, sondern mit Ausbeutung und Despotie assoziiert, Foto: Mohamed Hassan via pixabay

In Mekka haben die Wahhabiten die Gräber und Moscheen der engsten Prophetenangehörigen, ja selbst das Geburtshaus des Propheten zerstört. Die historische Moschee des Propheten in Medina wurde durch einen gigantischen Neubau ersetzt, und wo bis vor wenigen Jahren noch das Haus stand, in dem Mohammed mit seiner Frau Khadija wohnte, steht heute ein öffentliches Klo.

 

Islamische Mystik

Außer mit dem Koran beschäftigte ich mich während des Studiums hauptsächlich mit der islamischen Mystik, dem Sufismus. Mystik, das klingt nach etwas Randseitigem, nach Esoterik, nach einer Art Untergrundkultur. Nichts könnte mit Bezug auf den Islam falscher sein.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein war der Sufismus fast überall in der islamischen Welt die Grundlage der Volksfrömmigkeit. Im asiatischen Islam ist er es bis heute. Zugleich war die islamische Hochkultur, insbesondere die Dichtung, die bildende Kunst und die Architektur, durchdrungen vom Geist der Mystik. Als die geläufigste Form der Religiosität bildete der Sufismus das ethische und ästhetische Gegengewicht zur Orthodoxie der Rechtsgelehrten. Indem er an Gott vor allem die Barmherzigkeit hervorhob, im Koran hinter jeden Buchstaben sah, in der Religion stets die Schönheit suchte, die Wahrheit auch in anderen Glaubensformen erkannte und ausdrücklich vom Christentum das Gebot der Feindesliebe übernahm, durchdrang der Sufismus die islamischen Gesellschaften mit Werten, Geschichten und Klängen, die aus einer Buchstabenfrömmigkeit allein nicht abzuleiten gewesen wären.

Der Sufismus als der gelebte Islam setzte den Gesetzesislam nicht etwa außer Kraft, aber er ergänzte ihn, machte ihn im Alltag weicher, ambivalenter, durchlässiger, toleranter und durch die Musik, den Tanz, die Poesie vor allem auch sinnlich erlebbar. Kaum etwas davon ist übrig geblieben. Wo immer die Islamisten Fuß fassten, angefangen schon im 19. Jahrhundert im heutigen Saudi-Arabien bis zuletzt in Mali, machten sie zuerst den sufischen Festen ein Ende, verboten die mystischen Schriften, zerstörten die Gräber der Heiligen, schnitten den sufischen Führern die langen Haare ab oder töteten sie gleich. Aber nicht nur die Islamisten. Auch den Reformern und religiösen Aufklärern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts galten die Traditionen und Sitten des Volksislams als rückständig und veraltet.

Die zerstörten, missachteten, vermüllten Altstädte mit ihren ruinierten Baudenkmälern überall in der islamischen Welt stellen den Verfall des islamischen Geistes ebenso sinnbildlich dar wie die größte Shopping-Mall der Welt, die in Mekka direkt neben der Kaaba gebaut wurde.

Nicht etwa sie haben das sufische Schrifttum ernst genommen, sondern es waren westliche Gelehrte, Orientalisten wie die Friedenspreisträgerin von 1995, Annemarie Schimmel, die die Handschriften ediert und damit vor der Vernichtung bewahrt haben. Und selbst heute noch beschäftigen sich nur sehr wenige muslimische Intellektuelle mit dem Reichtum, der in ihrer eigenen Tradition liegt. Die zerstörten, missachteten, vermüllten Altstädte mit ihren ruinierten Baudenkmälern überall in der islamischen Welt stellen den Verfall des islamischen Geistes ebenso sinnbildlich dar wie die größte Shopping-Mall der Welt, die in Mekka direkt neben der Kaaba gebaut wurde. Das muss man sich vor Augen halten, das kann man auf Bildern auch sehen: Das eigentliche Heiligtum des Islams, dieses so schlichte und herrliche Bauwerk, in dem der Prophet selbst betete, wird buchstäblich von Gucci und Apple überragt. Vielleicht hätten wir weniger auf den Islam unserer Großdenker als auf den Islam unserer Großmütter hören sollen.

Sicher, in manchen Ländern hat man begonnen, Häuser und Moscheen zu restaurieren, allerdings mussten erst westliche Kunsthistoriker oder auch verwestlichte Muslime wie ich kommen, die den Wert der Tradition erkannten. Und leider kamen wir ein Jahrhundert zu spät, als die Gebäude bereits zerfallen, die Bautechniken vergessen und die Bücher aus dem Gedächtnis radiert waren. Aber immerhin glaubten wir, Zeit zu haben, um die Dinge gründlich zu studieren.

 

Wo ist die islamische Kultur?

Inzwischen komme ich mir als Leser fast schon wie ein Archäologe in einem Kriegsgebiet vor, der eilig und keineswegs immer durchdacht die Relikte aufsammelt, auf dass spätere Generationen sie wenigstens noch museal betrachten können. Wohl bringen muslimische Länder immer noch überragende Werke hervor, wie sich auf Biennalen, Filmfestivals und ebenso auf der Buchmesse zeigt. Aber mit dem Islam hat diese Kultur kaum noch etwas zu tun.

 

Illustration: Muslimischer Mann und muslimische Frau beten vor Sonnenuntergang.
Innerhalb der islamischen Orthodoxie formiert sich ein Widerstand gegen die Gewalt im Namen der Religion, Foto: Mohamed Hassan via pixabay

 

 

Es gibt keine islamische Kultur mehr, jedenfalls keine von Rang. Was uns jetzt um die Ohren und auf die Köpfe fliegt, sind die Trümmer einer gewaltigen geistigen Implosion.

 

Es gibt keine islamische Kultur mehr, jedenfalls keine von Rang. Was uns jetzt um die Ohren und auf die Köpfe fliegt, sind die Trümmer einer gewaltigen geistigen Implosion. Der Schock, den die Nachrichten und Bilder des „Islamischen Staats“ erzeugt haben, ist gewaltig, und er hat Gegenkräfte freigesetzt. Endlich formiert sich auch innerhalb der islamischen Orthodoxie ein Widerstand gegen die Gewalt im Namen der Religion. Und schon seit einigen Jahren sehen wir, vielleicht weniger im arabischen Kernland des Islams als vielmehr an den Peripherien, in Asien, in Südafrika, in Iran, der Türkei und nicht zuletzt unter den Muslimen im Westen, wie sich ein neues religiöses Denken entwickelt.

 

Die europäische Utopie

Auch Europa hat sich nach den beiden Weltkriegen neu geschaffen. Und vielleicht sollte ich angesichts der Leichtfertigkeit, der Geringschätzung und offenen Missachtung, die nicht nur unsere Politiker, nein, die wir als Gesellschaft seit einigen Jahren dem europäischen Projekt der Einigung entgegenbringen, dem politisch Wertvollsten, was dieser Kontinent je hervorgebracht hat – vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, wie oft ich bei meinen Reisen auf Europa angesprochen werde: als Modell, ja beinah schon als Utopie.

Wer vergessen hat, warum es Europa braucht, muss in die ausgemergelten, erschöpften, verängstigten Gesichter der Flüchtlinge blicken, die alles hinter sich gelassen, alles aufgegeben, ihr Leben riskiert haben für die Verheißung, die Europa immer noch ist. Als Muslim ist es nicht an mir, den Christen in der Welt vorzuwerfen, sich – wenn schon nicht um das syrische oder irakische Volk – nicht einmal um ihre eigenen Glaubensgeschwister zu bekümmern. Und doch ist es, was auch ich oft denke, wenn ich das Desinteresse unserer Öffentlichkeit an der schon endzeitlich anmutenden Katastrophe in jenem Osten erlebe, den wir uns durch Stacheldrahtzäune, Kriegsschiffe, Feindbilder und geistige Sichtblenden fernzuhalten versuchen.

Eine Organisation wie der „Islamische Staat“ ist für die Weltgemeinschaft nicht unbesiegbar – sie darf es nicht sein.

Nur drei Flugstunden von Frankfurt entfernt werden ganze Volksgruppen ausgerottet oder vertrieben, Mädchen versklavt, viele der wichtigsten Kulturdenkmäler der Menschheit in die Luft gesprengt, gehen Kulturen und mit den Kulturen auch eine uralte ethnische, religiöse und sprachliche Vielfalt unter, die sich anders als in Europa noch bis ins 21. Jahrhundert einigermaßen bewahrt hatte – aber wir versammeln uns und stehen erst auf, wenn eine der Bomben dieses Krieges uns selbst trifft wie bei den Terrorattacken in Paris, oder wenn die Menschen, die vor diesem Krieg fliehen, an unsere Tore klopfen.

Es ist gut, dass unsere Gesellschaften, anders als nach dem 11. September 2001, dem Terror unsere Freiheit entgegengehalten haben. Es ist beglückend zu sehen, wie viele Menschen in Europa und besonders auch in Deutschland sich für Flüchtlinge einsetzen. Aber dieser Protest und diese Solidarität, sie bleiben noch zu oft unpolitisch. Wir führen keine breite gesellschaftliche Debatte über die Ursachen des Terrors und der Fluchtbewegung und inwiefern unsere eigene Politik vielleicht sogar die Katastrophe befördert, die sich vor unseren Grenzen abspielt. Wir fragen nicht, warum unser engster Partner im Nahen Osten ausgerechnet Saudi-Arabien ist. Wir lernen nicht aus unseren Fehlern, wenn wir einem Diktator wie General Sissi den roten Teppich ausrollen. Oder wir lernen die falschen Lektionen, wenn wir aus den desaströsen Kriegen im Irak oder in Libyen den Schluss ziehen, uns auch bei Völkermord besser herauszuhalten.

Nichts ist uns eingefallen, um den Mord zu verhindern, den das syrische Regime seit vielen Jahren am eigenen Volk verübt. Eine Organisation wie der „Islamische Staat“ ist für die Weltgemeinschaft nicht unbesiegbar – sie darf es nicht sein. Es gehört zur propagandistischen Logik des „Islamischen Staates“, dass er mit seinen Bildern eine immer höhere Stufe des Horrors zündet, um in unser Bewusstsein zu dringen.

Als wir uns nicht mehr über einzelne christliche Geiseln erregten, die den Rosenkranz beten, bevor sie geköpft werden, fing der IS an, ganze Gruppen von Christen zu enthaupten. Als wir die Enthauptungen von unseren Bildschirmen verbannten, fackelte der IS die Bilder aus dem Nationalmuseum von Mossul ab. Als wir uns an zertrümmerte Statuen gewöhnt hatten, begann der IS, ganze Ruinenstädte wie Nimrod und Ninive zu planieren. Als wir uns nicht mehr mit der Vertreibung der Yeziden beschäftigten, rüttelten uns kurz die Nachrichten von Massenvergewaltigungen wach. Als wir glaubten, der Schrecken beschränke sich auf den Irak und Syrien, erreichten uns die Snuffvideos aus Libyen und Ägypten. Als wir uns an die Enthauptungen und die Kreuzigungen gewöhnt hatten, wurden die Opfer erst enthauptet und dann gekreuzigt, wie in Libyen. Palmyra wurde nicht auf einmal, vielmehr Bauwerk um Bauwerk gesprengt, im Abstand von Wochen, um jedes Mal eine neue Nachricht zu produzieren.

Das wird nicht aufhören. Der IS wird den Horror so lange steigern, bis wir in unserem europäischen Alltag sehen, hören und fühlen, dass dieser Horror nicht von selbst aufhören wird.

 

Den Krieg beenden 

Ich rufe nicht zum Krieg auf. Ich weise lediglich darauf hin, dass es einen Krieg gibt – und dass auch wir, als seine nächsten Nachbarn, uns dazu verhalten müssen, womöglich militärisch, ja, aber vor allem sehr viel entschlossener als bisher diplomatisch und ebenso zivilgesellschaftlich. Denn dieser Krieg kann nicht mehr allein in Syrien und im Irak beendet werden.

 

Er kann nur von den Mächten beendet werden, die hinter den befeindeten Armeen und Milizen stehen, Iran, die Türkei, die Golfstaaten, Russland und auch der Westen. Und erst wenn unsere Gesellschaften den Irrsinn nicht länger akzeptieren, werden sich auch die Regierungen bewegen.

Wahrscheinlich werden wir Fehler machen, was immer wir jetzt noch tun. Aber den größten Fehler begehen wir, wenn wir weiterhin nichts oder so wenig gegen das Morden vor unserer europäischen Haustür tun, dem des „Islamischen Staates“ und dem des Assad-Regimes. In diesen Tagen leben wir den Dialog als ein gemeinschaftliches, gemeinsames Leiden. Wir sind traurig in dieser ungerechten Welt, die einen Teil der Verantwortung für die Opfer des Krieges trägt, dieser Welt des Dollars und des Euros, die nur nach ihren eigenen Völkern, ihrem eigenen Wohlstand, ihrer eigenen Sicherheit sieht, während der Rest der Welt an Hunger, an Krankheiten und am Krieg stirbt. Es scheint, dass ihr einziges Ziel ist, Gegenden zu finden, wo sie Kriege führen und den Handel mit Waffen, mit Flugzeugen noch steigern können.

Illustration: Die Erdkugel wird mit Kreuzstich zusammengenäht.
Europa muss sich entschlossen gegen den Krieg stellen, Foto: CDD200 via pixabay
Über den Autor
Navid Kermani am seinem Schreibtisch
Navid Kermani
Schriftsteller

Der Orientalist Navid Kermani lebt als freier Schriftsteller in Köln. Er war Long Term Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Deutschen Islamkonferenz. Für seine Romane, Essays und Reportagen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zuletzt erschien der Roman „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott“ (Hanser, 2022).
Bücher

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Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.