Grafik: Mehrere Länderflaggen auf denen jeweils eine kleine schwarze Figur steht, sind über Linien verbunden.

Mehr Kultur in der globalen Politik

Europa sollte weltweit mehr in Kulturbeziehungen investieren, um andere an seiner Erfahrung mit friedlicher Koexistenz, intellektueller Freiheit, kulturellem und mehrsprachigem Dialog sowie der Praxis der Vertrauensbildung in der EU teilhaben zu lassen. All dies sind Rezepte, um mit Konflikten umzugehen, vor allem aber, um sie zu verhindern.

Die Debatte über die kulturellen Komponenten der Außenbeziehungen der EU weitet sich aus. Während die Relevanz der Kulturbeziehungen für die Diplomatie der EU noch vor weniger als einem Jahrzehnt angezweifelt wurde, gilt sie heute als nahezu selbstverständlich. Diplomaten erkennen nun, dass Europa über das „Nation Branding“ hinaus eine solide Kulturdiplomatie entwickeln muss, als Block in einer zunehmend multipolaren, wenn nicht sogar interpolaren Welt. Das Militär, das in Afghanistan, Pakistan, im Libanon und in Afrika auf dramatische Weise exponiert ist, muss im Krisenmanagement den Wert von Ansätzen erkennen, die kulturelle Empfindlichkeiten berücksichtigen. Die internationale Entwicklungshilfe, die sich in einer existenziellen Krise befindet, sucht in der Zusammenarbeit nach alternativen Herangehensweisen. Nationale Kulturdiplomatie läuft Gefahr, in einer globalisierten Welt verwässert zu werden, in der transnationale Gemeinschaften inzwischen gelernt haben, eigene multikulturelle Initiativen zu entwickeln.

Netzwerke, die verstanden haben, dass ihre Ideale von Gleichberechtigung, einer gemeinsamen Menschlichkeit und Phantasie durch die Kultur möglicherweise zu mehrdimensionalen und mehrsprachigen Dialogen und Gesprächen führen können, erkennen endlich an, dass Kulturbeziehungen dazu geeignet sind, eine zentrale Rolle zu spielen.

Nichtregierungsorganisationen, supranationale Organisationen, Kulturinstitute und das Europäische Parlament haben realisiert, dass Kultur wichtig ist, und sie fordern mehr Kultur in der globalen Politik.

Endlich haben sich einige Entscheidungsträger, Politiker und Geldgeber davon überzeugt, dass Kulturbeziehungen im Interesse aller Europäer fundierte, intelligente und ehrgeizige politische Strategien auf der ganzen Welt erfordern. Die Gestaltung von Politik ist eine gefährliche Übung, ein zweischneidiges Schwert: Zu viel Strategie, zu viele Konzepte und zu viel Bürokratie verhindern die Handlung.

Eine junge Frau betrachtet ein pro-ukrainisches Wandbild, das einen Stacheldrahtzaun und eine Friedenstaube zweigt.
Kulturbeziehungen und soziale Beziehungen sind ein Garten, um den man sich kümmern, den man pflegen und bewässern muss, Foto: Artur Widak / NurPhoto via picture alliance

Künstler, Kuratoren, Kulturaktivisten, Journalisten und Computerfreaks haben nicht auf die Staaten und die EU gewartet, um das zu tun, was andere ihnen nun predigen wollen: Kultur für alle und jeden zu machen und auf allen Ebenen der Globalisierung. Sie wissen, was sie brauchen, um ihre Projekte zu entwickeln und ihre Ideen zu verwirklichen: Hören wir zuerst einmal ihnen zu.

Gewaltprävention ist eine von vielen Maßnahmen, die die EU bei ihrem auswärtigen Handeln einsetzt. Die Prävention ist ein Beispiel für einen Bereich, in dem viel unternommen werden kann. Prävention umfasst eine breite Palette von Aktionen entlang eines wohlbekannten Kreislaufs – von der Krisenprävention, dem Krisenmanagement, dem Wiederaufbau nach einem Konflikt und der Friedensbildung bis hin zur friedlichen Koexistenz. Kulturbeziehungen als Instrument der Prävention möchte ich folgendermaßen definieren:

Sie versuchen Metaphern für Konflikte zu bilden, zu teilen und darzustellen. Das bedeutet, Dinge bis zu einem gewissen Grad in Frage zu stellen, die Identifizierung von Spannungen und Gewalt, die verhindert werden soll, ein Bemühen um Umformulierung, Übersetzung und Austausch, um ein Ergebnis zu erzielen, das eine Art kulturelle Produktion darstellt, die charakterisiert ist durch ihre ästhetische Kraft und ihre vielschichtige Bedeutung. Sie muss nicht zwingend mit der Kunst verbunden sein, um ästhetisch stark zu wirken: Eine Sprache zu lernen oder sich bestimmte Fähigkeiten anzueignen, hat seine eigene Schönheit.

Frühe Warnung, frühe Aktion

Frühwarnung in kultureller Hinsicht bedeutet, Konflikt und Gewalt zu inszenieren, bevor sich diese in der Realität entladen. Das kann viele verschiedene Formen annehmen. Das Konzept schnell reagierender kultureller Einsatzgruppen, wie es von dem Musiker Ferdinand Richard vorgeschlagen wurde, basierend auf seinen Arbeitserfahrungen in Marseille mit jungen Hip-Hop-Profis, könnte dazu anregen, früh warnende und reagierende europäische Kultur-Teams zu bilden – nach dem Vorbild bereits bestehender CRT (Crisis Response Teams, Krisenreaktionsteams).

Der Einsatz von Kulturspezialisten in konfliktanfälligen Gebieten, um den Bedarf nach kultureller Prävention einzuschätzen, könnte ein Schritt nach vorne sein. Dabei könnte es sich zunächst um Pilotprojekte handeln, die in urbanen Umfeldern entwickelt werden, in denen vorausblickende Studien gezeigt haben, dass sich dort in Zukunft soziale und politische sowie umwelt- und sicherheitsbezogene Spannungen konzentrieren werden.

Kultur ist keine Gerechtigkeit, aber erhebt dafür ihre Stimme und zeigt neue Möglichkeiten für die Zukunft auf.

Risiken von Gewalt und Krisen frühzeitig zu erkennen, ist ein Beruf, den man Frühwarnung nennt. Wer in der Gesellschaft spürt besser als Künstler und Kulturarbeiter, wenn Dinge falsch laufen? Wer stellt die Verbindungen zwischen kultureller Produktion und sozialen Notfällen her? Und wer ist besser in der Lage, mit den sie umgebenden Situationen umzugehen als jene, die eine Sensibilität für vielschichtige Identitäten, Fehlwahrnehmungen, Missverständnisse und multikulturelle Spannungen haben? Eines der jüngsten Beispiele für kulturelle Gewaltprävention in Europa ist die im Rahmen des Transeuropa Festivals 2011 durchgeführte Aktion „Kunst als LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual und Trans)-Aktivismus: von Großbritannien bis Belarus“, das Performance-Kampagnen für eine Sichtbarkeit von Lesben und Schwulen quer durch Europa untersuchte und die auf den Nägeln brennenden Themen homophober Gewalt in Belgrad, Zagreb und Minsk aufzeigte.

Wenn Dinge gut laufen, dann berichten die Medien dies nicht. Sie erkennen auch nicht an, dass einige Menschen daran arbeiten, dass Dinge gut laufen. Kulturbeziehungen und soziale Beziehungen sind ein Garten, um den man sich kümmern, den man pflegen und bewässern muss. Kulturbeziehungen sind das Mittel, das uns hilft, zusammenzuleben, trotz harter wirtschaftlicher Bedingungen. Sobald man diese unterbricht, beginnen sich die Beziehungen aufzulösen. Wenn man Symbole kaputtmacht, baut sich Hass auf. Die Rolle einer Fernsehserie zum Beispiel, die das friedliche Zusammenleben von Gemeinschaften darstellte und in Mazedonien und Sierra Leone von der NGO Search for Common Ground entwickelt wurde, veranschaulicht in diesem Sinne sehr gut, wie man über traditionelle Medien Präventionsarbeit leisten kann. Andere Beispiele gibt es überall auf dem Planeten, etwa in Sri Lanka, wo man mithilfe des Theaters die Gewalt zwischen Gemeinschaften thematisiert hat.

Wer in der Gesellschaft spürt besser als Künstler und Kulturarbeiter, wenn Dinge falsch laufen?

Kultur ist die Hoffnung, die wie Blumen und Bäume auf der Spitze von Ruinen aus gepflanztem Samen wieder wachsen kann. Regengüsse und Sauerstoff genügen, um frische und fruchtbare menschliche Ökosysteme wiederzubeleben, und so kann Kultur in zerstörten Psychen und Gemeinschaften wieder Hoffnung aufkeimen lassen, über Albträume, Kummer und Rache hinaushelfen. Sie ist keine Gerechtigkeit, aber erhebt dafür ihre Stimme und zeigt neue Möglichkeiten für die Zukunft auf.

Eine lohnende Investition

Kultureller Aktivismus in Umfeldern, in denen es einen Konflikt gegeben hat, ist eine lohnende Investition: Er reicht von Clown-Auftritten des Militärs nach einem Kampf (wie sie die brasilianischen Truppen 2007 im Elendsviertel Cité Soleil auf Haiti vollführt haben) über die Neubelebung kultureller Infrastrukturen nach einem Konflikt bis hin zum Start wiederbelebter Kulturinitiativen, die in Zeiten von Konflikten gestoppt werden mussten. Andere Initiativen, die mit Übergangsgerechtigkeit und Schlichtung zu tun haben, können ebenfalls starke kulturelle Komponenten beinhalten, wie etwa die Gacaca-Gerichte in Ruanda zur Aufarbeitung des Völkermords.

Und wenn man aufgehört hat, an die bereits veralteten Ambitionen der Vergangenheit zu glauben, ist es Zeit für neue Generationen und für diejenigen Künstler, die Kinder geblieben sind, ihr Erbe jenseits der ihnen allzu bekannten Horizonte neu zu erfinden. 

Ein Clown von "Clowns ohne Grenzen" tritt am Freitag, 8. August 2008, für Kinder in Cite-Soleil in Port-au-Prince auf.
Es ist an der Zeit, dass die Kulturaktivitäten die Straßen erobern, Gesichter verändern, neue Lieder komponieren und neue Theaterstücke schreiben, Foto: Ramon Espinosa / ASSOCIATED PRESS via picture alliance

Wenn Europa unter seinem politischen Abstieg leidet, wenn diejenigen, die unsere Demokratien repräsentieren, nicht mehr für ein gemeinsames Europa kämpfen, dann ist es an der Zeit, dass die Kulturaktivitäten die Straßen erobern, Gesichter verändern, neue Lieder komponieren und neue Theaterstücke schreiben.

Wie kann man eine friedliche Koexistenz sichern, ohne zum Imperium zu werden oder in die nationalistischen 1930er Jahre zurückzufallen? Die europäische Renaissance ist ein Szenario, dessen Ansätze schon in Blogs, Partituren und transeuropäischen Filmen beschrieben werden, lang und kurz. Sie ist ein frischer und duftender Schaum auf neuen Wellen, die – angetrieben durch die Bewegungen einer neuen Europa, die ihren mythologischen Stier reitet – die gastfreundlichen Küsten von Asien, Afrika und Amerika belecken werden.

Filme von Fatih Akin (wie „Gegen die Wand“) sind Metaphern des aktuellen Deutschlands und der Türkei, wo Sprache, Migration und das zeitgenössische mentale Nomadentum die Komplexität der europäischen Kultur verkörpern und wie Individuen mit ihr experimentieren. Sie verbinden Menschen mit unseren Gesellschaften und mit den kollektiven Sorgen, die wir uns um den Frieden machen.

Räume für Kulturbeziehungen zu schaffen, sollte jedoch auch kein Selbstzweck sein, wenn dieser Schritt nicht unterstützt wird von einem starken kollektiven Konsens über Methoden und Werte. Diesen Konsens müssen die Europäer untereinander durch gründliche Debatten über kontroverse Themen finden.

 

Präventive Kraft oder Werkzeug der Hegemonie?

Ein Dilemma betrifft das Verhältnis zwischen Kulturbeziehungen und der Anwendung von Gewalt: Ist das Militär dazu legitimiert, Kulturarbeit durchzuführen oder überhaupt mit präventiven Kulturinitiativen in Verbindung gebracht zu werden? Existiert nicht ein Widerspruch an sich zwischen „dem Militär“ und „kultureller Prävention“? Oder sollten wir über die Modalitäten nachdenken, wie eine Rolle des Militärs im Bereich der Kulturbeziehungen zu akzeptieren wäre?

Das zweite Thema, über das die Europäer debattieren müssen, ist die Verbindung zwischen Kulturbeziehungen und internationaler politischer Vorherrschaft. In anderen Worten: Unter welchen Bedingungen ist europäische Soft Power eher eine präventive Kraft als ein Werkzeug der Hegemonie, des Neo-Kolonialismus oder des Neo-Imperialismus? Können Hegemonen vorgeben, dass ihre Kulturdiplomatie auf dem Prinzip einer gleichberechtigten Partnerschaft beruht?

Die dritte Herausforderung für Europas auswärtige kulturelle Präventionsmaßnahmen besteht darin, Kulturbeziehungen mit Klassenunterschieden in Einklang zu bringen. Dieses Dilemma ist nicht neu in der Kulturpolitik, besteht aber auch in Bezug auf die Kulturdiplomatie: Sind Kulturbeziehungen den Eliten vorbehalten? Wie sollten Kulturbeziehungen mit sozialen Ungleichheiten und Klassenkämpfen umgehen?

Letztendlich, und das bezieht sich auf das vorher Gesagte, muss über die Übereinstimmung mit bestimmten Werten, die mit dem Schutz der Menschenrechte zusammenhängen, diskutiert werden, und diese Werte müssen vor jeder neuen Initiative festgelegt werden. Kulturbeziehungen können es sich nicht leisten, mit Menschenrechtsverletzungen behaftet zu sein, und Kompromisse sind nicht akzeptabel. Aber in welchem Ausmaß ist dies wirklich in allen Kontexten möglich, wenn Grenzen zwischen Effektivität, Interessen und Werten verschwimmen und wenn Kultur als zeitlich begrenztes und standardisiertes Werkzeug für die Mediation benutzt wird, um (rechtmäßigen) Wandel zu fördern?

Kultur kann in zerstörten Psychen und Gemeinschaften wieder Hoffnung aufkeimen lassen, über Albträume, Kummer und Rache hinaus helfen.

Es besteht kein Zweifel: Europäer müssen weltweit mehr in Kulturbeziehungen investieren, um aus ihrer bestehenden Erfahrung der friedlichen Koexistenz, aus künstlerischen Inspirationsquellen für Regierungsinitiativen, aus kulturellem und mehrsprachigem Dialog, aus der Praxis der Vertrauensbildung sowie aus intellektueller Freiheit als Multiplikator utopischer Projekte einen Nutzen zu ziehen. Das ist ein Rezept, um mit Konflikten umzugehen, vor allem aber, diese zu verhindern. Der Bericht mit Empfehlungen des Europäischen Parlaments von 2011 über die kulturellen Komponenten der außenpolitischen Maßnahmen der EU hat das meiste, das in Bezug auf die Politik getan werden muss, nutzbar gemacht: intelligente, eifrige und gewissenhafte Hausaufgaben und Schreibtischarbeit, die unsere Institutionen gut erledigen können. Es ist Zeit zu handeln und diese Empfehlungen in die Tat umzusetzen, in gut abgestimmter Koordination mit den Institutionen und Organisationen für Kulturbeziehungen in aller Welt, die Europa bereits repräsentieren, denen es aber immer noch an Unterstützung durch jene fehlt, die – demokratische – Macht und Geld haben.

Europa sollte nicht mehr ein Ziel per se sein, vorausgesetzt, wie Javier Solana einmal sagte, dass dem „Geist“ der Verträge voll und ganz entsprochen wird. Unser Ziel ist gewissermaßen mit den letzten Verträgen und der Schaffung der Union erreicht worden. Es ist nun an der Zeit, dass Europa kreativer wird in der Art, wie es sich ausdrückt. Der Tempel ist errichtet worden. Er braucht nun einige Vorstellungen und Zeremonien. Er braucht seine eigene Metapher. Er braucht seine eigene Mythologie, seine eigenen Opfer, seine eigenen Symbole.

Diese frei betretbaren europäischen Tempel über den Globus zu verteilen, indem man Räume für Kulturbeziehungen schafft und unterstützt (wie Museen, Theater, Häuser der Kreativität, in denen sich Kulturbeziehungen entwickeln können), wird die Grundlage dafür sein, dass sich Räume kultureller Prävention etablieren können.

Über den Autor
Damien Helly
Unabhängiger Kulturberater

Damien Helly ist unabhängiger Kulturberater und Leiter seines  Beratungsunternehmens dh creative partnerships. Er ist außerdem Mitgründer und Vorstand von culture Solutions, eine unabhängige Gruppe für soziale Innovation, die zum Ziel hat, die internationalen Kulturbeziehungen der EU zu stärken. 

Zuvor war er Gastprofessor am Fachbereich Internationale Beziehungen und Diplomatie am Europakolleg in Brügge und arbeitete als Head of Cultural Skills, EU für den British Council sowie als Senior Programm Manager bei ECDPM (European Centre for Development Policy Management) und EUISS (European Union Institute for Strategic Studies). Vor seiner Zeit bei EUISS war er Leiter des Büros der NGO International Crisis Group in Port-au-Prince, Haiti. 2005-2006 eröffnete und leitete Helly eine EU-Dependance der britischen NGO Saferworld in Brüssel.

Er beschäftigt sich mit Subsahara Afrika, den europäisch-afrikanischen Beziehungen und der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (CSDP). Forschungsschwerpunkte sind Konfliktprävention und Krisenmanagement. 

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.