Illustration: Zwei Menschen laufen eine Brücke hoch. Die Stufen hinter ihnen sind grau, die Stufen vor ihnen sind in Regenbogen Farben.

Motor für Transformation

Kunst, Kultur, Kommunikation: die Corona-Pandemie hat den Sektor hart getroffen. Im Angesicht weiterer Herausforderungen ist die Bedeutung der Kulturpolitik deutlich geworden: sie ist ein Anker in anstehenden Transformationsprozessen.

Die Rolle der Kultur

Im Sammelband des Wiener Falter Verlags über den ungarisch-österreichischen Wirtschaftshistoriker und Sozialanthroposophen Karl Polanyi (1886 bis 1964) bringen die Autoren seinen Begriff der „Groß - en Transformation" in Stellung für heute und verraten einiges von ihrer und unserer Ratlosigkeit angesichts von Globalisierung, Digitalisierung, Neoliberalisierung und Klimawandel. Der Band erschien 2019, heute müsste man die Folgen der Pandemie dazuzählen und in unserem Kontext die Vertrauenskrise Europas.

Kultur taucht in der politischen Debatte immer wieder prominent auf, wenn etwa von einem integrierten Lösungsansatz und von „kultureller politischer Ökonomie“ die Rede ist. Oder wenn der Präsident des WuppertalInstituts für Klima, Umwelt, Energie, Uwe Schneidewind, in seinem Buch „Die Große Transformation“ von „Nachhaltigkeit als kulturellem Projekt“ schreibt. Mir geht es hier darum, etwas zurück – und zugleich auch vorauszuschauen und mit einigem Abstand für einen bescheidenen Optimismus der Differenziertheit zu plädieren, sowohl was die Rolle Europas als auch jene der Kultur betrifft.

Vor 10 Jahren noch wurde landauf landab über das Fehlen eines gemeinsamen öffentlichen Raums vor allem in der Europa-Debatte geklagt. Das hat sich inhaltlich wie medial deutlich verändert, „dank“ Trump, dank „Wir schaffen das“, Covid und „Fridays for Future“, ins Hörbare verstärkt, manchmal dröhnend durch enorm erfolgreiche (marktförmige!) virtuelle Plattformen, manchmal auch penetrant populistisch.

Auch an der EU ist die Debatte keineswegs vorübergegangen, erst schwarzmalerisch, dann aber mehr und mehr über das übliche Schwarz-Weiß hinaus; zukunftsoffene Ambivalenz ist normaler geworden, Widersprüche in Legitimität und Handlungsmacht befördern nicht nur Skepsis bei den Bürgern, sondern auch einen neuen differenzierten Blick auf das, was eben gerade sein kann, und was nottut: Gewachsener Realismus und Veränderungswillen haben mit einem neuen breiten Verständnis von Komplexität zu tun; die unübersichtliche Weltlage und in ihrer Folge z.B. die Migrationskrisen, die neuen Mega-Erzählungen (Klima) ebenso wie die Fragilität unserer bisher unangefochtenen Marktgesellschaft sind für eine gewachsene Bereitschaft zum differenzierten Blick verantwortlich.

Vor allem aber scheint das Wiederentdecken des Unverfügbaren gleichsam am Abend einer Gesellschaft des Verfügbarkeitswahns, wie der deutsche Soziologe Hartmut de Rosa es nennt, paradoxerweise die Sinne für gemeinsames Handeln an nachhaltigen und fairen Lösungen – bevor es zu spät ist – geschärft zu haben.

Nicht dass die Sehnsucht nach einfachen Rezepturen und Wunderheilern ganz abgedankt hätte, die Enttäuschung sitzt tief, wie die Angst; aber den extremen Rändern wird in mehr und mehr Fällen das Vertrauen entzogen. Das gilt für Nationalstaaten; in Deutschland etwa hat der Wunsch nach Wandel gepaart mit einem Wunsch nach Kontinuität des angemessenen Ernstes zu einer sehr hohen Wahlbeteiligung und dem Auftrag zur Transformation geführt; in Italien oder auch in Österreich ist der Populismus offenbar auf dem Rückzug; es gilt aber auch für die Europäische Union; Klagen über Versagen oder spätes Handeln werden heute von vielen oft eher als Auftrag zum Stärkerwerden wahrgenommen.

Demographisch-politisches Neuland

Wir haben demographisch-politisches Neuland betreten. Die Jungen sind wieder da, gut informiert und aufgestellt und trotz objektiver Gründe für strukturelle Konflikte (Covid, Pensionen, Klima) bereit zu inter-generationellen Bündnissen. Sie tragen dazu bei, dass es wieder „Gesellschaft“ gibt, möchte man Frau Thatcher nachrufen. Zivil, frei und verantwortungsvoll, auch und gerade wegen der Feier des Individuums und der Gesellschaft der Singularitäten, von der der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz spricht; Politik und Respekt, Gerechtigkeit und Freiheit gehen, so scheint es, wieder zusammen, lokal, europäisch, kosmopolitisch, und begabt mit Wirklichkeitssinn.

Leerer Platz vor dem Louvre in Paris bei Nacht.
Viele Menschen haben während der Schließungen verstanden, dass Kunst wichtig ist, Foto: Edi Nugraha via pixabay

In den Corona-Lockdowns ist vielen, nicht nur den Jungen, die Lebensnotwendigkeit von Kunst, Kultur und Kommunikation nachhaltig bewusster geworden. Führende Stimmen auch in der Wissenschaft betonen die essenzielle Rolle der Kultur für alle anstehenden Transformationsprozesse. Eine Kultur der Transformation ist im Werden, mit ihren Rhizomen reicht sie dicht und tief in alle Bereiche hinein, auch in die Kultur im engeren Sinn, freie und institutionelle, soziokulturelle und klassische, und in den „Markt“, der schnell war im Erspüren von handlungsleitenden Trends und Lebensstiländerungen.

Gleichzeitig ist wahr, dass Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit, Prekariat und Mangel an Respekt wie immer schreiend Ungerechtigkeit anprangern; dabei werden verzerrte Stimmen und bedrohliche Stimmungen noch viel zu oft gefürchtet und ignoriert, anstatt nach Antworten gesucht.

Der Wandel ist vielfach auf den ersten Blick zu erkennen, manchmal auf den zweiten oder dritten, wenn man sich nicht von horrenden medialen Simplifikationen und Verallgemeinerungen dauerhaft blenden lässt. Gleichzeitig ist wahr, dass Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit, Prekariat und Mangel an Respekt wie immer schreiend Ungerechtigkeit anprangern; dabei werden verzerrte Stimmen und bedrohliche Stimmungen noch viel zu oft gefürchtet und ignoriert, anstatt nach Antworten gesucht.

Bis zu einem gewissen Grad gehört Nüchternheit zu der neuen Kultur der Differenziertheit. Weder gibt es Lösungen für alles und jedes, noch lässt sich der menschliche Faktor ideologisch subtrahieren. Aber die neue Skepsis gegenüber alten Ideologien kommt mit einer „brennenden Geduld“ daher (ein Buchtitel des chilenischen Schriftstellers Antonio Skármeta kommt einem hier in den Sinn), die politisch-institutionelles Handeln ebenso erwägt und verändert wie zivilgesellschaftliches und bündnisorientiertes. Wer Wahrheit sagt, muss heute nicht sofort erröten, solange Fragen und Reflektieren, Streiten und Suchen die Agora schaffen für Klima- und Ressourcen-Strategien, für natur- und menschenfreundliches Wirtschaften, Kreativität und faires Teilen, und für Menschenwürde. Werte haben einen neuen Stellenwert im Spiel des Bewahrens und Überwindens, in der Arena der Streitbarkeit und demokratischen Entschlossenheit.

Last des Scheiterns

In der Praxis allerdings muss sie schon jetzt viel aushalten, die neue Kultur der Transformation. Die Welt ist nicht nur komplexer und unübersichtlicher geworden, die Last vergangener Fehler, des Scheiterns im großen Stil kann erdrückend scheinen; Machtverhältnisse haben sich dramatisch verschoben, zwischen Staaten und Blöcken wie vom staatlichen Gewaltmonopol hin zu privaten Lords, und von der Politik in die Sphäre der Ökonomie; die Unterschiede zwischen den ganz großen Superreichen und Supermächtigen und den kleinen, öffentlichen wie privaten Akteuren waren noch nie so krass. Alle Versuche einer Global Governance sind wenig erfolgreich bzw. in taktischen und strategischen Kämpfen bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. Die Zeit wird knapp zum Point-of-no-return, ein schwer auszuhaltendes Erbe zum Antritt der neuen Generation.

Europa ist dabei erneut und kritisch Hoffnungsraum und nicht (nur) Teil des Problems.

Noch schwerer wiegt wohl die Kluft zwischen als richtig erkannten Inhalten und Zielen, und der Frage des Umsetzens. Alle primären Herausforderungen sind auf den mentalen Landkarten wie in den öffentlichen Logbüchern verzeichnet, wobei die Kultur der Nachhaltigkeit ganz oben steht, neben dem Zwillingsgipfel einer neuen Kultur des Wirtschaftens. Dieses massive Gebirge umspannt die ganze Welt, die Vernetzung ist total. Die Suche nach geeigneten globalen Instrumenten kann einschüchternd schwierig sein, die Unsicherheit demoralisierend.

Genau hier setzt die Kultur des Differenzierens und der lustvollen Transformation ein. Es macht null Sinn, es nicht zu versuchen, oder gar aufzugeben; es gibt nur eine Richtung: gemeinsam Systeme zu ändern, die Komplexität und die Paradoxien anzuerkennen, am Umbau zugunsten des common good zu arbeiten. Ohne Größenphantasien, ohne Kleinmut. Europa ist dabei erneut und kritisch Hoffnungsraum und nicht (nur) Teil des Problems.

Eine Zwischenbilanz kann derzeit nur Mut machen. Die Zeichen stehen auf Veränderung. Das Personal sind wir alle. Das setzt voraus, dass wir jede Menge Unsicherheit aushalten. Kunst und Kultur sind DIE genuinen Räume des ‚Aushaltens‘ – der Vielfalt an Gefühlen, der nicht nachlassenden schöpferischen Reflexion und des Gesprächs über Grenzen, des Experiments. Sie kann helfen, das Ende des Gemeinsinns, das der Moralphilosoph Michael J. Sandel konstatiert, in Freiheit zu widerlegen.

In einer freundlichen Zwischenbilanz kann man mit einem verwandten Pathos der Differenzierung auch im Kultursektor im engeren Sinn zu ermutigenden Schlussfolgerungen kommen. Wo beginnen?

Bei den Künstlern.

Künstler heute

Tag der Deutschen Einheit in Duisburg, vor dem neu erweiterten Museum Küppersmühle lange Schlangen im Regen, fassungslose Menschen vor den architektonischen Wundern, und ganz oben Anselm Kiefers Klingsors Garten, ein Raum der zerstörten Behausung des Menschen, Natur und Kultur am Abgrund. Igor Levits Hausmusik in der Pandemie und sein Engagement für Systemwan del; Oliver Resslers Projekt zum Permafrost; Jonathan Safran Foer und Jonathan Franzen setzen sich mit dem Klimawandel auseinander, Olafur Eliasson ließ vor der Tate Modern grönländische Eisblöcke schmelzen. Jérôme Bel reist nur mehr mit dem Zug. Pierre Huyghe interveniert. Hito Steyerl wagt sich ins Herz der Algorithmen. Der Fotograf Ashem Shakeri schafft „Bilder nicht von dieser Welt“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelte.

Gut gemachte Dokumentarfilme zu anstehenden Paradigmenwechseln haben großen Publikumserfolg. Die Reihe großer engagierter Kunst der Transformation ließe sich endlos fortschreiben, ebenso die der theoretischen Auseinandersetzung damit, etwa in der Kulturpolitischen Gesellschaft, aber auch Reflexion über die Omnipräsenz politischer Themen in der Populärkultur. Ob die US-amerikanische Singer-Songwriterin Billie Eilish, die Bands Coldplay oder U2: Immer mehr populäre Musiker setzen sich für Umweltschutz ein. Massive Attack, die Trip-Hop-Band aus Bristol, finanziert jetzt sogar eine Studie zum CO2-Verbrauch in der Musikbranche. „Kann das mehr sein als grüner Ablasshandel und Symbolpolitik?“, fragte jüngst ein Journal.

Jugendliche mit einem Plakat, auf dem "Fridays for Future" steht.
Der Umweltschutz betrifft nun die gesamte Gesellschaft, Foto: Geralt via pixabay

In den politisch-moralischen „Kampfzonen“ spielt sich seit einigen Jahren ein schwieriger und bewegender Prozess um Fragen der Identität und Menschenrechte ab, LGBTQ, Gender, Diversity und Race. Postcolonial Studies haben den Kontinent nahezu überall erreicht; Restitutionsdebatten und Diversity-Politics auch die Praxis der allermeisten Institutionen, zumal in Medienhäusern und Kultureinrichtungen, von den nationalen Flaggschiffen bis zu den Stadttheatern und soziokulturellen Zentren. Große Literatur macht den emotionalen Kern für breite Leserschichten nachlebbar. Chimamanda Ngozi Adichie, die Autorin des Welterfolgs „Americanah“, war mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Düsseldorfer Schauspielhaus über Feminismus zu hören.

Hier vollzieht sich aber auch eine Abspaltung. Von jenen, die sich von Prekarisierung bedroht fühlen, in dieser Debatte das Symbolische sehen, das an ihren eigenen realen Bedürfnissen und Sorgen vorbeigeht, eine Luxusdebatte um die Befindlichkeiten ohnehin Privilegierter.

Die Welt rückt kulturell zusammen, vor Ort und in den Netzen. Das hat Auswirkungen auf die Auslandskulturpolitik und Europäisierung. Vor einigen Jahren begann die Intensivierung europäischer Kooperation, etwa mit der Bewegung „More Europe“, mit großer Unterstützung von Goethe Brüssel, oder mit dem Netzwerk nationaler Kulturinstitute EUNIC, dessen Leiterin nun die Spitze des Instituts für Auslandsbeziehungen übernommen hat. Der Europäische Auswärtige Dienst hat diesen Prozess mittlerweile in seine Arbeit integriert und dazu Budgets und Instrumente geschaffen.

Städte sind in Europa Kraftfelder internationaler Kulturkooperation, und europäische Laboratorien, gerade als Orte der noch möglichen Erfahrbarkeit und Partizipation. Sie sind aber auch der Praxisraum, wo das ‚Innen‘ und das ‚Außen‘ einander berühren, die Kulturen der Zuwanderer und Geflüchteten, die der einheimischen Bürger und ihrer Geschichte sowie die Künstler aus aller Welt. Diese Interaktion erreicht in vielen Fällen paradigmatisch transformatives Niveau und Qualität des Miteinander, weit ausstrahlend in manchen Europäischen Kulturhauptstädten.

Die Auswirkungen der Pandemie

Kulturpolitik war, nachdem die Pandemie den Sektor insgesamt heftig getroffen hatte, viele davon ins Mark, mit großem kompensatorischem Handlungsbedarf konfrontiert. Gleichzeitig war die Bedeutung von Kunst und Kultur selten so existenziell erlebbar gewesen und von einer großen Mehrheit getragen. Das hat in vielen Kommunen, Regionen und Mitgliedsstaaten der EU zu außerordentlichen finanziellen und Flexibilitäts-Anstrengungen geführt, auch für die freien und immer vom Prekariat Betroffenen (etwa die „Fair Pay“- Kampagne in Österreich). Noch ist die Gefahr des Kahlschlags ebenso wenig gebannt wie ein Rückfall in alte Mechanismen oder ein neues Biedermeier. Anderseits hat die Diskussion um die Erschließung neuen Publikums und Partizipation neu eingesetzt, um das Spannungsverhältnis zwischen teuren sicheren Großinstitutionen und dem Rest, zwischen Qualität und Quantität, Kunst und gesellschaftlichem Leben, Nachhaltigkeit im Kultursektor, Digitalisierung und Diversität.

Die kulturelle Zivilgesellschaft hat für die Gesellschaft entscheidende Beiträge geliefert; als Beispiel seien hier ‚Die Vielen‘ genannt, ein starkes deutsches und internationales Netzwerk gegen Rechtsradikalismus und dessen Griff nach der Kultur. Immer deutlicher werden dabei Positionen der Solidarität über Grenzen; Kulturschaffende haben nach dem Flucht Jahr 2015 wesentlich zur Differenzierung und Empathie in der Diskussion und zum Zusammenleben in den konkreten Nachbarschaften beigetragen; sie beziehen Position, nicht nur in Umwelt-Fragen, agieren politisch in einem völlig neuen Sinn; das kritische und utopische Potential von Kunst und Kultur wird in Stellung gebracht, auch mit Blick auf Neo-Nationalismus und ein transnationales Europa.

Es gibt keine klare und vor allem keine gemeinsame Strategie der EU, was angesichts der außerordentlichen globalen Verschiebungen schockierend ist.

Diese knappe exemplarische Darstellung folgt der Grundthese, dass der außergewöhnlichen Situation, die nach einer Kultur der Transformation verlangt, ein Kultursektor gegenübersteht, der sich selbst soweit transformiert, dass er den gesellschaftlichen Herausforderungen und Erwartungen gerecht wird. Man mag das über Gebühr affirmativ nennen, man mag dem eine sperrige Faktenlage entgegenhalten, Defizite angesichts der Krisen anführen. Tatsache ist, dass viel politisches Bewusstsein unter Künstlern und Kulturschaffenden vorhanden ist und dass außergewöhnliche Anstrengungen gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern alternativlos sind. Diese Zwischenbilanz von Kunst und Politik geht von einer neuen Normalität von Differenzierung aus, vom Aushalten von Widersprüchen statt ideologischer Losungen, von produktiver Unsicherheit und dem nicht zu ersetzenden Zyklus von mutigem Experiment und offenem Lernen, Korrektur und erneutem Reflektieren und Handeln. Zukunftshoffnung ist vital, braucht Vertrauen in die Fähigkeit, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Bei diesem epochalen Transformationsprojekt kann die Offenheit von Kunst und Kultur und ihr utopisches Potenzial in Auseinandersetzung mit der Realität zu einer Leitwährung werden.

Allerdings sind Rahmenbedingungen zu optimieren, auf jeder Ebene. Dazu noch ein abschließender Passus, der sich mit den Institutionen beschäftigt, auch und vor allem mit Blick auf Europa (in der Welt).

Europa hat sich – gegen die Pandemiefolgen – einen gewaltigen Ruck gegeben und ein viele hunderte Milliarden umfassendes Investitions- und Strukturprogramm gegeben, das nationale und private Restrukturierung stimulieren wird. Kultur als Teil der Transformation kommt dabei kaum vor bzw. hat wenig Sichtbarkeit. Daher haben Allianzen gemein - sam mit der unabhängigen Europäischen Kulturstiftung einen Culture Deal vorgeschlagen und beziffert (zwei Prozent des Gesamtetats). Ähnlich verhält es sich mit dem wohl ambitioniertesten Umwelt- und Klimapaket der EU, die Architektur ist (noch) ohne die tausenden Bauhäuser der Kultur in den Städten und Regionen erstellt worden, die schon bei Weitem avancierter denken.

Überhaupt fehlt es derzeit an der treibenden Kraft in der Brüsseler Generaldirektion für Kultur, die noch vor Jahren ein atemberaubendes Tempo bei der Konzipierung und Ausgestaltung einer europäischen Kulturpolitik an den Tag gelegt hatte, im Bündnis mit der Zivilgesellschaft. So drohen heute auch wichtige Schlüsselprojekte wie die Kulturhauptstädte sklerotisch zu werden. Initiativen zur Kultur der Transformation fehlen. Generell sind die Kommunen und Kapitalen unvergleichlich fortgeschrittener und aktiver.

Im Bereich der Kulturaußenpolitik der EU liegen die Dinge komplizierter. Es gibt keine klare und vor allem keine gemeinsame Strategie der EU, was angesichts der außerordentlichen globalen Verschiebungen schockierend ist. Dies spiegelt allerdings die Orientierungsschwäche und Uneinigkeit zwischen den nationalen Außenministerien. Selbst die Großen taumeln mehr, als sie strategisch denken und gestalten. Die Leerstellen sind besonders ärgerlich, wenn man das brennende Interesse der Bürgerinnen und Bürger (Europas, aber darüber hinaus) und die beeindruckende Praxis der globalen Gespräche und Projekte in Kunst, Kultur und Disput gegenüberstellt.

Illustration: Zwei Hände, die geschüttelt werden. Auf jeder Hand stehen Worte wie "kooperieren, verbinden, respektieren".
Kulturinstitute spielen in unserer modernen Welt eine große Rolle, Illustration: Johnhain via pixabay

 

Ein genuin nächster Schritt bei der Überholung der in die Jahre gekommenen Politiken und Rituale großer Kulturinstitute, wie der deutschen oder der französischen, aber auch der vielen kleineren, ist nicht ohne einen Plan für Europa in der Welt zu haben. Institutionenumbau kann nur einer klaren beherzten intellektuellen Analyse folgen, transnationale Kooperation braucht dringend eine verbindende Erzählung. Auch hier sind Anleihen bei den Initiativen und Vorreitern an der kulturellen Basis dringend zu empfehlen. Der Weg kann nur über Themen von allgemeinster Brisanz führen, also über die Kultur der Transformation und die Transformation der Kultur bei der Bewältigung der anstehenden RiesenHerausforderungen Klima/Umwelt, Umbau des Wirtschaftens, Digitalisierung, Migration, Demokratie und global governance.

An diesen Leitplanken der Praxis der Zu - kunft zu arbeiten, kann nicht wirklich gelingen ohne das Vertrauen und die Zuversicht der Bürgerinnen und Bürger lokal, national, europäisch und global. Dazu braucht es die integrative, kritische, reflektierende, schöpferische und auch utopische Kraft von Kunst und Kultur auf allen Ebenen.

Mein Vorschlag am Ende der kleinen Zwischenbilanz: Europa braucht wieder eine große und weithin sichtbare Kraftanstrengung zur Ganzheitlichkeit, zur Kultur der Agenda for Change, also einen großen und vielfältigen Aufbruch zu einer neuen Kultur der Transformation. Diese gilt es zu orchestrieren.

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.