Illustration: Die europäische Flagge ist auf einem Schild abgebildet und wird mit Pfeilen angegriffen.

Orchestriertes Misstrauen bekämpfen

Zurückdrängen, einschränken, einbinden? Die Bedrohung durch Russland erfordert neue Strategien der Europäischen Union. Das Misstrauen Polens und Ungarns in die Institutionen der Union ist gleichzeitig ein Symptom für wachsenden Euroskeptizismus.

Misstrauen und Euroskeptizismus

Am 14. Oktober 2021 twitterte der slowenische Ministerpräsident Janez Janša, er weigere sich, die neuen EU-Abgeordneten zu treffen, die die slowenische Justiz und die Pressefreiheit im Land untersuchen, und bezeichnete sie als „Soros-Marionetten“. In dem aufwiegelnden Bild war unter anderem die Vorsitzende der EU-Delegation zu sehen, die Slowenien untersuchte.

Der Ministerpräsident löschte den Tweet zwar einige Stunden später, doch ein dunkler Schatten war da bereits auf den Besuch geworfen worden, und Internet-Archive bleiben für immer bestehen. Dieses bissige Verhalten schockiert, bedenkt man, dass Slowenien in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 den rotierenden Ratsvorsitz in der EU innehatte.

Diese Signale des institutionellen Misstrauens sind besorgniserregende Symptome des Euroskeptizismus, der eine Bedrohung darstellt, die vom Inneren Europas ausgeht.

Ähnliche Auseinandersetzungen mit Vertretern der Europäischen Union gab es bereits bei verschiedenen staatlichen Akteuren. Polen ist beispielsweise wegen seiner „Justizreformen“, seiner einwanderungsfeindlichen Haltung und seiner unerwünschten Positionen zu Gender und LGBTQIA+ (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Queer/Questing, Intersex, Asexuell usw.) mit Brüssel aneinandergeraten.

Ungarn hat offen seinen Wunsch bekundet, als „illiberale Demokratie“ bekannt zu werden, indem es sich über Praktiken und Normen der EU im Hinblick auf politische und bürgerliche Freiheiten hinwegsetzt und eine EU-feindliche Politik unterstützt. Dies sind nur einige Beispiele.

Ein halb geöffneter Laptop, dessen Tastatur im Dunkeln leuchtet.
Zu den bevorzugten Methoden gegen EU-Institutionen gehören Cyberangriffe auf die EU-Infrastruktur, Foto: Philipp Katzenberger via unsplash

Diese öffentlich zur Schau gestellten Kämpfe mit Brüssel kommen jedoch bei Anhängern, die der EU misstrauen, gut an. Diese Signale des institutionellen Misstrauens sind besorgniserregende Symptome des Euroskeptizismus, der eine Bedrohung darstellt, die vom Inneren Europas ausgeht. Leider entsteht dieser zunehmend auch als Folge vorsätzlicher und gezielter Angriffe von außen. China, der Iran und amerikanische fundamentalistische Organisationen haben alle schon ihre Hände in der EU-Keksdose gehabt. Der Löwenanteil scheint jedoch mit russischen staatlichen Akteuren in Verbindung zu stehen.

Die mutmaßlichen Motive sind unterschiedlich, reichen aber von Bemühungen, EU-Institutionen die Legitimation abzusprechen, über bewusst ausgelöstes Chaos und Verwirrung bei Wahlen bis hin zu Vergeltungsmaßnahmen gegen Sanktionen. Zu den bevorzugten Methoden gehören Cyberangriffe auf die EU-Infrastruktur, die Beeinflussung von Wahlen sowie gezielte Desinformationskampagnen.

Von Russland unterstützte Interessen haben auch eine von Belarus ausgehende Migrantenkrise inszeniert. Infolgedessen stehen zentrale Regeln und Werte der Europäischen Union auf dem Prüfstand. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die EU ist ins Wanken geraten. Wenn die EU dieses Vertrauen stärken und ihre Legitimität aufrechterhalten will, muss sie mehr für ihre Sicherheit tun und auf diese Angriffe ebenbürtig im Rahmen des Gesetzes reagieren.

Schlechte Jahre für die Demokratie

Mit der Demokratie ging es bereits bergab. 2006 war für die Demokratie das schlechteste Jahr, seit Freedom House mit seinem Bericht über die Freiheit in der Welt begonnen hat. Dann traf Ende 2009 die globale Schuldenkrise Europa, als die Arbeitslosigkeit, insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit, in die Höhe schoss.

In Spanien beispielsweise lag die Jugendarbeitslosigkeit 2009 bei 37,7 Prozent und erreichte 2013 einen Höchststand von 55,5 Prozent; in Griechenland begann die Jugendarbeitslosigkeit bei 25,4 Prozent und schnellte im selben Jahr auf 58 Prozent hoch. Dies sind nur zwei Beispiele.

Gerade als sich Europa 2015 zu erholen begann, entdeckte ein humpelnder Kontinent, dass Hunderttausende verzweifelte Männer, Frauen und Kinder an seine Tür klopften.

Ähnliche, wenn auch weniger extreme Geschichten von relativ hoher Arbeitslosigkeit sorgten in ganz Europa für Unruhe. Dann, gerade als sich Europa 2015 zu erholen begann, entdeckte ein humpelnder Kontinent, dass Hunderttausende verzweifelte Männer, Frauen und Kinder an seine Tür klopften. Sie flohen um ihr Leben, vor allem aus Syrien und dem Irak, wo der Bürgerkrieg und der vom IS ausgehende Terror wüteten. Zwischen 2015 und 2016 beantragten über 1,2 Millionen Menschen Asyl in der EU, und sie kamen weiterhin auf dem Land- und Seeweg. Dieser massive Zustrom löste bei einigen EU-Bürgern Panik aus.

Menschen, die in Not sind, suchen nach „Erklärungen“ dafür, warum ihre Welt außer Kontrolle gerät. Laut Serge Moscovici, einem in Rumänien geborenen französischen Sozialpsychologen und Direktor des Laboratoire Européen de Psychologie Sociale, werden Menschen anfällig für Verschwörungstheorien, um den großen globalen Ereignissen einen „Sinn“ zu geben, während sie aktiv nach Möglichkeiten suchen, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen.

Manche suchen nach einem Sündenbock für ihre Probleme, indem sie Randgruppen zu den „anderen“ machen. Andere wollen vielleicht auch zu einer imaginären traditionellen Gesellschaft vergangener Jahre zurückkehren, als sie „glücklicher“ und „sicherer“ waren. Die Bürger schließen sich unter Umständen auch polarisierenden politischen Parteien oder radikalen, nationalistischen Bewegungen an, die ihre aktuellen Erfahrungen „bestätigen“. Sie neigen dazu, politische Kandidaten zu unterstützen, die wirtschaftliche und physische Sicherheit vor „anderen“ versprechen. Bürger, die in diesen Abgrund fallen, haben in der Regel bereits an sozialem und institutionellem Vertrauen verloren. Glücklicherweise bildete diese Gruppe in Europa eine Minderheit.

Populistischer Aufschwung in Europa

Das Washingtoner Pew Research Center befragte 2016 auf dem Höhepunkt der Krise zehn EU-Mitgliedstaaten und fand beunruhigende Muster. Die Einstellungen gegenüber Einwanderern folgten den wirtschaftlichen Mustern der jeweiligen Länder. Die befragten Europäer neigten dazu zu glauben, dass Flüchtlinge ihnen möglicherweise die Arbeitsplätze wegnehmen. Pew fand auch heraus, dass die negative Wahrnehmung von Flüchtlingen mit der negativen Wahrnehmung von Muslimen zusammenfällt.

Darüber hinaus hielten sieben von zehn Befragten Flüchtlinge für eine „große Bedrohung“ ihrer Sicherheit. Ironischerweise stehen Deutschland und Schweden, die die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben, in dieser Rangliste an letzter Stelle. Insgesamt waren alle befragten Länder der Meinung, die EU habe bei der Bewältigung der Krise schlechte Arbeit geleistet, was das mangelnde Vertrauen in die EU zeigt. Das Ergebnis war schließlich ein populistischer Aufschwung einer unbürgerlichen Gesellschaft, der Europa überraschte.

Stimmzettel für die Bundestagswahl.
Die Partei Alternative für Deutschland (AfD) errang 2017 94 Sitze im Bundestag. 2021 waren es 83 Sitze, Foto: Mika Baumeister via unsplash

Die 2013 gegründete Partei Alternative für Deutschland (AfD) errang im folgenden Jahr sieben Sitze im Europäischen Parlament und 2017 94 Sitze im Bundestag. Der Front National in Frankreich unter der Führung von Marine Le Pen erzielte bei den Präsidentschaftswahlen 2017 ein beachtliches Ergebnis und erzwang eine Stichwahl mit dem Mitte-Rechts-Kandidaten Manuel Macron. Recht und Gerechtigkeit in Polen gewann die Wahlen 2015. Das Vereinigte Königreich stimmte 2016 für den Austritt aus der EU; die Gesetzgebung wurde von UKIP-Chef Nigel Farage vorangetrieben und von rechtsextremen Gruppen in Großbritannien unterstützt.

Diese und andere populistische und rechtsextreme Parteien wurden durch einwanderungsfeindliche, antisemitische, nativistische, EU-feindliche und fundamentalistische Überzeugungen angetrieben. Dies sind nur einige Beispiele. Es war nur logisch, dass opportunistische Akteure auf der globalen Bühne die Gelegenheit ergriffen, dieses zunehmend polarisierte Umfeld für ihre Zwecke zu nutzen. In den letzten Jahren deutet alles darauf hin, dass vor allem Russland für Angriffe von außen verantwortlich ist, die die Eurozone bedrohen und das Vertrauen der Menschen in die EU und möglicherweise in die liberale Demokratie im Allgemeinen erschüttern. Diese Angriffe hat es in letzter Zeit immer häufiger gegeben.

Cyberangriffe auf die Infrastruktur

Angriffe auf die Infrastruktur zielen darauf ab, Geräte und Instrumente zu zerstören oder zu beschädigen, mit denen die Integrität und Genauigkeit des Wahlprozesses in den Mitgliedstaaten und der EU gewährleistet wird. Sie intendieren zudem, das institutionelle Vertrauen in gewählte Beamte und die EU selbst zu beschädigen.

Die Agentur der Europäischen Union für Cybersicherheit berichtet, dass es im Jahr 2020 304 Angriffe auf „kritische“ Sektoren gab, darunter einen Anstieg der Angriffe auf Krankenhäuser um 47 Prozent. Zu diesen Angriffen gehören DDoS (Distributed Denial of Service), Ransomware, Phishing, Informationsdiebstahl, Malware und mehr. Der ENISA-Bericht geht davon aus, dass es sich dabei um böswillige und schwerwiegende Angriffe handelt, und gibt an, dass sich die Zahl der Ereignisse im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt hat. Die aktuelle Analyse geht davon aus, dass Angriffe auf die Infrastruktur weiter zunehmen werden.

Angriffe auf die Infrastruktur sollen Verwirrung stiften und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Sicherheit der Institutionen schwächen.

Auch die Infrastruktur für Wahlen und die dafür verantwortlichen Personen sind ein Ziel. So griffen Hacker im September 2021 einen Server der Behörde des Bundeswahlleiters an, was aber glücklicherweise keinen Schaden verursachte. Darüber hinaus meldete die EU mehrere Phishing-Versuche auf staatliche und lokale Gesetzgeber, lokale zivilgesellschaftliche Gruppen und Mitglieder des Europäischen Parlaments.

Die Angriffe gehen angeblich von einer Cyber-Agentur namens Ghostwriter aus, die mit dem russischen Staat verbunden ist. Angriffe auf die Infrastruktur sollen Verwirrung stiften und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Sicherheit der Institutionen schwächen.

Die Beeinflussung von Wahlen ist eine Taktik, die in der Vergangenheit von verschiedenen Ländern zu vielfältigen Zwecken eingesetzt wurde. Nichtsdestotrotz ist sie dem Fortschritt der liberalen Demokratie abträglich. Unter „hybrider Kriegsführung“ versteht man staatliche Maßnahmen, die darauf abzielen, den Empfängerstaat durch den koordinierten Einsatz einer Kombination aus militärischen, technologischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Mitteln zu zerstören oder anderweitig zu schädigen, sei es auf konventionelle oder unkonventionelle Weise. Heute ziehen viele Staaten diese Methode dem konventionellen Krieg vor, weil sie billiger ist und weniger politische Kosten im eigenen Land verursacht.

Russlands Taktik

Russland ist dafür bekannt, dass es auf dem gesamten Kontinent so agiert. Diese Taktik wurde bei den französischen Wahlen 2017 deutlich, als russische Quellen den Wahlkampf der populistischen Kandidatin Le Pen für die französische Präsidentschaft mit einem 13-Millionen-Dollar-Kredit finanzierten. Macrons Wahlkampf wurde 2017, wahrscheinlich von der russischen Organisation APT28, während der wahlkampffreien Zeit in Frankreich gehackt, was ihn daran hinderte, auf die unter dem Hashtag #MacronGate verbreiteten Desinformationen zu reagieren.

Diese Methoden sind wirksam, weil sie hinsichtlich bestimmter Themen oder Kandidaten Verwirrung stiften und das soziale und institutionelle Vertrauen mindern können.

Es gibt Hinweise auf eine russische Bot-Kampagne, die die Brexit-Bemühungen im Vereinigten Königreich unterstützte; Untersuchungen zeigen, dass sich russische Quellen in die Abstimmung über das schottische Referendum im Jahr 2014 eingemischt haben, indem sie online massenhaft Desinformationen verbreiteten und behaupteten, Wähler seien betrogen worden. Die polnische Wahlkommission wurde 2015 von russischen Hackern angegriffen, was das Vertrauen in diese Wahl erschütterte. Die Überflutung des Internets mit falschen Informationen durch Bots und gefälschte Konten wird als „Fire-Hosing“ bezeichnet. Diese Aufzählung ist nicht vollständig.

Straßenschilder mit Flaggen der EU und Großbritanniens zeigen in entgegengesetzte Richtungen.
In den Tagen vor dem Brexit-Referendum beispielsweise nahmen die russischen Bot-Aktivitäten erheblich zu, Foto: Elionas2 via pixabay

Diese Methoden sind wirksam, weil sie hinsichtlich bestimmter Themen oder Kandidaten Verwirrung stiften und das soziale und institutionelle Vertrauen mindern können. In den Tagen vor dem Brexit-Referendum beispielsweise nahmen die russischen Bot-Aktivitäten erheblich zu. Indem sie bereits bestehende gesellschaftliche Spaltungen ausnutzten, konzentrierten sich die Bots vor allem auf einwanderungsfeindliche Tweets mit rassistischem Unterton oder regelrecht bigotten Botschaften. Sie machten dann jene Tweets größer, die die meiste Aufmerksamkeit auf sich zogen.

Darüber hinaus stellte der Ausschuss des britischen Ministeriums für Kultur, Medien und Sport fest, dass die russischen Staatsmedien RT und Sputnik in den 48 Stunden vor dem Referendum eine größere Reichweite für EU-feindliche Inhalte hatten als Vote Leave oder Leave.EU. Niemand weiß mit Sicherheit, wie sich dies auf das Brexit-Votum ausgewirkt hat, aber es hat wahrscheinlich einen gewissen Prozentsatz der Wähler beeinflusst, die sich vielleicht nicht sicher waren oder vorhatten, zu Hause zu bleiben. Es ist unmöglich, das Ausmaß dieses Effekts zu bestimmen. Bigottes und rassistisches „Feuerspucken“ wirkt jedoch. Es stört den sozialen Zusammenhalt und erschüttert das politische Vertrauen.

Die EU fand zahlreiche russische Konten hinter Desinformationskampagnen, die von APT28 oder „Fancy Bear“, Ghostwriter sowie anderen russischen Hackergruppen stammen. In einem Bericht, der die Jahre 2018 bis 2021 umfasst, zielten die Hacker auf ethnische, religiöse und LGBTQIA+-Minderheiten ab. Es gab Artikel, in denen Migranten als Gesundheitsbedrohung oder Terroristen dargestellt werden. In einigen Fällen handelte es sich um antisemitische Verschwörungstheorien, darunter solche über George Soros. Diese Art von Angriffen zielt auf die Mikroebene der Mitgliedstaaten ab, manchmal bis hinunter auf die Ebene der Städte oder Dörfer, und nutzt bestehende gesellschaftliche Spaltungen aus. So werden auch bigotte Sprache und Überzeugungen normalisiert, was sich letztlich in negativem Verhalten niederschlägt.

Russische Berichte haben auch Verwirrung gestiftet über die Sicherheit der europäischen Corona-Impfstoffe, während sie gleichzeitig propagierten, dass der russische Impfstoff Sputnik V wirksam und sicher ist. Sie zielen auch auf Mitgliedstaaten mit russischsprachiger Bevölkerung ab. Im Endeffekt sinkt so das Vertrauen der Öffentlichkeit in die angebotenen europäischen Impfstoffe und der soziale Zusammenhalt wird beeinträchtigt. Europäische Optionen zu diskreditieren, kann sich auf die Gesundheit von Minderheiten auswirken, die dem Mitgliedstaat bereits misstrauen; sie entscheiden sich, sich nicht impfen zu lassen, weil sie kein Vertrauen in den Impfstoff haben. Dies beeinträchtigt wiederum die öffentliche Gesundheit in den Mitgliedstaaten und in der EU im weiteren Sinne. Es schadet auch den Menschenrechten.

Diese Art von Angriffen zielt auf die Mikroebene der Mitgliedstaaten ab, manchmal bis hinunter auf die Ebene der Städte oder Dörfer, und nutzt bestehende gesellschaftliche Spaltungen aus.

Im Juli 2021 sah sich die EU mit einer weiteren, von außen inszenierten Bedrohung sozialen Zusammenhalts konfrontiert, mit der die EU auch heute noch zu kämpfen hat. Russland und Belarus ermuntern Migranten, nach Minsk zu kommen, von wo aus sie dann nach Europa weiterreisen.

Verzweifelte Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben ergreifen diese Chance und hoffen inständig, dass dies ihr Weg zur Freiheit in Europa sein wird. Sie kommen aus allen Teilen der Welt: Kuba, Syrien, Kamerun, Kongo, Afghanistan. Es sind Iraker, Kurden, Nigerianer, um nur einige zu nennen, die ihre Ersparnisse für die gefährliche Reise ausgeben. Einige Staaten wie Litauen sind nicht in der Lage, viele Migranten aufzunehmen und errichten Stacheldraht. Wenn sie jedoch den Weg über Polen nehmen, bearbeiten die Behörden ihre Asylpapiere nicht und schicken die Migranten nach Belarus zurück. Dies ist ein Verstoß gegen das EU-Recht.

Neue Strategien gegen Russland

Es ist klar, dass die belarussischen Behörden diesen Menschenhandel unterstützen und davon profitieren. Entlang des Weges der Migranten wurden Quittungen von Luxushotels und Reisebüros sichergestellt, die von belarussischen Behörden betrieben werden. Darüber hinaus hat Lukaschenka die notwendige Infrastruktur geschaffen, um den massiven Zustrom von „Reisenden“, die über seine Flughäfen geschleust werden, zu bewältigen. Der belarussische Präsident räumt ein, sein Land werde keineswegs das endgültige Ziel sein, da alle diese Menschen auf dem Weg ins „gemütliche Europa“ seien.

Dieser Akt ist besonders grausam: Russland und Belarus benutzen Menschen als Spielfiguren in einem sadistischen Rachespiel. Das Kalkül der EU geht davon aus, dass dieses Ereignis eine Vergeltung für die Sanktionen ist, die die EU gegen Belarus wegen des Vorwurfs der Wahlfälschung im Jahr 2020 und zahlreicher Menschenrechtsverletzungen verhängt hat. Die EU hat Russland viele Jahre lang mit Samthandschuhen angefasst, vor allem wegen ihrer Abhängigkeit von russischem Erdgas und russischem Öl. Gegenwärtig liefert Russland etwa 44 Prozent des Erdgases nach Europa; diese Zahl wird nach der Inbetriebnahme von Nord Stream 2 noch steigen. Es ist nicht zu erwarten, dass sich in naher Zukunft etwas an der Energieabhängigkeit ändern wird.

Die Sicherheitsinteressen in Europa erfordern offene Kommunikationskanäle und verbesserte Beziehungen. Kann Europa jedoch dauerhaft zulassen, dass Russland innerhalb seiner Grenzen böswillig agiert? Anfang dieses Jahres hat der Hohe Vertreter Josep Borrell in einem Gespräch mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) seine Gedanken zum Umgang mit Russland dargelegt. Er nannte drei zentrale Möglichkeiten, wie Brüssel mit Russland umgehen sollte: Zurückdrängen, einschränken, einbinden. Im Großen und Ganzen stimme ich mit dem Geist dieser Strategie überein. Im Folgenden werde ich kurz meine Gedanken zu diesem Ansatz darlegen.

Zurückdrängen

Europa muss alle Versuche, es zu destabilisieren, abwehren und weniger abhängig vom Ausland werden. Die Abhängigkeit von ausländischem Gas behindert die Beziehungen zu Russland; effizienter dafür zu arbeiten, um die eigene Unabhängigkeit zu sichern, wird die europäischen Partnerschaften stärken. Auch die Cyber-Intelligenz weiter zu verbessern, ist von entscheidender Bedeutung, um jeden Angriff abzuwehren, bevor er stattfindet. Auf EU-Ebene ist damit begonnen worden, und die Bemühungen einiger Mitgliedstaaten sind noch nicht abgeschlossen.

Europa kann zurückschlagen und sich behaupten, wenn es am stärksten ist und zu seinen Gesetzen und Werten steht.

Schließlich müssen sich die Anstrengungen weiterhin auf öffentliche Informationskampagnen konzentrieren, um Desinformationen entgegenzuwirken und den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Brüssel hat dafür gearbeitet, die Öffentlichkeit über Desinformation aufzuklären und Gesetze gegen Hass zu verschärfen. Werte im eigenen Land durchzusetzen, die zum Teil durch externe Bedrohungen geschwächt werden, wird viel dazu beitragen, das öffentliche Vertrauen zu intensivieren und ein stärkeres Europa zu schaffen. Kurz gesagt: Europa kann zurückschlagen und sich behaupten, wenn es am stärksten ist und zu seinen Gesetzen und Werten steht. Dies sind interne Projekte.

Einschränken

Eine Möglichkeit, Russland in die Schranken zu weisen, besteht darin, die Sicherheitsbeziehungen zu Nachbarn und Verbündeten zu stärken. Die Türkei beispielsweise ist mit ihren Reformen ins Stocken geraten; Europa muss die Kommunikationslinien offenhalten und die Beziehungen zu Armenien und seine Demokratisierungsbemühungen fördern. Das Land ist ein wichtiger Verbündeter in der Region.

Die Europäische Union muss die Ukraine weiterhin in eine Sicherheitspartnerschaft einbinden. Außerdem muss der Wechsel in der US-Exekutive genutzt werden, um wieder stärkere Beziehungen zu den USA aufzubauen. Die EU muss die Mitgliedstaaten davon abhalten, diese Vereinbarungen zu brechen, indem sie sich unilateral an die Staaten wendet, und sie muss auch dringender auf die Krise an der Grenze reagieren, da die Spannungen weiter zunehmen. Leider hält sich Russland nicht an die Regeln und bricht wiederholt EU-Recht. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, gezielte Sanktionen gegen Russland wegen seiner störenden und böswilligen Einmischung in EU-Angelegenheiten konsequent zu verhängen und durchzusetzen. Das bedeutet: Alle Verbindungen zu den fraglichen Organisationen müssen genauer unter die Lupe genommen werden, ganz gleich, wohin sie führen. Dies bedeutet, dass auch Oligarchen mit Konten und Eigentum in Europa einbezogen werden müssen.

Europakarte, auf der die Länder mit Schnüren vernetzt sind.
Die Europäische Union muss die Ukraine in eine Sicherheitspartnerschaft einbinden, Foto: TheAndrasBarta via pixabay

Es bedeutet zudem, transparent zu sein und diese Informationen offen und öffentlich auf der Weltbühne zu verbreiten. Welchen Anreiz gäbe es sonst, sich nicht böswillig zu verhalten? Wenn die Rechtsstaatlichkeit nicht durchgesetzt wird, welchen Sinn hat dann die Rechtsstaatlichkeit? Die EU nimmt gezielte Sanktionen ernster. Sie sollte auch in der Zukunft nach Wegen suchen, um Sanktionen effektiver zu machen, immer mit Blick auf die Menschen in Russland und um sicherzustellen, dass sie nicht zu Kollateralschäden werden. Insgesamt gilt es, Allianzen auszubauen und zu stärken sowie die Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen.

Leider hält sich Russland nicht an die Regeln und bricht wiederholt EU-Recht. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, gezielte Sanktionen gegen Russland wegen seiner störenden und böswilligen Einmischung in EU-Angelegenheiten konsequent zu verhängen und durchzusetzen.

Einbinden

Russland wird aufgrund seiner strategischen Ölvorkommen und seiner Nähe zu Europa ein wichtiger Akteur bleiben. Darüber hinaus nimmt Russlands Nuklearmacht nicht ab, sondern das Land modernisiert und verbessert seine Kapazität in diesem Bereich. Es wird immer im besten Interesse der EU sein, Wege zu finden, um mit Russland in den Bereichen Energie, Handel, Reisen, Bildungsaustausch usw. zusammenzuarbeiten, wenn dies möglich ist.

Europa muss auch nach Möglichkeiten suchen, sich aktiv mit den Vereinigten Staaten im Hin - blick auf nukleare Initiativen zu engagieren. Gleichzeitig hat die amerikanische Wahl 2016 deutlich gemacht, dass Europa einen „Plan B“ braucht, da die USA in Sicherheitsfragen nicht immer einen verlässlichen Partner haben. Brüssel sollte in Bezug auf die Sicherheit Europas weniger eine Nebenrolle spielen und diplomatische Fähigkeiten entwickeln, um das Ruder zu übernehmen. Vor allem aber besteht immer die Hoffnung, dass sich die Beziehungen eines Tages normalisieren könnten. Europa darf sich dieser Möglichkeit niemals verschließen und muss dies deutlich machen. Es darf auch nicht die Tür vor den Menschen in Russland verschließen.

Es wird immer im besten Interesse der EU sein, Wege zu finden, um mit Russland in den Bereichen Energie, Handel, Reisen, Bildungsaustausch usw. zusammenzuarbeiten, wenn dies möglich ist.

Eine Eurobarometer-Umfrage vom Sommer 2021 zeigt, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in die EU den höchsten Stand seit 2008 erreicht hat: 49 Prozent der Europäer vertrauen der EU und beeindruckende 66 Prozent sind optimistisch, was die Zukunft der EU angeht; das ist der höchste Stand seit 2009. Es ist jedoch nicht alles Gold, was glänzt. Drei von zehn Befragten sind pessimistisch, was die Zukunft der EU angeht; das ist der niedrigste Wert seit 2009. Mit anderen Worten: Es ist nicht die Zeit, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen.

Wenn die EU das institutionelle Vertrauen ihrer Bürgerinnen und Bürger stärken will, muss Brüssel wirksamer auf externe Bedrohungen reagieren und an seinem kodifizierten Gewissen und der Rechtsstaatlichkeit festhalten. Institutionelles Vertrauen hängt davon ab, ob sich die Bürger darauf verlassen können, dass Staats- und Regierungschefs den Gesellschaftsvertrag, ihre Versprechen und Grundsätze einhalten. Angesichts von Eskapaden und eklatanten Regelverstößen seiner populistischen Führer sollte Brüssel seine Werte und Gesetze im jeweils eigenen Land energischer durchsetzen, wenn es sowohl intern als auch extern ernst genommen werden will.

Über die Autorin
Portrait von Nicolè Ford
Nicolè Ford
Außerordentliche Professorin an der Universität Tampa, Florida

Professor Dr. Nicolè Ford lehrt Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Tampa, Florida, USA. Ihre Fachgebiete sind Russland und der postsowjetische Raum sowie Osteuropa und die Kaukasusregion. Ein Fokus ihrer Arbeit ist der Rückfall der Demokratie in den Autoritarismus. In der Vergangenheit hat sie für den ehemaligen Senator Bob Graham Forschungen über Big Sugar angestellt und bei der Kontaktaufnahme mit Wählern geholfen. Während des Irakkriegs hat sie für die Vereinten Nationen Bewertungen der nuklearen Bedrohung erstellt. Sie absolvierte Feldforschung und Sprachtraining in Moskau. Sie ist eine ehemalige Marinesoldatin der Vereinigten Staaten.

Bücher und Artikel (Auswahl):

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.