Mir ist vollkommen klar, dass sich Europas Probleme nicht allein durch „Reden“ lösen, es braucht entschiedenes politisches Handeln. Auch institutionelle Veränderungen sind nötig, damit in der europäischen Politik eine Konfliktkultur entsteht, die für die Medien berichtenswert wäre. So bräuchte es im Europäischen Parlament den Streit zwischen „Regierungsmehrheit“ und „Opposition“, im europäischen Rat müssten sich viel mehr politische als nationale Lager gegenüberstehen. Doch die Dinge hängen zusammen. Das politische Europa funktioniert nicht ohne ein ebenbürtiges öffentliches Europa.
Im Herbst 2013 habe ich dazu eine Erfahrung gemacht: Damals arbeitete ich als Wahlkampfmanager der Europäischen Grünen Partei zu den Europawahlen 2014. Im Europäischen Parlament vertrat ich meine Spitzenkandidatin bei den Verhandlungen zwischen Parlament, Parteien und Medien über die Organisation der ersten europäischen TV-Debatte. Die europäischen Parteien hatten erstmals Spitzenkandidaten für das Amt des Präsidenten der EU-Kommission nominiert. Es war ein demokratischer Fortschritt, dass zwischen dem Ausgang der Europawahl und der Besetzung des wichtigsten Postens in der EU nun ein engerer Zusammenhang geschaffen wurde. Von diesem Plus an Einfluss der Wählerinnen und Wähler sowie der Personalisierung versprachen wir uns in Brüssel eine höhere Attraktivität der Europawahlen und folglich eine stärkere Wahlbeteiligung.
Das politische Europa funktioniert nicht ohne ein ebenbürtiges öffentliches Europa.
Doch es gelang uns nicht, die nationalen TV-Sender davon zu überzeugen, dieses Novum der EU-Geschichte in das Hauptprogramm zu ziehen. Stattdessen strahlten Spartenkanäle wie Phoenix, BBC Parliamentary Channel oder France24 die Debatte aus. Das ernüchternde Ergebnis: Am Wahltag kannte kaum jemand die EU-Spitzenkandidaten, in Tschechien und Großbritannien waren es gerade einmal fünf Prozent der Wahlberechtigten. Noch schlimmer: Die Wenigsten wussten von dem gestiegenen Einfluss ihrer Wählerstimme auf die Besetzung des Chefpostens der EU-Kommission.
Dagegen konnte aber immerhin bei den wenigen Wählerinnen und Wählern, die davon wussten, ein „Mobilisierungseffekt“ nachgewiesen werden. Die Spitzenkandidaten waren ein Grund für sie, wählen zu gehen, wie eine Nachwahlbefragung ergab. Es war also mal wieder eine Sache von hätte, können, sollen. Die Zeit der verpassten Chancen, der nicht genutzten Gelegenheitsfenster muss nun vorbei sein – bevor es mit der EU vorbei ist.
Die Binse, dass in jeder Krise auch eine Chance liegt, kann man für das Europa der letzten Jahre streichen. Vielleicht hat Europa nur noch diese eine Chance: Dem Austausch, dem konstruktiven Streit, der Empathie, dem Gemeinsamen, den Vorteilen, aber auch der Kritik an der europäischen Einigung einen angemessenen Resonanzraum zu geben. Diese Chance ist die Plattform Europa.
Klar ist: Europas Bürgerinnen und Bürger sind heute auf zwei Feldern nicht souverän: dem politischen und dem digitalen. In einer Demokratie sind sie die Träger von Souveränität. Selbstbestimmte Entscheidungen sind aber an Voraussetzungen geknüpft. Nur wer ausreichend informiert ist, die relevanten Perspektiven auf ein Thema kennt, über politische Verantwortlichkeiten Bescheid weiß, Ross und Reiter zuordnen kann, ist in der Lage – etwa an der Wahlurne – selbstständig und unabhängig zu entscheiden. Die Voraussetzungen sind für die Willensbildung in der europäischen Politik nicht erfüllt. Das liegt weniger am Desinteresse der Menschen, sondern zuerst an der Abwesenheit eines europäischen Diskurses. In den nationalen Diskursen wird die europäische Ebene sprachlich vom „Wir“ entkoppelt. Europa ist nicht ein zur Heimat gewordener Teil von „uns“. Damit bleibt in den Debatten das nationale Interesse der zentrale, ja meist sogar einzige Bewertungsmaßstab für europäische Politik.
Europas Bürgerinnen und Bürger sind heute auf zwei Feldern nicht souverän: dem politischen und dem digitalen.
Die europäische Pluralität der Stimmen und das europäische Gemeinwohl als Deutungsrahmen werden von den nationalen Filterblasen ausgeschlossen. Daraus folgt für die europäische Demokratie zum einen, dass es der Zivilgesellschaft an einer adäquaten öffentlichen Einflusssphäre auf die Politik der EU fehlt. Zum anderen fehlt den EU-Institutionen die Möglichkeit, Entscheidungen in einem öffentlichen Rahmen wieder an die Bevölkerung zu koppeln.