Andreas Nachama, Historiker, Rabbiner und ehemaliger Leiter des Dokumentationszentrums "Topographie des Terrors" in Berlin-Mitte, © picture-alliance / Thilo Rückeis TSP

Puzzle eines Lebens

Seit Jahrzehnten engagiert sich der Rabbiner und Historiker Andreas Nachama für den Dialog zwischen den Religionen. Ein Gespräch über jüdisches Leben in Deutschland.

ifa: Herr Nachama, wenn es um Erinnerung und die Aufarbeitung der Vergangenheit geht, wird Deutschland oft als "Weltmeister" bezeichnet. Vergessen wir ob des vielen Gedenkens und Rückblickens manchmal zu sehr die Gegenwart und Zukunft?

Andreas Nachama: Die Gefahr besteht natürlich immer, aber als Historiker würde ich sagen, dass die Beschäftigung mit der Geschichte, die ja immer Konstruktion aus der Gegenwart ist, sehr viel für die Zukunft bringt – nämlich dann, wenn die Grundlage des Rückblickens das Lernen aus der Vergangenheit ist.

ifa: Sie haben das Berliner Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors" mit aus der Taufe gehoben und viele Jahre geleitet. Im Fokus stehen die Verbrechen des Nationalsozialismus. Was können wir aus diesem Teil der Geschichte für die Gegenwart lernen?

Nachama: Wenn man das sogenannte Dritte Reich richtig versteht, war es in erster Linie ein autoritärer Staat, dessen Opfer jeder werden konnte, weil polizeiliches Handeln keiner Kontrolle durch unabhängige Gerichte unterlag. Man kann daran ablesen, was mit einer Gesellschaft geschieht, wenn man diese autoritären und nicht kontrollierbaren Strukturen gewähren lässt und wenn nicht alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Erst wird ausgegrenzt, zerstört, schließlich wird gemordet – alles, was nicht in die "Volksgemeinschaft" passt: Minderheiten wie Juden, Sinti und Roma, Patienten, Oppositionelle, Homosexuelle, Kriegsgefangene und so weiter.

Ein Mann geht durch die Ausstellung "Der Weg in den Abgrund. Das Jahr 1938". Die Sonderausstellung war 2018 in der "Topographie des Terrors" zu sehen und griff die einschneidenden Ereignisse des Jahres 1938 auf, beginnend beim "Anschluss" Österreichs über die "Aktion Arbeitsscheu Reich" bis zur Reichspogromnacht am 09.11.1938
Ein Mann geht durch die Ausstellung "Der Weg in den Abgrund. Das Jahr 1938". Die Sonderausstellung war 2018 in der "Topographie des Terrors" zu sehen und griff die einschneidenden Ereignisse des Jahres 1938 auf, beginnend beim "Anschluss" Österreichs über die "Aktion Arbeitsscheu Reich" bis zur Reichspogromnacht am 09.11.1938, © picture alliance / Paul Zinken/dpa/ZB

Alle Opfer der Gesellschaft in den Blick nehmen

ifa: Gleichzeitig ist das Gedenken an die Opfer des Holocaust, vor allem an die Jüdinnen und Juden, zentraler Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur. Andere Opfergruppen ringen noch immer um Sichtbarkeit.

Nachama: Ja, und ich halte dieses fokussierte Rückblicken auf einen Aspekt der Repression und der Opfer im "Dritten Reich" für eine unzulässige Hierarchisierung. In den letzten Jahren hat die Geschichtsschreibung in Deutschland, ähnlich wie die gesamte Gesellschaft, einen Weg genommen, der sehr stark den einzelnen Mosaikstein betrachtet. Das ist auch richtig, weil man so in der Forschung vorankommt, aber der Blick aufs Ganze gehört unbedingt dazu. In dem Moment, wo man den Holocaust atomisiert, hat man verloren. Man muss immer sehen, was das mit der gesamten Gesellschaft gemacht hat.

ifa: Und was folgt daraus für die Erinnerungskultur?

Nachama: Im Fall des Nationalsozialismus müssen wir alle Opfer der Gesellschaft in den Blick nehmen. Natürlich ist es merkwürdig, wenn wir beispielweise auch der gefallenen Wehrmachtsoldaten gedenken, aber wenn wir das nicht tun, verstehen wir auch nicht die Dimension der Verbrechen. Zum Erinnern an und Lernen über das Dritte Reich und deren Opfer gehört nun mal mehr als der Holocaust.

Das Verhältnis von Menschen jüdischen und nichtjüdischen Glaubens in Deutschland wird erst dann normal sein, wenn es keine Rolle mehr spielt.

ifa: In diesem Jahr erinnern wir an "1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland", was auch Anlass der Veranstaltung war, an der Sie im Rahmen des Vortragsprogramms teilgenommen haben. Das bundesweite Gedenkjahr soll jüdisches Leben jenseits der Shoah sichtbar machen, mehr Geschichten von Alltag und Vielfalt erzählen. Wie würden Sie "jüdisches Leben in Deutschland" beschreiben?

Nachama: Ganz grundsätzlich würde ich sagen, dass es noch immer nicht normal ist – schon allein deshalb, weil wir beide uns jetzt darüber unterhalten. Das Verhältnis von Menschen jüdischen und nichtjüdischen Glaubens in Deutschland wird erst dann normal sein, wenn es keine Rolle mehr spielt. Außerdem lässt sich jüdisches Leben als solches ja nicht immer von außen erkennen. Auch in Zahlen lässt sich das nicht genau fassen. Nicht alle Jüdinnen und Juden sind in Gemeinden organisiert. Offiziell sind das etwa 100.000, aber ich schätze, dass es doppelt bis dreimal so viele sind.

Holocaust im Spiegel der eigenen Geschichte

ifa: Sie sind 1951 in Westberlin geboren und aufgewachsen, Ihre Eltern haben die Shoah als einzige in ihren jeweiligen Familien überlebt. Wie sind Sie sich der Dimension des Holocaust und damit auch ein Stück weit Ihrer eigenen Familiengeschichte bewusst geworden?

Nachama: Ich habe mir das schrittweise zusammengepuzzelt. Und lange Zeit, das muss man einfach so sagen, war das ein Puzzle mit vielen leeren Stellen. Meine Eltern haben so gut wie nie darüber gesprochen. In der Oberstufe fing ich dann an, Bücher zu lesen, zum Beispiel die Hitler-Biografie von Alan Bullock. Aber wichtiger als der Schulunterricht waren für mich die Gespräche mit Menschen, die diese Zeit erlebt hatten. Da gab es einige kuriose Begebenheiten, die sich mir eingeprägt haben.

ifa: Zum Beispiel?

Nachama: 1961 fuhr ich mit meinem Vater, der aus Griechenland stammte und dann via Auschwitz und Sachsenhausen nach Berlin kam, nach Italien. Wir besuchten dort einen, wie ich immer dachte, alten Brieffreund. Natürlich hat mich interessiert, wie sich die beiden kennengelernt hatten. Dieser "Brieffreund" erzählte, dass er als "IMI", also als italienischer Militärinternierter, in Deutschland Zwangsarbeit geleistet hatte. Meinen Vater lernte er 1945 am Bahnhof in Berlin-Lichtenberg kennen, beide kurz nach ihrer Befreiung, beide auf dem Weg nach Hause. Da beginnt man als Zehnjähriger so langsam zu realisieren, dass dieser Zweite Weltkrieg also ein Krieg war, der nicht nur in Berlin oder um Deutschland herum tobte.

ifa: In der Topographie des Terrors haben Sie sich dann intensiv mit den Tätern beschäftigt. Wie war das für sie persönlich?

Nachama: Ich habe mich eigentlich seit meiner Kindheit für die Täter interessiert, die Geschichten der Opfer kannte ich ja schon. Meine Mutter hatte den Krieg versteckt in Berlin überlebt. Ihre Helferinnen, Helfer und Leidensgenossen, also andere Juden und desertierte Wehrmachtsoldaten, waren für mich wie Onkel und Tanten. Wenn die zu Besuch kamen und von ihren Kriegserfahrungen erzählten, fand ich das immer hoch spannend. Aber die Täter kamen in ihren Erzählungen nie vor.

ifa: 1972 haben Sie sich für Geschichte und Judaistik an der Freien Universität in Berlin eingeschrieben. War das ein Versuch, sich der eigenen Geschichte noch einmal mit professioneller Distanz zu nähern?

Nachama: Das hat eigentlich keine große Rolle gespielt, zumal mein Schwerpunkt im Geschichtsstudium Frühe Neuzeit war. Aber natürlich war mir in meiner Tätigkeit für die Topographie des Terrors immer klar, dass ich als Jude auch ein persönliches Interesse an bestimmten Themen habe, beispielsweise wenn es um die Jüdinnen und Juden in Griechenland ging. Diese Themen haben dann Kollegen übernommen, weil ich nicht objektiv genug gewesen wäre.

Geschichte begreifbar machen

ifa: Derzeit wird viel darüber diskutiert, wie der Holocaust und andere nationalsozialistische Verbrechen den nächsten Generationen vermittelt werden können, in einer multikulturellen Gesellschaft, mit zunehmend größerer zeitlicher Distanz und immer weniger Zeitzeugen. Wie blicken Sie auf diesen Wandel? Welche Rolle sollte der Geschichtsunterricht hierbei spielen?

Nachama: Vielleicht ist dieser Wandel auch eine Chance, etwas gelassener auf das Ganze zu blicken, weil Zeitzeugen natürlich immer einen eigenen, sehr persönlichen Blick auf Geschichte haben, das ist ja ihr Sinn. Gedenkstätten müssen Lernorte werden, die möglichst breit angelegt sind. Und in den Schulen muss Geschichte begreifbar gemacht werden, nicht nur im Geschichtsunterricht.

ifa: Wie könnte das aussehen?

Nachama: Ich erinnere mich an den Besuch einer Berliner Schulklasse, die auf einer Liste sogenannter wilder KZs ihr italienisches Lieblingsrestaurant entdeckte. "Wilde KZs" waren ab 1933 improvisierte Folterstätten, meist Kneipen, in denen die SA ein Hinterzimmer oder einen Keller eingerichtet hatte. Die Schulkasse begab sich dann mit ihrem Lehrer auf Spurensuche. Sie sprachen mit dem Restaurantbesitzer, mit den Hausbewohnerinnen und -bewohnern. Einer erwähnte einen "merkwürdigen Kellerraum", den wir uns gemeinsam anschauten. Da hat man die Ketten an der Wand noch gesehen. Tatsächlich war ihr Lieblingsitaliener also früher ein "wildes KZ". Ich würde behaupten, dass diese Jugendlichen das in ihrem Leben nicht vergessen werden. Sie waren fasziniert, weil es Teil ihrer Lebensrealität war.

ifa: Und trotzdem scheint es schwierig, aus der Geschichte so zu lernen, dass Antisemitismus heute kein Thema mehr wäre.

Nachama: Meine Mutter sagte immer, dass das, was wir heute erleben, kein Antisemitismus sei, vielleicht eine Vorform, aber nicht vergleichbar mit dem, was sie erlebt hatte. Deutschland ist heute nicht mehr das von 1933. Ja, wir haben Probleme und die muss man auch benennen. Denken wir an Dumpfbacken wie die Attentäter von Halle oder Hanau. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es reale rechtsterroristische, antisemitische Gefährdungen gibt. Aber wir müssen auch da genau hinschauen. Antisemitismus hat es immer gegeben und Attentate wie diese richten sich immer an die ganze Gesellschaft. Wir alle sind gefragt, Hass als Grundlage von Ausgrenzung im Keim zu ersticken.

Auf Augenhöhe begegnen

ifa: Richten wir den Blick noch einmal nach vorn. Sie engagieren sich derzeit für das "House of One" in Berlin, das Kirche, Moschee und Synagoge unter einem Dach vereinen wird. Welche Hoffnungen verbinden Sie damit?

Nachama: Interreligiöser Dialog war immer eine Konstante in meinem Leben. 1973 war ich das erste Mal zu einem Treffen von Muslimen, Christen und Juden in Bendorf am Rhein. Wir trafen uns dort über mehrere Jahre, aber eigentlich fing man jedes Mal wieder bei null an, weil der Imam inzwischen in die Türkei gereist war oder der Pfarrer versetzt wurde. Mit dem "House of One" wird es eine dauerhafte Institution geben, für die wir – ein Imam, ein Pfarrer und ich – gemeinsam Verantwortung tragen. Es ist ein fester Ort der Zusammenkunft von Christen, Muslimen und Juden, der zeigt, dass es unterschiedliche Wege zu Gott gibt und dass man sich gleichzeitig auf Augenhöhe begegnen kann.

Interview von Juliane Pfordte

Die interreligiöse Begegnungsstätte "House of One" soll 2024/2025 in Berlin eröffnen. Beim Abschluss der Tiefgründungsarbeiten 2018 halten die Verantwortlichen, Imam Kadir Sanci, Rabbiner Andreas Nachama und Pfarrer Gregor Hohberg, ein Holzmodell des geplanten Gebäudes, © picture alliance/dpa / Jörg Carstensen
Über Andreas Nachama
Portrait von Andreas Nachama
Andreas Nachama
Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz

Prof. Dr. Andreas Nachama, geboren 1951, ist Historiker, Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz und seit 2016 Jüdischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Von 1994 bis 2020 war er geschäftsführender Direktor des Dokumentationszentrums "Topographie des Terrors" in Berlin. Am 9. September 2019 ist Andreas Nachama mit der Moses Mendelssohn Medaille ausgezeichnet worden. Im Herbst 2021 erschien sein Buch "12 Jahre, 3 Monate, 8 Tage" über die Zeit des Nationalsozialismus.

Vortragsprogramm der Bundesregierung

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