Am Tag meiner Abreise machte ich noch einen Abstecher zur deutschen Schule, der German European School Singapore. Ich wurde in eine kleine, moderne Bibliothek geführt und war überrascht zu sehen, dass "Wo auch immer ihr seid" bereits in den Regalen stand, katalogisiert mit einem hellgrünen Etikett, auf dem "LIT PHAM" zu lesen war. Hätte mir jemand vor einem Jahr erzählt, dass mein Roman quer durch die Welt reisen und in dieser Bibliothek landen würden, hätte ich es für utopisch gehalten.
An dieser Schule aber, an der Kinder aus mehr als 66 Nationalitäten unterrichtet werden, waren sie sehr froh darüber. Denn die Geschichte meiner Hauptfigur Kiều, die ihren eigenen Namen nicht aussprechen kann und sich lieber Kim nennt, ist eine, in der sich viele Schüler:innen wiederfinden.
"Wahre Heimat" – gibt es das?
Ich setzte mich zu zwei Mädchen und einem Jungen, die das Buch bereits gelesen hatten und mir dazu einige Fragen stellen wollten. Der Junge hatte vietnamesische Eltern, einen deutschen Namen und kannte keine andere Heimat als Singapur. Neben ihm saß eine Klassenkameradin, die in Deutschland aufgewachsen war und seit Jahren in Asien lebte. Und daneben eine Schülerin, die einen vietnamesischen Vater und eine deutsche Mutter hatte. Aus den Bemerkungen der drei hörte ich heraus, dass sie sich manchmal fragten, wo ihre "wahre Heimat" liege.
"Als ich jünger war, habe ich mit meiner Identität auch gehadert", sagte ich ihnen. "Aber inzwischen sehe ich als großes Geschenk, mehr als eine Kultur und eine Heimat zu haben. Wenn es anders gewesen wäre, hätte ich dieses Buch nie schreiben können." Sie nickten langsam, ich sah, wie es in ihnen ratterte.
Als ich an dem Abend in meinen Flugzeugsitz sank und die Maschine ihren Kurs nach Berlin nahm, fühlte ich mich, als sei ich nicht fünf Tage auf Reisen gewesen, sondern zwei Monate. Noch immer konnte ich es nicht ganz glauben: Ich war ans andere Ende der Welt geflogen. Ich hatte in der Fremde lauter Gleichgesinnte getroffen. Und ich hatte von meinen Leser:innen gelernt, was das Schöne am Schreiben ist. Vielleicht ist das der Zauber am Reisen: dass man in der Ferne so viel über sich selbst erfährt. In den letzten zwei Jahren hatte ich das fast vergessen.