Hayko Bağdat, der nach Deutschland gekommen war und sich der Redaktion angeschlossen hatte, als ihm der Druck in der Türkei zu groß wurde, und ich traten vor die Kamera und sagten: „Sie können uns nicht aufhalten.“ Die Kamera war das Handy von Haykos Sohn.
Als er einmal eine Pause beim Spielen machte, hatten wir es von ihm ausgeliehen. Und was das Senden anging: Wir waren ja keine Fernsehanstalt. Mit Hilfe einiger technisch versierter Freunde produzierten wir in einer Ecke der Redaktion für Periscope. Die Sendung stellten wir anschließend auch auf Facebook, YouTube und Twitter. Wurde ein Kanal gesperrt, sendeten wir über einen anderen. Zehntausende verfolgten eine Sendung. Während wir auf Periscope online waren, hagelte es auf der Kommentarseite ebenso viele Beschimpfungen wie Glückwünsche.
Als hochrangige deutsche Politiker und bald darauf auch aus der Türkei stammende Politiker exklusiv bei uns sprachen, öffneten sich für „Özgürüz“ die Türen. Politisch waren wir gestärkt, doch die infrastrukturellen Mängel waren eklatant. Jedes Mal gab es ein anderes Problem, entweder spielte uns die Beleuchtung einen Streich oder der Ton oder die Sendung. Ich vergesse nie den Schock, als mir unser Regisseur nach einem Interview, das ich mit dem damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert geführt hatte, gespickt mit Sätzen, die jeder für sich eine Schlagzeile wert waren, geknickt sagte: „Leider lief die Sendung ohne Ton.“
Wir alle gaben unser Bestes, dennoch hatten wir arg mit technischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Bald kam ein Sicherheitsproblem dazu.
Der türkische Geheimdienst hatte nicht lange gebraucht, um unsere Adresse herauszufinden, und schickte unverzüglich ein Fernsehteam von einem regierungsnahen Sender aus Istanbul nach Berlin zum „Überfall“.
Eines Tages stand ein Moderator vor unserer Tür, der vor laufender Kamera ins Mikrofon sagte: „Und hier ist das Nest der Verräter!“ Bei der Sendung am nächsten Abend nannte er den Stadtteil, in dem unsere Redaktion liegt, beschrieb das Gebäude, zeigte zu den Fenstern, hinter denen wir arbeiteten, und gab bekannt, wann wir ein und aus gingen. Damit standen wir am Pranger. Aus Angst, es könnte einen Überfall wie bei „Charlie Hebdo“ geben, kündigte meine Sekretärin. Eine andere Mitarbeiterin hielt dem Druck ihrer Familie nicht stand, die sie drängte aufzuhören. Doch mit denen, die bei uns blieben, machten wir weiter.
Der türkische Geheimdienst hatte nicht lange gebraucht, um unsere Adresse herauszufinden, und schickte unverzüglich ein Fernsehteam von einem regierungsnahen Sender aus Istanbul nach Berlin zum ‚Überfall‘.
Und weitere couragierte Menschen stießen zu uns. Bald waren in Istanbul, Ankara und Diyarbakır Reporter und Kameraleute für uns tätig. Unser Nachteil begann sich in einen Vorteil zu verkehren: Wer sich in den Mainstream-Medien kein Gehör mehr verschaffen konnte, zum Schweigen gebracht oder zensiert wurde, meldete sich bei uns und konnte weiterreden. Informanten trugen uns Berichte zu, die niemand sich zu veröffentlichen getraute. Es war schwierig, bekannte Autoren zu gewinnen, das war aber zugleich die Chance, neue Mitstreiter zu finden.
Zu unseren mutigen Reportern vor Ort gesellten sich bald Bürgerreporter hinzu. Wir versuchten, Leuten, die etwas zu sagen hatten, eine Chance auf „Özgürüz“ zu geben, sie bekamen unser Periscope-Password. So entstanden unglaubliche Szenen: Eine Frau etwa, die bei einer Protestaktion festgenommen wurde, sendete über den Account von „Özgürüz“ live aus dem Polizeifahrzeug und berichtete von dem Geschehen.
Gemeinsam erlebten wir, wie ein in einem Meer von Unmöglichkeiten und Unzulänglichkeiten im Exil gegründetes alternatives Medium, auch mit Hilfe der Technologie, für unüberwindbar gehaltene Mauern niederriss und jene erreichte, die für unerreichbar gehalten worden waren. Aufgeregt wie die Macher von Schülerfernsehen sagten wir einmal mehr und allen Beschwerlichkeiten zum Trotz: „Wie gut, dass wir Journalisten sind!“ In meinem Büro gab es einen Fernsehapparat, auf dem ich die türkischen Sender verfolgen konnte. Gleich daneben lag das Studio, aus dem wir sendeten.
Das Land, über das wir sprachen, war so anders als jenes, das ich auf dem Bildschirm sah, dass es mir vorkam, als würde ich jedes Mal, wenn ich die fünf, sechs Schritte aus dem Studio in mein Büro zurückging, einen Abgrund überwinden. Die Angst vor Erdoğan hatte den türkischen Medien schier die Augen verbunden. Neben all dem Geschehen steckte jeder von uns zudem im Strudel Tausender Probleme, Pass, Visum, Aufenthaltserlaubnis, Versicherung, Arbeitserlaubnis, Wohnungssuche, Eröffnung eines Bankkontos, Nachholen unserer Familien.
Die Schwierigkeiten häuften sich und führten bald auch zu Sorgen und Rissen im Team. Daraufhin verlagerten wir die Achse, legten nun den Schwerpunkt auf die Türkei und überließen den Reportern die Initiative. Nun probierten wir ein vor Ort geführtes, freies Publikationsorgan ohne Hierarchie aus, mit zehn Personen in vier Städten, die einander nicht kannten, aber dasselbe Ideal teilten und über eine WhatsApp-Gruppe kommunizierten, sie waren mit einem kleinen Telefon unterwegs, das als Kamera, Mikrofon, Aufnahmegerat, Gegensprechanlage, Computer, Scheinwerfer oder Lautsprecher diente.
Die Angst vor Erdoğan hatte den türkischen Medien schier die Augen verbunden.
So sorgten wir für unser Recht auf Information und Berichterstattung. Auf das Internetportal folgte zunächst der Periscope-Account und dann das monatlich erscheinende zweisprachig türkisch-deutsche „Özgürüz“-Magazin. Anschließend gründeten wir den „Özgürüz“-Verlag für Bücher, die nicht gedruckt werden konnten, weil sie für bedenklich gehalten wurden.
Darüber hinaus beantragten wir die Einrichtung einer deutsch-türkischen Radiosendung. So entwickelten wir uns mehr und mehr zu einer freien, ausschließlich von Journalisten betriebenen und geführten Mediengruppe. Möglicherweise gehen die demokratischen Medien der Zukunft aus dieser originären Initiative hervor, die aus der Erfahrung der Repression heraus entstand.