Flagge der Europäischen Union mit vielen Menschen und verwirrenden Pfeilen, die in verschiedene Richtungen zeigen.
Verworrene Identität

Die nationale Identität in Europa ist heutzutage verworren. Den EU-Anhängern ist es nicht gelungen, eine überzeugende paneuropäische Identität entstehen zu lassen, welche die Pendants in den Mitgliedstaaten ersetzt. Gibt es hierfür eine Lösung?

Abgesehen davon, dass europäische Länder die formellen Voraussetzungen für den Erwerb der Staatsbürgerschaft ändern sollten, müssen sie von der Auffassung nationaler Identität auf der Grundlage der Volkszugehörigkeit abrücken. Vor rund 20 Jahren schlug der deutsche Professor syrischer Herkunft Bassam Tibi vor, eine Leitkultur zur Basis für die deutsche nationale Identität zu machen. Er definierte Leitkultur als Glauben an Gleichheit und demokratische Werte, womit er sich auf die liberalen Ideen der Aufklärung stützte.

Allerdings wurde Tibis Vorschlag von der Linken angegriffen, weil er diese Werte als überlegen gegenüber anderen kulturellen Konzepten darstellen würde. Dadurch kam die deutsche Linke unabsichtlich Islamisten und Rechten entgegen, die an der ethnischen Identität festhielten.

Dabei benötigt Deutschland genau so etwas wie Tibis Leitkultur: einen Normenwandel, der es Deutschen türkischer Abstammung gestatten würde, sich als Deutsche zu bezeichnen. Dieser Prozess bahnt sich an, wenn auch nur schleppend. Irgendwann mag sich eine paneuropäische Identität herausbilden, doch vielleicht muss das außerhalb der mühseligen bürokratischen Entscheidungsstrukturen geschehen, welche die heutige EU kennzeichnen.

Die Europäer haben eine bemerkenswerte Zivilisation geschaffen, auf die sie stolz sein sollten und die Menschen aus anderen Kulturen aufnehmen kann, während sie sich ihrer eigenen Besonderheit bewusst bleibt.

Verglichen mit Europa, sind die Vereinigten Staaten viel aufgeschlossener gegenüber Einwanderern, zum Teil deshalb, weil sie sehr früh in ihrer langen Immigrationsgeschichte eine nationale Bekenntnisidentität entwickelt haben. Anders als manche Europäer sind die US-Amerikaner stolz auf ihre neuen Landsleute und machen – mit Fahnenabordnungen und emotionalen Reden von Ortspolitikern – viel Aufhebens um die Einbürgerungszeremonie.

Wie der Politologe Seymour Martin Lipset hervorzuheben pflegte, kann ein Bürger der USA auf ganz andere Art bezichtigt werden, „unamerikanisch“ zu sein als ein dänischer Bürger, „undänisch“ oder ein japanischer Bürger, „unjapanisch“ zu sein. US-Amerikaner zu sein gründet sich auf eine Reihe von Überzeugungen und einen Way of Life, nicht auf Ethnizität. Von dem Ersteren kann man abweichen, nicht jedoch von der Letzteren. Die nationale Bekenntnisidentität, die nach dem Bürgerkrieg hervortrat, muss heutzutage wieder stark betont und gegen Angriffe sowohl von links als auch von rechts verteidigt werden.

Für eine nationale Bekenntnisidentität

Auf Seiten der Linken versuchen die Befürworter der Identitätspolitik, die US-amerikanische Nationalgeschichte dadurch zu untergraben, dass sie sich auf Fälle von Schikanierung konzentrieren und mitunter die Meinung vertreten, Rassismus, Genderdiskriminierung und andere Formen der systematischen Ausschließung seien in der DNA der USA enthalten. Solche Mängel waren und sind Merkmale der Gesellschaft der Vereinigten Staaten und müssen behoben werden.

Sobald ein Land eine geeignete nationale Bekenntnisidentität gefunden hat, die offen ist für die Vielfalt heutiger Gesellschaften, wird sich das Wesen der Einwanderungsdebatte zwangsläufig ändern.

Aber man könnte auch eine progressive Version der Geschichte darüber erzählen, wie Schranken überwunden wurden und wie das Land im Einklang mit seinen Gründungsprinzipien die Würde einer stetig wachsenden Zahl von Menschen anerkannt hat. Diese Version war Teil der „Neugeburt der Freiheit“, die Abraham Lincoln vorschwebte, und ihrer gedenken die US-Amerikaner an Thanksgiving, dem von ihm geschaffenen Feiertag.

Obwohl die Vereinigten Staaten von der Vielfalt profitiert haben, können sie ihre nationale Identität nicht darauf aufbauen. Eine solche Identität muss substanzielle Ideen wie Konstitutionalismus, Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit anbieten. US-Amerikaner respektieren diese Ideen, und zu Recht verweigert das Land die Staatsbürgerschaft denjenigen, die sie ablehnen.

Sobald ein Land eine geeignete nationale Bekenntnisidentität gefunden hat, die offen ist für die Vielfalt heutiger Gesellschaften, wird sich das Wesen der Einwanderungsdebatte zwangsläufig ändern. In den Vereinigten Staaten und in Europa ist die Auseinandersetzung zurzeit polarisiert. Die Rechte strebt danach, jegliche Einwanderung zu unterbinden und sämtliche Migranten in ihre Heimatländer zurückzuschicken.

Die Linke hingegen meint, liberale Demokratien seien verpflichtet, praktisch jeden aufzunehmen.

Stattdessen sollte sich die Debatte jedoch um die besten Strategien drehen, mit denen Einwanderer in die nationale Bekenntnisidentität eines Landes einbezogen werden können. Sind sie gut integriert, bringen sie eine gesunde Vielfalt in ihre neue Gesellschaft ein, und die Vorteile der Immigration können vollauf genutzt werden. Schlecht angepasste Einwanderer dagegen sind eine Belastung für den Staat und in manchen Fällen eine Gefahr für die Sicherheit.

Die europäischen Regierungen legen Lippenbekenntnisse ab, wenn sie behaupten, für eine bessere Integration sorgen zu wollen, dann jedoch keine weiteren Schritte unternehmen. Die Maßnahmen auf diesem Gebiet sind sehr uneinheitlich, da es stark voneinander abweichende Ansätze gibt.

Illustration von Menschen in einem Schiff auf dem Meer.
Die Debatte sollte sich um die besten Strategien drehen, mit denen Einwanderer in die nationale Bekenntnisidentität eines Landes einbezogen werden können, Illustration: Malte Mueller / fStop via picture alliance

Integration oder Assimilation?

In etlichen Ländern behindern sie die Integration sogar aktiv, wie etwa das niederländische System der Versäulung. Großbritannien und eine Reihe anderer europäischer Staaten finanzieren muslimische Schulen, ebenso wie ihre christlichen und jüdischen Pendants. Dies geschieht im Namen der Gleichberechtigung und spiegelt in gewissem Maße lediglich die geographische Konzentration von Einwanderergemeinschaften wider.

Wenn jedoch Assimilation das Ziel ist, sollte dieses Gefüge durch ein System von Gemeinschaftsschulen mit einem einheitlichen Lehrplan ersetzt werden. In den Niederlanden wäre der Plan kaum politisch machbar, doch genau solche Schritte wären nötig, wenn Regierungen die Integration ernst nehmen würden.

In Frankreich ist die Situation eine andere. Das dortige Modell der republikanischen Staatsangehörigkeit ist, wie in den Vereinigten Staaten, bekenntnishaft und gründet sich auf die revolutionären Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Durch das 1905 verabschiedete Gesetz der laïcité werden Kirche und Staat voneinander getrennt, was öffentlich finanzierte Konfessionsschulen wie die in Großbritannien und den Niederlanden unmöglich macht.

Freilich hat Frankreich drei andere Probleme.

  • Erstens werden Einwanderer, unabhängig vom Wortlaut der Gesetze, durch verbreitete Diskriminierung benachteiligt.
  • Zweitens kränkelt die französische Wirtschaft seit Jahren, und die Arbeitslosenquote ist doppelt so hoch wie etwa in Deutschland. Unter jungen Migranten erreicht die Arbeitslosigkeit 35 Prozent, verglichen mit 25 Prozent für die französische Jugend als Ganzes. Wichtig ist, dass Frankreich seinen Einwanderern die Integration erleichtert, indem es ihre Beschäftigungschancen und ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft erhöht, etwa durch die Liberalisierung des Arbeitsmarktes, um die sich Emmanuel Macron bemüht.
  • Drittens wird die Vorstellung einer französischen nationalen Identität und Kultur als islamfeindlich angegriffen. Im heutigen Frankreich ist schon der Gedanke an eine Assimilation für viele Linke politisch nicht zu verkraften. Aber die Verteidigung des republikanischen Ideals der universalen Bürgerschaft sollte nicht Parteien wie dem Front National überlassen bleiben.

In den Vereinigten Staaten beginnt jegliche Integrationsplanung mit dem öffentlichen Schulwesen. Der Unterricht der Grundprinzipien des Staates ist seit Langem im Rückgang begriffen, nicht nur für Einwanderer, sondern auch für alle Schüler des Landes – ein Trend, der umgekehrt werden muss.

Wie in Europa wird die Integration auch in den USA durch politische Maßnahmen gebremst, etwa dadurch, dass man im Schulwesen von New York City ungefähr 13 Sprachen verwendet. Bi- und multilinguale Programme werden als Mittel für den rascheren Englischerwerb von Nichtmuttersprachlern vermarktet. Sie haben jedoch eine eigene Lobby entwickelt, nämlich die Bürokratie des Erziehungswesens, die ihre Vorrechte unabhängig vom tatsächlichen Spracherwerb verteidigt.

Die Assimilation von Einwanderern wird wahrscheinlich noch energischere Schritte erfordern. In den vergangenen Jahrzehnten haben Gerichtshöfe in den Vereinigten Staaten und anderen entwickelten Demokratien nach und nach den Unterschied zwischen Bürgern und Nichtbürgern verringert. Nichtbürger genießen viele juristische Rechte, etwa das auf ein ordentliches Gerichtsverfahren, das der freien Rede, der Vereinigung, der freien Religionsausübung, dazu das der Nutzung öffentlicher Dienste wie des Erziehungswesens.

Wie in Europa wird die Integration auch in den USA durch politische Maßnahmen gebremst [...].

Daneben haben Nichtbürger und Bürger gemeinsame Pflichten: Von beiden wird erwartet, dass sie den Gesetzen gehorchen und Steuern zahlen, wiewohl in den Vereinigten Staaten nur Bürger als Geschworene herangezogen werden dürfen.

Eine schärfere Trennung liegt bei Nichtbürgern ohne legale Aufenthaltsberechtigung vor, da diese abgeschoben werden können. Doch auch sie haben Anspruch auf ein ordentliches Verfahren. Die einzige bedeutende Befugnis, die allein durch die Staatsbürgerschaft vermittelt wird, ist das Wahlrecht. Außerdem können Bürger die Grenze ungehindert überschreiten und im Ausland gegebenenfalls auf die Hilfe ihrer Regierung zurückgreifen. So geringfügig diese Unterschiede sind, ist es doch wichtig, an ihnen festzuhalten.

Universelle Grundrechte in einer nationalen Gemeinschaft

Schwarz-weiß: Eine Hand wirft einen Wahlzettel in eine Wahlurne.
Das Wahlrecht gewährt Individuen einen Anteil an der Staatsmacht, Foto: Element5 Digital via unsplash

Die menschlichen Grundrechte sind universal, aber die volle Nutzung der aktiv von der Staatsmacht durchgesetzten Rechte ist als Bonus dafür zu verstehen, dass man einer nationalen Gemeinschaft angehört und deren Vorschriften akzeptiert. Das Wahlrecht ist besonders relevant, denn es gewährt Individuen einen Anteil an der Staatsmacht.

Als Mensch mag ich ein abstraktes Recht auf Bürgerschaft und politische Repräsentation haben, doch als Bürger der Vereinigten Staaten kann ich nicht erwarten, in Italien oder Ghana wählen zu können, selbst wenn ich dort ansässig bin. Zeitgenössische liberale Demokratien verlangen nicht viel für den staatlichen Schutz der Rechte ihrer Bürger, insbesondere des Wahlrechts. 

 

Das nationale Gemeinschaftsgefühl könnte durch einen allgemeinen Pflichtdienst gestärkt werden, der deutlich machen würde, dass die Staatsbürgerschaft Engagement und Opfer erfordert. Solch ein Pflichtdienst ist entweder beim Militär oder im zivilen Bereich denkbar. Im oben erwähnten Staatsbürgerschaftseid kommt dieser Gedanke zum Ausdruck: Er sieht den bewaffneten oder unbewaffneten Dienst für das Land vor, „wenn dies vom Gesetz verlangt wird“. Wenn der Dienst gut strukturiert ist, könnte er junge Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten, Regionen, Hautfarben und Ethnien zusammenbringen.

Wie alle Arten gemeinsam dargebrachter Opfer würde er Neuankömmlinge in die Landeskultur einbeziehen. Der Pflichtdienst könnte die Rolle einer heutigen Version des klassischen Republikanismus spielen, einer Form der Demokratie, die Tugend und Gemeinsinn fördert, statt die Bürger einfach ihrem Privatleben zu überlassen. Sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten würde ein Assimilationsprogramm die wesentlichen Fragen der Zuwanderungsraten und der Geschwindigkeit des Wandels angehen müssen.

Der Text basiert auf Francis Fukuyamas Buch "Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet", Hamburg: Hoffmann & Campe, 2019.

Über den Autor
Portrait von Francis Fukuyama
Francis Fukuyama
Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stanford, Kalifornien

Francis Fukuyama ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stanford und leitet dort das Center on Democracy, Development and the Rule of Law. In seinem Essay „Das Ende der Geschichte?“ bezeichnete er 1989 die liberale Demokratie als Höhepunkt der gesellschaftlichen Evolution. Im Oktober 2022 erschien sein neues Buch „Der Liberalismus und seine Feinde“, das sich mit der Bedrohung des Liberalismus befasst. Als einer der wichtigsten politischen Theoretiker der USA ist Fukuyama Vorsitzender des Redaktionsausschusses von American Purpose.
Bücher und Monografien

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