Von den Gegnern verhöhnt
Der Warschauer Vertrag erkannte die deutsch-polnische Grenze an. Als „Verzichtspolitiker“ wurde Brandt deshalb von seinen politischen Gegnern verhöhnt. Der Verzicht galt aber nicht mehr Gebieten, die man de facto seit 25 Jahren nicht mehr besaß; er galt den Ansprüchen darauf, die jetzt nicht mehr aufrechterhalten wurden. Es gab in Deutschland deswegen Morddrohungen gegen Brandt und seinen FDP-Außenminister Walter Scheel. Der Vertrag sollte nach Brandts Worten einen Schlussstrich setzen unter die Leiden und Opfer einer bösen Vergangenheit und eine Brücke schlagen zwischen beiden Staaten und Völkern.
Dem Warschauer Vertrag war der Moskauer Vertrag vorausgegangen, der im August 1970 im Katharinensaal des Kremls in Moskau geschlossen worden war. Beide Länder verpflichteten sich darin, den Entspannungsprozess zu fördern, damit sich die Lage in Europa normalisiert. Es ist das Wagnis der Versöhnung, das in der zitierten Warschauer Rede schimmert. Die Rede und der Vertrag, dem diese Rede gilt, sind ein Beispiel für großen politischen Mut; es war ein kühnes und ein notwendiges Unterfangen. Der Graben zum Ostblock, den Brandt damals mit den Ostverträgen überwunden hat, war noch tiefer als die Gräben, die sich heute zu Moskau auftun. Brandt hat damals nicht das fehlende Vertrauen beklagt, er hat mit seiner Politik versucht, das gegenseitige Misstrauen zu überwinden und Vertrauen zu schaffen. Es fehlt heute ein Politiker seines Formats, diese Kühnheit zu wagen.
In der Regierungserklärung Willy Brandts vom Oktober 1969 steht der programmatische Satz: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein – nach innen und nach außen.“ Indes: Das gemeinsame europäische Haus sieht heute fast schon wieder so aus wie der Bahnhof von Bayerisch Eisenstein in den Zeiten des Kalten Krieges: Dort, an der tschechischen Grenze, an der Grenze zum damaligen Ostblock, ging eine Mauer quer durch die Bahnhofshalle. Das Klo war im Osten. 1991 öffnete Helmut Kohl den Grenzbahnhof wieder.
Es ist Zeit für die Neuöffnung Europas. Russland ist ein Teil davon, so groß die Vorwürfe gegen Moskau heute auch sind. Wie kann die Politik angesichts des Afghanistan-Debakels neu beginnen? Das Leben lebt mit und von Ritualen; und die Rituale leben von ihrer Wiederholung und von inszenierter Erinnerung. Rituale antworten auf Erwartungen, sie schaffen auch Erwartungen, und wenn diese nicht erfüllt werden, ist das irritierend. Es war irritierend, dass die Politik die Bundeswehr alleingelassen hat, als am 30. Juni die letzten Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan zurückkehrten. Sie kamen ja nicht aus einem Manöver, sie kamen aus einem zwanzigjährigen Krieg.
Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, weil der Bundestag über ihre Entsendung entscheidet. Aber da war niemand von denen, die die Bundeswehr in den Einsatz geschickt hatten. Mit Siegern lässt man sich gern sehen. Mit Verlierern nicht.
150. 000 waren insgesamt dort im Einsatz, 59 verloren ihr Leben. 12,5 Milliarden Euro hat dieses militärische Engagement gekostet. Auf dem Fliegerhorst Wunstorf bei Hannover landeten also die letzten rückkehrenden deutschen Soldaten. Alles umsonst? Nach dem Abzug aus Afghanistan: Auf das Nichts folgt das volle Programm, 264 Soldatinnen und Soldaten – und es war eine stille Heimkehr: Da war kein Bundespräsident, keine Kanzlerin, keine Verteidigungsministerin. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, weil der Bundestag über ihre Entsendung entscheidet. Aber da war niemand von denen, die die Bundeswehr in den Einsatz geschickt hatten. Mit Siegern lässt man sich gern sehen. Mit Verlierern nicht.