Illustratioin: Papierflieger fliegen in Richtung Sonne, deren Strahlen, die Sterne der EU sind.

Visionen für Vertrauen

Die Europäische Union wurde auf einer Vision aufgebaut: Einer Vision für ein freies und geeintes Europa. Mittlerweile ist Europa nicht mehr Friedens- und Bürgerprojekt, sondern ein Welthandelskonzern. Für eine Perspektive benötigt die Union neue Bilder.

Seit Helmut Schmidt vor Jahrzehnten einmal auf eine unwillkommene Frage eine pampige Antwort gegeben hat, muss jeder, der von einer „Vision“ redet, damit rechnen, dass man ihn fragt, ob er krank sei. Als nämlich ein Journalist beim damaligen Bundeskanzler monierte, dass ihm die große Vision fehle, stellte der die geflügelte Diagnose: Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen. Der Satz ist seitdem immer und immer wieder zitiert worden; das hat der Politik und der Gesellschaft nicht unbedingt gutgetan.

 

Visionen für Europa

Das Schmidt-Diktum dient einer dahinwurstelnden Politik als wohlfeile Rechtfertigung, und es adelt die Beschränktheit derer, die nur von zwölf Uhr bis zum Mittag denken. Das Zitat hat die Funktion, Visionen zu verhindern, um den Status quo zu zementieren. Das hat auch Schmidt nicht gefallen, als er im Alter als weltweiser Publizist eindringlich für eine atomwaffenfreie Welt warb; zwar war dies zweifelsohne eine Vision, aber er nannte sie vorsichtshalber „Zielsetzung“. Emmanuel Macron, der französische Präsident, hat im Frühjahr 2019 ein leuchtendes Zukunftsbild von Europa entworfen.

„Das Europa, das wir kennen, ist zu langsam, zu schwach, zu ineffektiv“, sagte Macron in seiner Rede vor Studenten der Pariser Universität Sorbonne, und er entwarf Pläne für die „Neugründung eines souveränen, geeinten und demokratischen Europas“, sprach von einem Eurozonenhaushalt, einem gemeinsamen Militär und einheitlicheren Steuern. Macron ist dafür nicht zum Arzt, aber in den Wahlkampf geschickt worden; man hat seine Ideen, auch in Deutschland, herablassend behandelt und als Wahlpropaganda abgetan – gerade so, als sei es etwas Schlechtes, vor der Europawahl leidenschaftlich Propaganda für Europa zu machen.

Europa braucht ein populäres Zukunftsbild; es muss, das ist die Lehre aus dem Brexit, einen neuen Magnetismus entwickeln: nicht Abstoßung, sondern Anziehung.

Glauben diejenigen, die Macron als den Wolkenkuckucksheimer belächelt haben, dass man Wähler eher gewinnt, wenn man mit der EU-Herrschaftssprache daherkommt und mit Wörtern wie „Finanzstabilisierungsfazilität“ hantiert? Europa braucht aber, anders als Macron meint, auch keine neuen „Deregulierungsschübe“. Es braucht ein populäres Zukunftsbild; es muss, das ist die Lehre aus dem Brexit, einen neuen Magnetismus entwickeln: nicht Abstoßung, sondern Anziehung. Nur mit dem Lobpreis des Binnenmarktes schafft man das nicht, nicht mit der Logik, der dieser Binnenmarkt folgt.

 

Zerknüllte Zehn-Euro-Banknote auf dem Asphalt.
Das Wettbewerbsprinzip hat in der EU Verfassungsrang, ohne dass es Verfassung heißt, Foto: Imelda via unsplash

Der Europäische Gerichtshof hat schon vor 55 Jahren das Gemeinschaftsrecht, das ganz überwiegend Wirtschaftsrecht war und ist, zu einer Verfassung erklärt, die Vorrang habe vor jedem nationalen Recht. Das geschah in bester Absicht, weil so die europäische Integration vorangetrieben werden sollte. Aber auf diese Weise bekamen die Freihandels-, Wirtschafts- und Wettbewerbsregeln absoluten Wert und wurden sakrosankt. Das Wettbewerbsprinzip hat in der EU Verfassungsrang, ohne dass es Verfassung heißt. Man muss sich einmal vorstellen, was aus Deutschland geworden wäre, wenn nicht das Grundgesetz das Leben geprägt hätte, sondern das Handelsgesetzbuch. Eine soziale Marktwirtschaft hätte sich schwerlich entwickelt.

Genau deswegen tut sich das Soziale in Europa so schwer. Das Binnenmarkt-Europa ist kein Friedens- und Bürgerprojekt, es ist eine Societas Europaea, ein Welthandelskonzern – in dem aber die einzelnen Gesellschaften miteinander konkurrieren, und zwar nicht zum Wohl des Ganzen. „In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben“, hat der frühere EU-Kommissionspräsident Jacques Delors einmal gesagt. Die Konsequenzen aus seiner Erkenntnis hat er leider nicht gezogen. Europa muss freigeschaufelt werden vom Geröll des Neoliberalismus; dafür steht Macron nun nicht, aber er hat immerhin ein Zukunftsbild von Europa, er will eine Reform der geltenden Verträge; er will die Demokratisierung Europas durch transnationale Listen.

Europa muss freigeschaufelt werden vom Geröll des Neoliberalismus; dafür steht Macron nun nicht, aber er hat immerhin ein Zukunftsbild von Europa, er will eine Reform der geltenden Verträge; er will die Demokratisierung Europas durch transnationale Listen.

Ohne Visionen gäbe es das heutige Europa gar nicht; und ohne neue Zukunftsbilder wird die Europäische Union keine Zukunft haben. Dieses Europa entstand, unter anderem, aus Zukunftsbildern, die drei Italiener 1941 in Gefangenschaft heimlich auf Zigarettenpapier geschrieben haben. Die Antifaschisten Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni haben, von Mussolini auf die Insel Ventotene im Golf von Gaeta verbannt, dort ihre Ideen „für ein freies und geeintes Europa“ entwickelt – das „Manifest von Ventotene“. Diese Geschichte von den 70 Zigarettenblättchen gehört zu den viel zu wenig bekannten Gründungsgeschichten. Ein europäischer Bundesstaat war darauf beschrieben, einer, der eine Armee und eine Polizei aufstellt, der eine Gemeinschaftswährung einführt und der für eine gemeinwohlorientierte Wirtschaft sorgt.

 

Im Bauch eines Brathähnchens

Diese Zukunftsideen für Europa wurden zu einer Zeit geschrieben, in der Hitler im Zenit seiner Macht war. Kraft der Visionen wurde „Das Manifest" im Bauch eines Brathähnchens aufs Festland und nach Rom geschmuggelt. Große Ideen brauchen solche Geschichten; „Narrative“ sagt man heute. Was vor 78 Jahren auf der Insel der Verbannten aufs Zigarettenpapier geschrieben wurde, bezeugt die Kraft von Visionen.

Europa und die Welt leiden unter Fundamentalismus, Nationalismus und Fanatismus; aber am meisten unter dem Fatalismus, der das alles kraftlos als schicksalhaft hinnimmt.

Macron setzt auf diese Kraft. Noch besser wäre es, sie würde nicht von oben kommen, sondern von unten als länderübergreifende Bewegung für ein neues Europa. Europa und die Welt leiden unter Fundamentalismus, Nationalismus und Fanatismus; aber am meisten unter dem Fatalismus, der das alles kraftlos als schicksalhaft hinnimmt. In dieser Situation ist Greta Thunberg, die den Großen der Weltpolitik die Leviten liest, nicht nur ein Idol der Jugend, sondern eine Hoffnungsgestalt – weil sie weltweit Aufmerksamkeit auf sich und auf die Fridays for Future zieht. Man kann natürlich über die erst 19 Jahre alte Greta noch überheblicher reden als über Macron. 

 

Aber es kann passieren, dass einem die fatalistische Abgeklärtheit bald vergeht: Wer glaubt, dass nichts etwas hilft, dem ist wirklich nicht zu helfen. Aufklärung ist etwas anderes; sie ist der Ausgang aus dem selbst gemachten Fatalismus.

Ohne Visionen gäbe es auch nicht die Ostpolitik Willy Brandts. Als die Maschine des Bundeskanzlers auf dem Militärflugplatz in Warschau landete, standen am Rande des Rollfelds 376 Journalisten. Noch nie zuvor in Polen hatte ein politisches Ereignis so viele Journalisten auf die Beine gebracht. Zählte man die Ehrengäste, die Diplomaten, die Funktionäre und die Geheimpolizisten hinzu, waren mehr Leute anwesend, als der deutsch-polnische Vertrag Wörter hat: 435 Wörter… So beschrieb damals Hans Ulrich Kempski, Chefeporter der Süddeutschen Zeitung (SZ), akribisch, wie er in solchen Dingen war, den Auftakt des ersten Besuchs eines Regierungschefs der Bundesrepublik in Polen.

Wandzeichnung von Greta Thunberg an einem Hochhaus.
Greta Thunberg als neue Hoffnungsträgerin, Foto: Aslihan Altin via unsplash

Es war der 6. Dezember, der Nikolaustag des Jahres 1970. Willy Brandt, der einstige Widerstandskämpfer gegen Hitler, war seit einem guten Jahr Bundeskanzler. Er kam nach Polen, um den Warschauer Vertrag zu unterschreiben, beschimpft und angegiftet von der CDU/CSU Opposition. Es ist nun über 50 Jahre her. Es war einer der historischen Höhepunkte der neuen Ostpolitik, einer Politik, welcher der Brandt-Vertraute Egon Bahr schon 1963 das Motto „Wandel durch Annäherung“ gab.

Egon Bahr war Brandts Vordenker und Staatssekretär. Kempski schrieb in der SZ: „Ausgehandelt in sechs Runden zäher Vorgespräche und dann von den Außenministern im November während einer elftägigen Konferenz, bei der es bisweilen auf Biegen und Brechen ging, endlich zu Papier gebracht, verspricht dieser Vertrag unter dem Zwang der Geschichte, dass die 102 958 Quadratkilometer umfassenden Provinzen östlich der Oder-Neiße-Linie endgültig als deutsches Staatsgebiet abgeschrieben werden.“ Der Fläche nach ging es um ein Viertel des alten Reichsgebiets: um Ostpreußen, Pommern, Schlesien, um Danzig, Stettin, Polen und Breslau, um die Hälfte des alten Preußen.

Im Lager der Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik rumorte es heftigst. Brandt wusste das freilich, und er sagte das auch in seiner Rede bei der Vertragsunterzeichnung: „Für viele meiner Landsleute, deren Familien im Osten gelebt haben, ist dies ein problemgeladener Tag. Manche empfinden es so, als ob jetzt der Verlust eintritt, den sie vor 25 Jahren erlitten haben.“ Aber man müsse die europäischen Realitäten anerkennen: „Mit diesem Vertrag wird nichts verspielt, was nicht Hitler schon verspielt hat.“

 

Von den Gegnern verhöhnt 

Der Warschauer Vertrag erkannte die deutsch-polnische Grenze an. Als „Verzichtspolitiker“ wurde Brandt deshalb von seinen politischen Gegnern verhöhnt. Der Verzicht galt aber nicht mehr Gebieten, die man de facto seit 25 Jahren nicht mehr besaß; er galt den Ansprüchen darauf, die jetzt nicht mehr aufrechterhalten wurden. Es gab in Deutschland deswegen Morddrohungen gegen Brandt und seinen FDP-Außenminister Walter Scheel. Der Vertrag sollte nach Brandts Worten einen Schlussstrich setzen unter die Leiden und Opfer einer bösen Vergangenheit und eine Brücke schlagen zwischen beiden Staaten und Völkern.

Dem Warschauer Vertrag war der Moskauer Vertrag vorausgegangen, der im August 1970 im Katharinensaal des Kremls in Moskau geschlossen worden war. Beide Länder verpflichteten sich darin, den Entspannungsprozess zu fördern, damit sich die Lage in Europa normalisiert. Es ist das Wagnis der Versöhnung, das in der zitierten Warschauer Rede schimmert. Die Rede und der Vertrag, dem diese Rede gilt, sind ein Beispiel für großen politischen Mut; es war ein kühnes und ein notwendiges Unterfangen. Der Graben zum Ostblock, den Brandt damals mit den Ostverträgen überwunden hat, war noch tiefer als die Gräben, die sich heute zu Moskau auftun. Brandt hat damals nicht das fehlende Vertrauen beklagt, er hat mit seiner Politik versucht, das gegenseitige Misstrauen zu überwinden und Vertrauen zu schaffen. Es fehlt heute ein Politiker seines Formats, diese Kühnheit zu wagen.

In der Regierungserklärung Willy Brandts vom Oktober 1969 steht der programmatische Satz: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein – nach innen und nach außen.“ Indes: Das gemeinsame europäische Haus sieht heute fast schon wieder so aus wie der Bahnhof von Bayerisch Eisenstein in den Zeiten des Kalten Krieges: Dort, an der tschechischen Grenze, an der Grenze zum damaligen Ostblock, ging eine Mauer quer durch die Bahnhofshalle. Das Klo war im Osten. 1991 öffnete Helmut Kohl den Grenzbahnhof wieder.

Es ist Zeit für die Neuöffnung Europas. Russland ist ein Teil davon, so groß die Vorwürfe gegen Moskau heute auch sind. Wie kann die Politik angesichts des Afghanistan-Debakels neu beginnen? Das Leben lebt mit und von Ritualen; und die Rituale leben von ihrer Wiederholung und von inszenierter Erinnerung. Rituale antworten auf Erwartungen, sie schaffen auch Erwartungen, und wenn diese nicht erfüllt werden, ist das irritierend. Es war irritierend, dass die Politik die Bundeswehr alleingelassen hat, als am 30. Juni die letzten Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan zurückkehrten. Sie kamen ja nicht aus einem Manöver, sie kamen aus einem zwanzigjährigen Krieg.

Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, weil der Bundestag über ihre Entsendung entscheidet. Aber da war niemand von denen, die die Bundeswehr in den Einsatz geschickt hatten. Mit Siegern lässt man sich gern sehen. Mit Verlierern nicht.

150. 000 waren insgesamt dort im Einsatz, 59 verloren ihr Leben. 12,5 Milliarden Euro hat dieses militärische Engagement gekostet. Auf dem Fliegerhorst Wunstorf bei Hannover landeten also die letzten rückkehrenden deutschen Soldaten. Alles umsonst? Nach dem Abzug aus Afghanistan: Auf das Nichts folgt das volle Programm, 264 Soldatinnen und Soldaten – und es war eine stille Heimkehr: Da war kein Bundespräsident, keine Kanzlerin, keine Verteidigungsministerin. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, weil der Bundestag über ihre Entsendung entscheidet. Aber da war niemand von denen, die die Bundeswehr in den Einsatz geschickt hatten. Mit Siegern lässt man sich gern sehen. Mit Verlierern nicht.

 

Nach dem Abzug aus Afghanistan 

Der Militäreinsatz endete nämlich nicht einfach mit einem Abzug der westlichen Truppen. Er endete mit einem Desaster. Er endete mit einer Niederlage. Er endete damit, dass das vermeintlich Erreichte wie ein Kartenhaus zerfiel.

 

Ein Militärhubschrauber fliegt über einer Wüste, im Hintergrund sind Berge
Der Militäreinsatz in Afghanistan endete in einer Niederlage, Foto: Andre Klimke via Unsplash

Kaum waren die westlichen Truppen weg, übernahmen die Taliban das Regiment – kampflos. Das Land fiel ihnen quasi in den Schoß. Das war exakt das, was der Einsatz der Bundeswehr und der anderen westlichen Truppen 20 Jahre lang hatte verhindern wollen.

Für die Deutschen hatte der Einsatz seinerzeit eine neue verteidigungspolitische Doktrin gebracht: „Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“, sagte am 11. März 2004 der damalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck. Wenn das so war, wenn das so ist – wo ist jetzt diese Sicherheit? Die Leere von Wunstorf. Es gibt Gesten, die dadurch Gesten, sogar besonders große Gesten sind, dass sie nicht stattfinden. Die Abwesenheit der Politik in Wunstorf war eine solche Geste.

Sie war der Ausdruck einer Frage, die offiziell nicht gestellt wurde: Alles umsonst? Sie wurde aber dann durch die schnelle, demütigende Machtübernahme durch die Taliban beantwortet: Alles umsonst! Die Leere von Wunstorf war auch bezeichnend dafür, dass die Bundesrepublik in den 65 Jahren seit der Gründung der Bundeswehr kein richtiges Verhältnis zu ihr gefunden hat. Es gibt, nicht zuletzt wegen des einstigen deutschen Militarismus, keine Militärtradition. Der Empfang der zurückgekehrten Streitkräfte sollte dann umfassend nachgeholt werden.

Zu den staatlichen Ritualen gehört die kollektive Trauer am Volkstrauertag. Vor 20 Jahren, im Jahr 2001, hatte es der Kalender so gefügt, dass der Volkstrauertag unmittelbar auf den Beschluss des Bundestags folgte, Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Es war dies am 16. November 2001. Die deutsche Teilnahme am Kriegseinsatz am Hindukusch war damals so umstritten, dass Kanzler Schröder sich gezwungen sah, die Abstimmung darüber mit der Vertrauensfrage zu verbinden. Der evangelische Bischof Wolfgang Huber äußerte seinerzeit bei der Volkstrauertagsfeier Zweifel daran, ob der Krieg als äußerstes Mittel der Politik tauge. Kanzler Schröder antwortete im Bundestag: Es zähle zu den bitteren Wahrheiten, dass der Frieden in Afghanistan „nur durch den Krieg näher gerückt“ sei. Wir wissen heute, dass er nicht näher gerückt ist.

Im Hier und Jetzt geht es oft um Waffenexporte. Auf dem Papier steht Deutschland vorzüglich da. Auf dem Papier gibt es in der Bundesrepublik viele politische Grundsätze und Richtlinien zur Kontrolle von deutschen Rüstungsexporten. Einige dieser Grundsätze sind relativ neu. Sie lesen sich sehr gut; sie sind aber nicht gut, weil es sich nicht um rechtsverbindliche Regeln handelt.

Kanzler Schröder antwortete im Bundestag: Es zähle zu den bitteren Wahrheiten, dass der Frieden in Afghanistan „nur durch den Krieg näher gerückt“ sei. Wir wissen heute, dass er nicht näher gerückt ist.

Unter das strenge Kriegswaffenkontrollgesetz fällt nur ein kleiner Teil der Rüstungsgüter; die große Mehrheit fällt unter das Außenwirtschaftsgesetz. Pistolen, Revolver und die meisten Gewehrmodelle (Kleinwaffen genannt) werden nach diesem vergleichsweise lockeren Gesetz behandelt. In den „Politischen Grundsätzen“ der Bundesregierung von 2019 wird dazu ausgeführt, dass es ein übergeordnetes Ziel der staatlichen Rüstungsexportpolitik sei, das Risiko der Weiterverbreitung dieser sogenannten Kleinwaffen und der leichten Waffen zu minimieren. Es wäre schön, wenn es so wäre; es ist aber nicht so. Die genannten Grundsätze können von der Bundesregierung und von den Rüstungsfirmen ohne rechtliches Risiko ignoriert werden.

„Frieden schaffen ohne Waffen“: Der Reim ist fein, aber die internationalen Verhältnisse sind ungereimt. Eine neue Löchrigkeit und Halbherzigkeit der Sicherheit. In Wirklichkeit ähnelt das deutsche Konstrukt der Rüstungskontrolle daher nach wie vor einem Schweizer Käse. Opfer der alten Löchrigkeit und der neuen Halbherzigkeit sind Menschen wie Innocent Opwonya aus Uganda. Er war noch keine zehn Jahre alt, als er als Kindersoldat rekrutiert wurde. Die Waffe, mit der er kämpfen musste, war ein deutsches Sturmgewehr.

 

Eine neue Löchrigkeit der Sicherheit

Innocent Opwonya berichtet heute, Jahre später, so darüber: „Als mein zehnter Geburtstag nahte, trat der Teufel über meine Türschwelle. Ich wurde nachts von der Lord’s Resistance Army entführt und zu einem ihrer Verstecke in der Darfur-Region im heutigen Südsudan gebracht. Ich war noch so jung und musste mit ansehen, wie mein Vater direkt vor meinen Augen erschossen wurde, als er versuchte, mir zu helfen. Ich hatte keine Alternative, ich musste eine Waffe in die Hand nehmen und um mein Überleben kämpfen. Die Waffe, die ich von den Rebellen bekam, war ein deutsches G-3-Sturmgewehr.“

Die Studie, welche die beiden Hilfsorganisationen „Brot für die Welt" und „Terres des Hommes" dazu vorgelegt haben, heißt: „Kleinwaffen in kleinen Händen“; der Untertitel: „Deutsche Rüstungsexporte verletzen Kinderrechte.“ Darin geht es vor allem um die Rüstungsexporte, die schwere Verletzungen von Kinderrechten begünstigen. Dies ist eine sehr brisante Studie, weil sich Deutschland als treibende Kraft sieht bei den Bemühungen zum Schutz von Kindern in Konfliktregionen – und sich etwas darauf zugutehält.

Die Studie sieht das anders: Sie zeigt auf, welche fatale Auswirkungen bewaffnete Gewalt in Krisengebieten auf Kinder und Jugendliche hat; und sie legt dar, dass fast alle Staaten, denen von den Vereinten Nationen schwere Kinderrechtsverletzungen vorgeworfen werden, seit 2014 deutsche Waffen erhalten haben.

Drei Patronen liegen auf einem Holztisch.
Die Studie dokumentiert deutsche Genehmigungen für Rüstungsexporte in zahlreiche Konfliktländer, Foto: Velizar Ivanov via Unsplash

Das ist das Fazit vom Autor der Studie, Christopher Steinmetz vom Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit: ein umfassendes Rüstungsexportkontrollgesetz gibt es nicht. Seine Studie dokumentiert deutsche Genehmigungen für Rüstungsexporte in zahlreiche Konfliktländer – und macht deutlich, dass Deutschland damit gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen verstößt. In den Jahren 2015 bis 2019 hat Deutschland allein an Länder der saudisch geführten Militärkoalition im Jemen Rüstungsexporte im Wert von mehr als 6,3 Milliarden Euro genehmigt.

 

Überall deutsche Waffen

Drei Faktoren befördern die ungehinderte Verbreitung deutscher Waffen und deutscher Munition: Lizenzproduktion, unkontrollierte Weitergabe und Munitionsexporte. Diese Erkenntnis muss Auswirkungen haben auf die deutsche Rüstungsexportpolitik: Es braucht nicht nur ein Kriegswaffenkontrollgesetz, es braucht ein umfassendes Rüstungsexportkontrollgesetz, das auch die Exporte sogenannter „Kleinwaffen“ wie Sturmgewehre verbietet; es braucht einen Stopp aller Rüstungsexporte in Krieg führende und menschenrechtsverletzende Staaten. Womöglich ist diese neue Studie die Initialzündung für einen neuen Friedensappell, der „Abrüsten statt Aufrüsten“ heißt.

Drei Faktoren befördern die ungehinderte Verbreitung deutscher Waffen und deutscher Munition: Lizenzproduktion, unkontrollierte Weitergabe und Munitionsexporte.

Eine Initiative dieses Namens (getragen unter anderem von Vertretern der Welthungerhilfe, von Greenpeace, DGB, IG-Metall, Verdi, dem Friedensratschlag, dem Deutschen Kulturrat und von Fridays for Future) hat im Oktober einen „Frankfurter Appell“ publiziert und ruft zum bundesweiten Aktionstag gegen die Steigerung der Rüstungsausgaben auf – zum Beispiel für waffenbestückte Drohnen; oder für das Taktische Luftverteidigungssystem; Experten schätzen dessen Kosten bis zum Jahr 2030 auf 13 Milliarden Euro.

Der neue „Frankfurter Appell“ bezieht sich ausdrücklich auf den „Krefelder Appell“ gegen den NATO-Doppelbeschluss und gegen die Stationierung von neuen atomaren Mittelstreckenraketen in Westeuropa; dem schlossen sich damals, im Jahr 1980, fünf Millionen Menschen an. Die neue Friedensinitiative wendet sich gegen das NATO-Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für militärische Zwecke auszugeben. Die Zwei-Prozent-Zahl ist ziemlich irrational; rational ist aber die Rechnung, die sich dem anschließt: Deutschland müsste 70 bis 80 Milliarden Euro für Aufrüstung ausgeben, horrend mehr als die aktuellen 50 Milliarden. 2019 wurden weltweit 1917 Milliarden Dollar für Rüstung ausgegeben.

Die internationalen Verhältnisse und Interessen sind ungereimt, sie sind so vertrackt, dass ich selbst nicht überzeugt bin, dass jeder Konflikt bei gutem Willen ohne Gewalt oder ihre Androhung zu lösen ist.

Die Aufrüstung unserer Welt hat uns in Zwänge geführt, die nicht einfach zu lösen sind. „Frieden schaffen ohne Waffen“ geht in seinem Reim so schön leicht über die Lippen. Aber in Abrüstungsverhandlungen redet man sich vergeblich den Mund fusselig. Die internationalen Verhältnisse und Interessen sind ungereimt, sie sind so vertrackt, dass ich selbst nicht überzeugt bin, dass jeder Konflikt bei gutem Willen ohne Gewalt oder ihre Androhung zu lösen ist. Ich bin, ich gebe es zu, kein Pazifist. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es eine Sache der Vernunft ist oder am mangelnden Mut liegt. Immer wieder scheint es alternativlos zu sein, den Rebellen Waffen zu schicken, Bomben für die Durchsetzung der Menschenrechte zu werfen, militärisch einzumarschieren. Aber aus den aufgerüsteten Rebellen von heute werden die Terroristen von morgen. 175. 000 Unterschriften hat die neue Friedensinitiative schon gegen die Aufrüstung gesammelt. Bis zu den fünf Millionen von vor 40 Jahren ist es noch ein Stück. Derzeit redet alle Welt von den Impfstoffen gegen Corona und deren Wirksamkeit. Vielleicht sind Initiativen wie „Abrüsten statt Aufrüsten“ ein Impfstoff für den Frieden.

 

Dieser Text basiert auf Prantls neuestem Buch "Himmel, Hölle, Fegefeuer", das 2021 im Langen Müller Verlag, München erschienen ist.

Über den Autor
Portrait von Heribert Prantl
Heribert Prantl
Journalist und Autor

Heribert Prantl ist Journalist und Autor. Er war Leiter des Ressorts Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung (SZ), Leiter des Ressorts Meinung und bis 2019 acht Jahre lang Mitglied der Chefredaktion. Prantl lehrt Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld. Bis 1988 arbeitete er als Richter und Staatsanwalt in Bayern. 

Bücher (Auswahl):

  • Himmel, Hölle, Fegefeuer. Eine politische Pfadfinderei in unsicheren Zeiten. LMV, München 2021
  • Todesursache: Flucht. Eine unvollständige Liste. Mit Bernd Mesovic, Rolf Gössner, Heinrich Bedford-Strohm. Hirnkost, Berlin 2019
  • Die Kraft der Hoffnung: Denkanstöße in schwierigen Zeiten. Süddeutsche Zeitung, München 2017
  • Denkanstöße von Heribert Prantl: Der Zorn Gottes | Alt.Amen.Anfang. | Kindheit. Erste Heimat. Süddeutsche Zeitung, München 2015
  • Im Namen der Menschlichkeit: Rettet die Flüchtlinge! (Streitschrift). Ullstein eBooks, Berlin 2015

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.