Illustration: Links stehen Quader mit russischer und chinesischer Flagge, rechts stehen Quader mit US-amerikanischer und japanischer Flagge, deren Schatten jeweils Ausrufezeichen darstellen. In der Mitte steht ein kleiner Quader mit europäischer Flagge, dessen Schatten die Form eines Fragezeichens annimmt.

Welche Idee von Europa?

Die russische Invasion in der Ukraine hat Europa und seine Verbündeten zusammengeschweißt. Jetzt geht es darum, diesen Zusammenhalt auszubauen. Sind gemeinsame Streitkräfte der Weg dahin?

Warum nun sollte Europa bei diesem Veitstanz mitmachen? Weil es eindeutig eine Ausnahme ist: Es fügt sich nicht in die Welt des Kampfs um Vorherrschaft zwischen America first, Russia first und China first.

Keine Armee aufzubauen, würde Europa zum Spielball des Machtkampfs der großen drei machen, wie es ja jetzt schon der Fall ist. Die Vereinigten Staaten (unter Trump) und Russland haben sich zuletzt alle Mühe gegeben, die europäische Einheit zu zerstören, während China eine zweideutige Distanz wahrt.

Zunehmend wird Europa zur Anomalie, auf sich gestellt, ohne Verbündete. Der einzige Weg, um Europas Autonomie zu behaupten, besteht darin, sich noch stärker zusammenzuschließen und diese Einheit durch gemeinsame Streitkräfte zu unterstreichen.

Wie flexibel mit Haltungen in der Politik umgegangen wird, macht ein Beispiel aus dem kulturellen Kalten Krieg deutlich: Als in den späten 1940er-Jahren in der Sowjetunion die westliche Kultur wahrgenommen wurde als diejenige, die einen universalistischen Kosmopolitismus förderte (unter jüdischem Einfluss), beschlossen prosowjetische Kommunisten von der UdSSR bis Frankreich patriotisch zu werden, ihre eigenen kulturellen Traditionen starkzumachen und den Imperialismus zu bezichtigen, diese zu zerstören.

Ging nicht etwas Ähnliches vor in der Reaktion auf das Referendum in Katalonien, das Spanien Ende 2017 in Aufruhr versetzte? Erinnern wir uns, wie Putin die Auflösung der Sowjetunion zur Megakatastrophe erklärte – aber er unterstützte die katalanische Unabhängigkeit. Dasselbe galt für all die europäischen Linken, die sich der Auflösung Jugoslawiens als dunkler deutsch-vatikanischer Verschwörung entgegenstellten – nun aber war Separation (genau wie in Schottland) plötzlich in Ordnung.

Die westlichen Zentrum-Liberalen waren nicht besser: Immer bereit, jede separatistische Bewegung zu unterstützen, die die geopolitische Macht Russlands schwächt, warnten sie nun vor der Bedrohung für die spanische Einheit (und bedauerten dabei natürlich scheinheilig die Polizeigewalt gegen katalanische Wähler).

In Slowenien, meinem eigenen Land, hat diese Verwirrung ihren Gipfel erreicht: Die alte Linke, die ganz am Ende mehrheitlich gegen die slowenische Unabhängigkeit war und sich für ein erneuertes, offeneres Jugoslawien einsetzte, organisierte nun Petitionen und Demonstrationen für Katalonien, während die nationalistische Rechte, die für die vollständige slowenische Unabhängigkeit kämpfte, nun diskret für die Einheit Spaniens eintrat (da ihr konservativer Kollege Mariano Rajoy Premierminister war).

 

Arbeiten an der Auflösung des Kontinents

Das europäische Establishment sollte sich schämen: Offensichtlich haben manche das Recht auf Souveränität und andere nicht, je nach politischer Interessenlage. Ein Argument gegen die katalanische Unabhängigkeit erscheint nichtsdestotrotz rational: Ist Putins Unterstützung nicht offensichtlich Teil seiner Strategie, Russland zu stärken, indem er an der Auflösung Europas arbeitet? Sollten dann Befürworter eines starken, vereinten Europas nicht für die Einheit Spaniens einstehen? Hier sollte man sich trauen, das Argument umzudrehen. Unterstützung für die Einheit Spaniens ist auch Teil der heutigen Kampagne, die Macht der Nationalstaaten gegen die europäische Einheit durchzusetzen.

[Für] das europäische Establishment […] haben manche das Recht auf Souveränität und andere nicht, je nach politischer Interessenlage.

Was wir benötigen, um neuen lokale Souveränitäten (Kataloniens, vielleicht Schottlands etc.) Rechnung zu tragen, ist ganz einfach eine stärkere europäische Einheit: Nationalstaaten sollten sich an eine bescheidenere Rolle gewöhnen: als Vermittler zwischen regionalen Autonomien und einem vereinten Europa.

Auf diese Weise kann Europa die lähmenden Konflikte zwischen Staaten vermeiden und als deutlich stärkerer internationaler Akteur auf Augenhöhe mit anderen großen geopolitischen Blöcken auftreten. Das Versagen der EU, eine klare Haltung zum katalanischen Referendum einzunehmen, ist nur der jüngste in einer Reihe schwerer Fehler, deren größter der vollständige Mangel an einer kohärenten politischen Strategie gegenüber dem Flüchtlingsstrom aus dem Mittleren Osten und Nordafrika nach Europa war.

Die konfuse Reaktion auf die Geflüchteten versagte darin, den grundlegenden Unterschied zwischen (Wirtschafts-) Immigranten und Flüchtlingen zur Kenntnis zu nehmen: Immigranten kommen nach Europa, um nach Arbeit zu suchen, um die Nachfrage nach Arbeitskraft in entwickelten europäischen Ländern zu befriedigen, während Flüchtlinge nicht primär zum Arbeiten kommen, sondern um einen sicheren Ort zum Überleben zu finden – sie mögen häufig das neue Land nicht einmal, in dem sie sich wiederfinden.

Immigranten kommen nach Europa, um nach Arbeit zu suchen, um die Nachfrage nach Arbeitskraft in entwickelten europäischen Ländern zu befriedigen, während Flüchtlinge nicht primär zum Arbeiten kommen.

Die Flüchtlinge, die sich in Calais gesammelt haben, sind hier paradigmatisch: Sie wollten nicht in Frankreich bleiben, sondern nach England weiterziehen. Dasselbe gilt für die Länder, die sich am meisten dagegen wehren, Flüchtlinge aufzunehmen (die neue „Achse des Bösen“: Kroatien, Slowenien, Ungarn, Tschechien, Polen, die baltischen Staaten und Österreich): Sie sind definitiv nicht die Länder, in denen sich Flüchtlinge niederlassen wollen.

Aber vielleicht ist der absurdeste Effekt dieser Verwirrung, dass Deutschland, das einzige Land, das sich in einer halbwegs anständigen Weise den Flüchtlingen gegenüber verhalten hat, zur Zielscheibe vieler Kritiker wurde – nicht nur von rechten Verteidigern Europas, sondern auch von linken: In typischer Über-Ich-Manier konzentrierten sie sich auf das stärkste Glied der Kette und griffen es dafür an, nicht noch stärker zu sein. Der besorgniserregendste Aspekt der katalanischen Krise war also die Unfähigkeit Europas, klar Stellung zu beziehen: seinen Mitgliedern entweder zu erlauben, ihre eigene Politik gegenüber dem Separatismus oder den Flüchtlingen zu entwickeln, oder wirkungsvolle Maßnahmen gegen diejenigen zu ergreifen, die keine kollektiv gefällten Entscheidungen akzeptieren wollen.

 

Warum ist dies so wichtig? Europa sollte als minimale Einheit funktionieren, einzelne Staaten unterstützen und ein Sicherheitsnetz für ihre Spannungen bereitstellen.

Nur ein solches Europa kann ein wichtiger Akteur gegen die aufkommende neue Weltordnung sein, in der die mächtigen Akteure immer weniger einzelne Staaten sind. Es liegt klar im Interesse der USA und Russlands, die EU zu schwächen oder gar ihre Auflösung zu fördern: Damit wird dann ein Machtvakuum geschaffen, das von neuen Allianzen einzelner europäischer Staaten mit Russland oder mit den USA gefüllt werden wird. Wer in Europa könnte das wollen? Welche Idee von Europa wollen wir verteidigen?

Die Flagge der EU weht im Wind.
Europa sollte als minimale Einheit funktionieren, einzelne Staaten unterstützen und ein Sicherheitsnetz für ihre Spannungen bereitstellen, Foto: Christian Lue via unsplash

Bröckelnde Demokratie

Im Januar 2019 veröffentlichte eine Gruppe von 30 Autoren, Historikern und Nobelpreisträgern – darunter Bernard-Henri Lévy, Milan Kundera, Salman Rushdie, Orhan Pamuk, Mario Vargas Llosa und Adam Michnik – ein Manifest in verschiedenen europäischen Zeitungen, so im britischen Guardian und in der Welt. Wie sie schrieben, „bröckelt das Projekt eines freien, demokratischen Europas vor unseren Augen ab“. Weiter hieß es: „Wo der Populismus brüllt, hilft nur ein vollmundiges Ja zu Europa […]. Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn links und rechts die Ressentiments, der Hass und dessen traurige Auswüchse sich ausbreiten.“

Seine Unterzeichner – die Blüte der liberalen Intelligenz Europas – ignorieren die unangenehme Tatsache, dass sich auch die Populisten als Retter Europas inszenieren: Die Einwanderer zerreißen das Gewebe der europäischen Sitten und Lebensweise, sie stellen eine Gefahr für die geistige Identität Europas dar – so der Tenor von Leuten wie Orbán oder Salvini. Man darf dabei nie vergessen, dass auch sie Europa verteidigen wollen.

Welches Europa also bereitet den europäischen Populisten Unbehagen? Ist es das Europa der transnationalen Einheit? Also jenes Europa, welches sich vage bewusst ist, dass wir über die Beschränkungen der Nationalstaaten hinausgehen müssen, um mit den Herausforderungen unserer aktuellen Lage zurechtzukommen? Ist es das Europa, das sich obendrein verzweifelt bemüht, irgendwie dem alten aufklärerischen Motto der Solidarität mit den Opfern treu zu bleiben – jenes Europa, in dem ein Bewusstsein davon besteht, dass es eine Menschheit gibt und wir alle im selben Boot sitzen (oder, wie wir heute sagen, im selben Raumschiff Erde), sodass das Elend der anderen auch unser Problem ist?

 

Zwischen Sektierertum und Ungläubigkeit

Die Idee, die einem vereinten Europa zugrunde liegt, ist beschädigt worden, und erst im Moment der Gefahr sehen wir uns gezwungen, auf diese wesentliche Dimension Europas zurückzukommen, auf sein verborgenes Potenzial. Sowohl Trump als auch Putin befürworteten den Brexit; sie unterstützten Euroskeptiker in jedem Winkel, von Polen bis Italien. Was aber stört sie bloß an Europa, wo wir doch alle das Elend der EU kennen, die an jedem, aber auch wirklich jedem Test scheitert: von ihrer Unfähigkeit, eine einheitliche Einwanderungspolitik zu beschließen, bis zu ihrer miserablen Reaktion auf Trumps Zollkrieg? Offensichtlich ist es nicht dieses real existierende Europa, sondern die Idee Europa, die wider alle Erwartungen in Momenten der Gefahr aufblitzt. Die Frage für Europa lautet daher, wie es unter dem konservativ-populistischen Ansturm seinem emanzipatorischen Erbe treu bleiben kann. 

Die einzige Methode, um den Populismus wirklich zu besiegen, liegt somit darin, das liberale Establishment selbst, seine reale Politik, einer rücksichtslosen Kritik zu unterziehen.

In seinen Beiträgen zum Begriff der Kultur bemerkte der große Konservative T. S. Eliot, es gebe Momente, in denen man nur die Wahl zwischen Sektierertum und Ungläubigkeit habe – in denen man eine Religion nur am Leben erhalten könne, wenn man eine sektiererische Abspaltung von ihrem zentralen Leichnam vornehme. Das ist es, was wir heute tun müssen: Die einzige Möglichkeit, um die Populisten wirklich zu besiegen und das zu retten, was an der liberalen Demokratie erhaltenswert ist, besteht darin, eine sektiererische Abspaltung vom zentralen Leichnam der liberalen Demokratie vorzunehmen. Manchmal ist der einzige Weg zur Lösung eines Konflikts nicht die Suche nach einem Kompromiss, sondern die Radikalisierung der eigenen Position.

Um auf den offenen Brief der 30 Koryphäen zurückzukommen: Was sie sich nicht eingestehen wollten, ist die Tatsache, dass das Europa, dessen Verschwinden sie beklagten, bereits unwiederbringlich verloren ist. Die Bedrohung kommt nicht vom Populismus – der ist lediglich eine Reaktion auf die Unfähigkeit von Europas liberalem Establishment, dem emanzipatorischen Potenzial Europas treu zu bleiben, und er weist einen falschen Ausweg aus den Nöten der einfachen Menschen. Die einzige Methode, um den Populismus wirklich zu besiegen, liegt somit darin, das liberale Establishment selbst, seine reale Politik, einer rücksichtslosen Kritik zu unterziehen.

Diese kann durchaus unerwartete Wendungen nehmen: Braucht Europa zum Beispiel eine eigene Armee? Ja, und zwar mehr denn je.

Aber warum, wo wir doch alle wissen, dass die unerträglichste Ausrede für eine Beteiligung am Rüstungswettlauf lautet, angesichts der Bewaffnung unserer potenziellen Feinde bleibe uns zur Abschreckung und Wahrung des Friedens nichts anderes übrig, als uns ebenfalls auf einen Krieg vorzubereiten? Schon seit ungefähr zehn Jahren beschleunigt sich der Rüstungswettlauf zwischen drei Supermächten (den USA, Russland und China) in geradezu wahnwitziger Weise.

Die gesamte Arktis wird militarisiert, und Milliarden fließen in militärische Supercomputer und Biogenetik. Chinesische Militärzeitschriften diskutieren offen über die Notwendigkeit, dass sich China in einem echten Krieg bewähren müsse (während das russische Militär durch seinen Krieg in der Ukraine, Syrien usw., die amerikanischen Truppen in Irak auf die Probe gestellt werden und wurden, hat die chinesische Armee seit Jahrzehnten jeden echten Kampf vermieden).

 

Wahnsinn im ganzen System

Soldaten marschieren in Reih und Glied.
Europa fügt sich nicht in die Welt des Kampfs um Vorherrschaft zwischen America first, Russia first und China first, Foto: Filip Andrejevic via unsplash

Und Russland? Vor dem russischen Parlament sagte Wladimir Putin bereits am 1. März 2018: „Russland verfügt immer noch über das größte atomare Potenzial der Welt, aber niemand hat uns zugehört. Hört uns jetzt zu.“

Gewiss, doch bedeutet dies, dass der Wahnsinn im ganzen System steckt, in dem Teufelskreis, in dem wir gefangen sind, sobald wir uns an diesem System beteiligen. Seine Struktur gleicht jener der unterstellten Überzeugung, bei der alle Beteiligten rational handeln und dem anderen Irrationalität unterstellen, der allerdings seinerseits genauso denkt wie sie.

Wie der Philosoph Alain Badiou schrieb, zeichnen sich die Blöcke des künftigen Krieges bereits ab: die Vereinigten Staaten und ihre „westlich-japanische“ Clique auf der einen Seite, China und Russland auf der anderen Seite, Atomwaffen überall.

Über den Autor
Portrait von Slavoj Žižek
Slavoj Žižek
Philosoph und Kulturkritiker

Slavoj Žižek ist Philosoph, Kulturkritiker und nichtpraktizierender Psychoanalytiker. Bekannt geworden ist er durch seine Übertragung des Denkens Jacques Lacans und des Marxismus in die Populärkultur und die Gesellschaftskritik. Žižek ist unter anderem Professor für Philosophie an der Universität in Ljubljana und Direktor des Birkbeck Institute for the Humanities an der University of London.

Bücher (Auswahl):

  • Unordnung im Himmel. Lageberichte aus dem irdischen Chaos. wbg, Stuttgart 2022
  • Ein Linker wagt sich aus der Deckung: Für einen neuen Kommunismus. Ullstein, Berlin 2021
  • Pandemie! COVID-19 erschüttert die Welt. Passagen, Wien 2020
  • Wie ein Dieb bei Tageslicht: Macht im Zeitalter des posthumanen Kapitalismus. S. Fischer, Frankfurt/M. 2019
  • Der neue Klassenkampf: Die wahren Gründe für Flucht und Terror. Ullstein, Berlin 2015