Allerdings wurde in Deutschland und auch in anderen europäischen Ländern die Unterstützung für die „Operation Enduring Freedom“ und die „International Stabilisation Force“ (ISAF) in Afghanistan ganz maßgeblich mit dem Argument erkauft, dass man sich gleichzeitig für die Entwicklung und Demokratisierung des Landes engagieren wolle, für die Menschenrechte und vor allem für die Rechte der Frauen. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass zahlreiche Kooperationspartner in den urbanen Regionen durch die internationale Präsenz, durch Entwicklungszusammenarbeit und Initiativen im Bereich der Medien- und Kulturförderung eine erhebliche Verbesserung ihrer Lebensumstände erfahren haben. Dennoch muss man feststellen, dass die Idee, parallel zur Kriegsführung (gegen Taliban und andere islamistische Akteure) westliche Politikkonzepte, Normen und Wertvorstellen am Hindukusch zu etablieren, gescheitert ist. Vielen politischen Akteuren, die das Vorgehen in Afghanistan zwei Jahrzehnte lang unterstützt oder mitgetragen haben, fällt es weiterhin sehr schwer, sich die gravierenden Widersprüche einzugestehen, die mit diesem Einsatz verbunden waren.
Ernstzunehmende Impulse für eine Aufarbeitung des Scheiterns in Afghanistan kamen bislang weniger aus der Politik als aus Forschungseinrichtungen und aus der Zivilgesellschaft. Beim Berlin Peace Dialogue, der vom zivilgesellschaftlichen Beirat Zivile Krisenprävention ausgerichtet wurde, der die Bundesregierung bei der Umsetzung ihrer Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ (2017) berät, diskutierten Fachleute aus dem In- und Ausland im Oktober 2021 ausführlich über dieses Thema.
Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass zahlreiche Kooperationspartner in den urbanen Regionen durch die internationale Präsenz, durch Entwicklungszusammenarbeit und Initiativen im Bereich der Medien- und Kulturförderung eine erhebliche Verbesserung ihrer Lebensumstände erfahren haben. Dennoch muss man feststellen, dass die Idee, parallel zur Kriegsführung (gegen Taliban und andere islamistische Akteure) westliche Politikkonzepte, Normen und Wertvorstellen am Hindukusch zu etablieren, gescheitert ist.
Ihre Einschätzungen kann man so zusammenfassen: Das Vorgehen der westlichen Verbündeten wurde als völlig inkonsistent beschrieben. Die Entscheidung, frühere Warlords (Akteure, deren Einfluss unter der Taliban-Herrschaft zurückgedrängt worden war) an der Regierung zu beteiligen, habe Bemühungen, das Land politisch zu einen, untergraben. Korruption und Betrug zerstörten zusätzlich das Vertrauen der Bevölkerung in politische Strukturen. Die militärische Präsenz, die einerseits Kampfeinsätze gegen Al Quaida und Taliban beinhaltete (Enduring Freedom), zum anderen (ISAF) den Wiederaufbau absichern sollte, sei mehr und mehr als Besatzung empfunden worden. „Krieg und Entwicklung passen nicht zusammen“, lautete die Schlussfolgerung eines politischen Entscheidungsträgers, und dass man das viel früher hätte einsehen und Konsequenzen daraus hätte ziehen müssen. Die Unvereinbarkeit der Ziele (Antiterrorkampf, Stabilisierung, Entwicklung usw.) wurde betont, und dass es maßgeblich ein militärisches Scheitern war, das die Beteiligten über einen viel zu langen Zeitraum hin nicht wahrhaben wollten. Darüber hinaus habe man den regionalen Kontext nicht hinreichend analysiert und die Politik Pakistans gegenüber Afghanistan vernachlässigt. Dass die afghanische Regierung nicht an den Verhandlungen in Doha beteiligt war, habe Friedensbemühungen erschwert, weil damit für die Taliban jeglicher Anreiz, sich auf ein Powersharing-Modell einzulassen, schwand.
Auch dass ein Mehrfaches an Mitteln in den Militäreinsatz investiert wurde, verglichen mit den Ausgaben für zivilen Aufbau und Entwicklung, wurde kritisiert. Gleichzeitig seien die Strategien für Aufbau und Demokratisierung von überzogenen Erwartungen geprägt gewesen; eine realistische Vision hätte gelautet: „Change Afghanistan into something like Tadschikistan, but it was like: change Afghanistan into something like Denmark.“ Der Versuch, sogenannte westliche Werte und Politikvorstellungen im Rahmen des Nationbuilding in eine kulturell völlig andere Weltregion zu übertragen, sei gescheitert, und es sei zudem deutlich geworden, dass man in einem dezentral organisierten Land nicht zentralistische Formen von Politik und Verwaltung etablieren könne.
Die für die Einsätze in Afghanistan Verantwortlichen hätten sich in „Echokammern“ bewegt, mit den immer gleichen Argumenten und Perspektiven, ohne dazuzulernen. Dabei mangelte es nicht an Material zur Korrektur. Die norwegische Regierung hatte schon 2013 bei einer unabhängigen Kommission eine Studie in Auftrag gegeben, die das Vorgehen der westlichen Verbündeten in Afghanistan insgesamt als inkonsistent und inkohärent bewertete. 2015 hatte der Europäische Rechnungshof eine kritische Evaluierung zur EU-Polizeimission in Afghanistan vorgelegt und empfohlen, diese angesichts der desolaten Sicherheitssituation zu beenden. Fazit: Es mangelte nicht an Fakten und Analysen für eine differenziertere Lagebeurteilung, sondern an der Bereitschaft, daraus angemessene Schlüsse zu ziehen.
In Afghanistan waren Bündnispartner mit höchst unterschiedlichen und unvereinbaren Agenden unterwegs, das bekamen unter anderem auch Hilfsorganisationen zu spüren. Während einige im Wesentlichen den Krieg gegen den Terror forcierten (z.B. die USA), wollten sich andere vorrangig im „Nationbuilding“, im Wiederaufbau und der Entwicklungszusammenarbeit engagieren (z.B. die deutsche Bundesregierung). Die internationalen Streitkräfte etablierten zivil-militärische „Provincial Reconstruction Teams“ (PRTs) und starteten auf diesem Wege zivile Hilfs- und Wiederaufbauprogramme. So sollte in der afghanischen Bevölkerung Akzeptanz für die Militärpräsenz hergestellt werden. Humanitäre Akteure, die eigentlich Unparteilichkeit für sich in Anspruch nehmen wollten, waren somit für die Gegner des westlichen Bündnisses kaum von den militärischen Akteuren unterscheidbar. Hilfsorganisationen wurden zur Zielscheibe. Manche entschlossen sich zum Rückzug, andere schränkten ihre Aktivitäten stark ein und betonten weiter ihre Unabhängigkeit und Neutralität.
Die von den Vereinten Nationen mandatierte Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF), die den Wiederaufbau absichern sollte, verwandelte sich nach und nach schließlich auch in eine Truppe zur militärischen Aufstandsbekämpfung, je mehr Taliban und extremistische Netzwerke versuchten, Terrain zu gewinnen. ISAF koordinierte sich eng mit den Einheiten der Operation Enduring Freedom und schließlich standen beide unter dem Kommando des US-amerikanischen Befehlshabers.
So änderte sich schließlich auch die Wahrnehmung der ISAF in der afghanischen Zivilbevölkerung: Die langfristige Präsenz wurde zunehmend auch als Besatzung gesehen. Dass beides (Krieg führen und Entwicklung voranbringen) schwer zusammengeht, haben zahlreiche humanitäre Akteure sehr direkt erfahren und einige haben das Land daraufhin verlassen. Ergebnis: massiver Glaubwürdigkeitsverlust westlicher, beziehungsweise europäischer Politik.
Die Bilder von Kabul werden sich vermutlich weltweit ins Gedächtnis brennen, und sie gehen mit einem schwerwiegenden Glaubwürdigkeitsverlust einher. Die Botschaft, die man im globalen Süden daraus ableiten wird, lautet, dass man sich besser nicht mit westlichen Institutionen einlassen sollte, die ankündigen, Demokratie, Menschenrechte und Geschlechtergleichheit in entfernte Weltregionen zu bringen, weil man am Ende schutzlos zurückgelassen wird.
Mit den Bildern verzweifelter Menschen auf dem Kabuler Flughafen im August 2021 verbindet sich mehr als nur eine weitere menschliche Tragödie im Kontext des „Kriegs gegen den Terror“. Sie markieren eine historische Zäsur, ähnlich wie der Abzug der USA aus Vietnam, der 1973 begann und mit der Eroberung Saigons durch den Vietcong 1975 endete – da gibt es ganz erstaunliche Parallelen. Auch dort war offensichtlich, dass es bei den Einsätzen amerikanischer Truppen nicht um die Menschen in Vietnam ging, sondern um ganz andere, militärstrategische und machtpolitische Erwägungen. Auch damals wurden Verhandlungen nicht im Sinne einer Zukunft und der Befriedung des Landes geführt, sondern für einen raschen Exit um jeden Preis und ohne Rücksicht auf Verluste. Die Bilder von Kabul werden sich vermutlich weltweit ins Gedächtnis brennen, und sie gehen mit einem schwerwiegenden Glaubwürdigkeitsverlust einher. Die Botschaft, die man im globalen Süden daraus ableiten wird, lautet, dass man sich besser nicht mit westlichen Institutionen einlassen sollte, die ankündigen, Demokratie, Menschenrechte und Geschlechtergleichheit in entfernte Weltregionen zu bringen, weil man am Ende schutzlos zurückgelassen wird.
Nicht nur die westlichen Regierungen, sondern auch NGOs und im Kulturbereich tätige Akteure müssen sich die Frage stellen, inwieweit sie derartige Widersprüche in Kauf nehmen wollen, und in welche Art von Einsätzen sie sich in Zukunft einbinden lassen wollen. In Deutschland hat die neugewählte Regierung im Koalitionsvertrag eine Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss und eine Enquetekommission versprochen.
Die deutsche Politik betreffend stehen folgende Fragen im Raum:
- Warum wurde die Ausreise von Ortskräften und gefährdeten Personen nicht parallel zum Abzug der Bundeswehr organisiert?
- Wieso hat die Bundesregierung, obwohl sie über die Verschlechterung der Sicherheitslage informiert wurde, bis Mitte August nur für einen Bruchteil der Schutzbedürftigen Visa erteilt?
- Und wie kommt sie dazu, die Zahl des gefährdeten afghanischen Personals herunterzurechnen und auf ein Minimum zu beschränken (Ortskräfte der Bundeswehr seit 2013, Vertragspartner des Auswärtigen Amts und der Entwicklungszusammenarbeit nur aus den letzten zwei Jahren, und von NGO-Partnern war zunächst gar nicht die Rede)?
Es wäre zu wünschen, dass diese Aufarbeitung unter Einbeziehung von Friedensforscherinnen und europäischer sowie afghanischer Zivilgesellschaft vonstattengeht. Dabei sollte es jedoch nicht einfach darum gehen, zu fragen, was beim nächsten Auslandseinsatz anders gemacht werden sollte, sondern im Vordergrund müsste die Frage stehen, ob es eine Beteiligung an vergleichbaren Einsätzen in Zukunft überhaupt geben soll und welche Alternativen sich zur militärischen Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus bieten. Nur mit einer ehrlichen Aufarbeitung und einer veränderten Politik könnten der entstandene Schaden und Glaubwürdigkeitsverlust noch gemindert werden. Auch europäische Politik muss Konsequenzen aus den Erfahrungen am Hindukusch ziehen.