Illustration: Eine Insel auf der das Wort "Exile" steht, davor schwimmt eine Wasserflasche. Auf dem Etikett steht: Unsere Schuld war es, Journalisten zu sein.

Wir haben eine Menge Wasser geschluckt

Viele kritische Journalist:innen sitzen in der Türkei in Haft. Europas Möglichkeiten, auf das Nato-Partnerland Einfluss zu nehmen, sind wegen des fragilen Flüchtlingsdeals mit Ankara begrenzt. Im Exil hofft Can Dündar auf eine „Welle von unten“, auf die Solidarisierung von Partnerstädten, Gewerkschaften und Journalist:innen.

Die Verhaftung von Journalisten wie sie in der Türkei geschieht ist in der deutschen Geschichte nicht unbekannt: Am Abend des 26. Oktober 1962 hatten Polizisten die Räume des „Spiegel“ durchsucht, in der Folge kamen Herausgeber Rudolf Augstein und die Verfasser des Artikels, der den Polizeieinsatz ausgelöst hatte, in Untersuchungshaft, genau wie uns wurde ihnen Verrat von Staatsgeheimnissen vorgeworfen. Kanzler Adenauer bezichtigte Augstein des Landesverrats, genau wie Erdoğan uns.

Die Ermittlungen gegen den Spiegel wurden in Deutschland als Anschlag auf die Pressefreiheit gewertet, die Öffentlichkeit stellte sich hinter die inhaftierten Redakteure, genau wie unsere Leser und Berufsverbände sich an unsere Seite stellten. Hier aber enden die Ähnlichkeiten. Die „Spiegel“-Affäre wurde zum Wendepunkt im Kampf für die Pressefreiheit in Deutschland, der Verteidigungsminister zahlte den Preis für die Überschreitung seiner Kompetenzen mit dem Rücktritt, bald darauf stürzte das gesamte Kabinett.

Kanzler Adenauer bezichtigte Augstein des Landesverrats, genau wie Erdoğan uns.

In der Türkei dagegen wurden nach der Veröffentlichung von Video-Aufnahmen in der Tageszeitung „Cumhuriyet“ 2015 die Verantwortlichen für den Skandal befördert, Premier Erdoğan wurde Staatspräsident. Das türkische Gericht verurteilte die Journalisten wegen „Enthüllung von Geheimdokumenten“, der Bundesgerichtshof in Deutschland dagegen hatte die Klage gegen Augstein fallengelassen und in seinem Urteil nicht die Journalisten verurteilt, die ihre berufliche Plicht erfüllt hatten, sondern Politiker wegen Amtsmissbrauchs getadelt.

Der „Spiegel“ ging als Sieger aus der Affäre hervor, 55 Jahre später dagegen wurde die „Cumhuriyet“ mit einer groß angelegten Operation in die Zwinge genommen. Den Unterschied zwischen beiden Fällen macht aus, dass Deutschland die furchtbaren Folgen einer unkontrollierten, die Gewaltenteilung missachtenden, autoritären Macht in der eigenen Geschichte erlebt hatte.

 

Lügen ohne Grenzen

Und natürlich, dass es Wert legte auf unabhängige Justiz, Rechtsstaatlichkeit, parlamentarische Kontrolle und eine organisierte Zivilgesellschaft. Wir erwarteten, dass man die gleiche Sensibilität nun auch uns gegenüber an den Tag legen würde. In der Türkei brachten regimetreue Medien meine Statements, in denen ich das Schweigen der deutschen Regierung verurteilte, mit der Schlagzeile: „Aus Can wurde Hans“. Ihre Lügen kannten keine Grenzen. Eine unglaubliche Negativpropaganda hatte eingesetzt, auf die im Einzelnen zu reagieren uns die Kraft, die Geduld und die Zeit fehlte.

Mit Beleidigungen, Verdrehungen und Fake-News wurden wir tagtäglich von den Titelblättern attackiert. Das gesamte „Material“, das wir später in der Anklageschrift wiederfanden, stand bereits auf ihren Seiten: Unsere Berichte, unsere Kommentare, unsere Schlagzeilen. Unsere Schuld war es, Journalisten zu sein. Engagierte Journalisten, die jede Untat der Regierung aufdeckten.

Bitter war, dass auch ein paar ehemalige „Cumhuriyet“-Mitarbeiter, die es auf unsere Stellen bei der Zeitung abgesehen hatten, in den Chor mit einstimmten, sie kritisierten uns und hofften auf Positionen unter einer neuen Führung. Gemeinsam mit „Cumhuriyet“-Mitarbeitern, die zu der Veranstaltung nach Köln gekommen waren, besprach ich die Lage.

Unsere Schuld war es, Journalisten zu sein. Engagierte Journalisten, die jede Untat der Regierung aufdeckten.

Ich war dafür, nicht zurückzukehren. Ich hatte das Gefängnis kennengelernt, das Problem sah ich weniger in erneuter Inhaftierung als vielmehr darin, dass die Justiz mittlerweile vollständig außer Kraft gesetzt war.

Einmal hinter Gittern, gab es inzwischen kaum eine Chance, wieder freizukommen. Der Journalist Cem Kucuk, der als Sprachrohr der Regierung fungierte, ließ im Fernsehen Drohungen vom Stapel: „Ihr werdet krepieren, ob auf dem Rechtsweg oder auf anderen Wegen!“

 

Zwischen Haft und Exil

Wenn man uns verhaften würde, war niemand mehr da, der die Zeitung administrativ leiten konnte. Die Einsetzung eines Zwangsverwalters konnte aufs Tapet kommen. Ich versuchte, die Kollegen zu überzeugen: „Wir können von hier aus viel besser agieren.“

Am Tag des Feuers waren wir nicht im Haus gewesen und diskutierten nun, ob wir uns hineinstürzen und die Freunde und Kollegen retten sollten oder von außen Wasser herbeischaffen. Wir suchten nach einer Entscheidung zwischen Haft und Exil. Draußen zu sein, während die anderen drinnen waren, war eine schwere moralische Bürde. Dazu käme noch die Last des Spruchs: „Er hat sich davongemacht.“

Foto eines Zeitungsstapels auf einem Tisch.
"Wenn man uns verhaften würde, war niemand mehr da, der die Zeitung administrativ leiten konnte." Foto: Congerdesign, pixabay

Drei Tage nach dem Überfall auf die „Cumhuriyet“ wurden die beiden Ko-Vorsitzenden der HDP, der zweitgrößten Oppositionspartei der Türkei, Selahattin Demirtaş und Figen Yuksekdağ, festgenommen. Erdoğan steuerte jetzt auf die Felsen zu. Die Türkei entglitt uns und raste in Richtung Diktatur.

In diesem Klima verkündete der Herausgeber der Zeitung Akın Atalay seine Entscheidung: „Ja, sie werden mich direkt vom Flughafen ins Gefängnis bringen. Aber als Vorsitzender der „Cumhuriyet“-Stiftung kann ich in diesen Zeiten nicht draußen bleiben. Es hat mehr Wirkung, wenn ich im Gefängnis bin. Bleibe ich im Ausland, führt das zu der Auffassung, ich hätte mir etwas zuschulden kommen lassen. Auch wird meine Rückkehr eine moralische Unterstützung für die Kollegen sein.“

„Dann gehen wir zusammen zurück“, warf ich ein. „Du musst hierbleiben“, entgegnete er. „Bei dir ist nicht nur deine Freiheit bedroht, sondern dein Leben. Selbst in der Haft besteht die Gefahr, dass sie dich umbringen. Außerdem kannst du hier deinen Beruf ausüben, kannst dir von hier aus in aller Welt Gehör verschaffen. Für mich wäre das schwierig.“

Seine Entscheidung war gefallen. Was ich auch sagte, war vergebens. Sollte auch ich zurückkehren? Sollte ich dem Exil die Haft vorziehen? Sollte ich eine Gefangenschaft von ungewisser Dauer in Kauf nehmen? Ich würde nicht in ein Land, sondern ins Gefängnis zurückkehren, in eine Zelle aus Beton. Überdies war diese Zelle nicht mehr dieselbe, in der ich ein Jahr zuvor gesessen hatte.

 

Klima der Repression

Das Klima der Repression, das das ganze Land erfasst hatte, zeigte sich auch dort. Das Recht, unsere Anwälte zu sehen, wann wir wollten, und mit ihnen so lange zu reden, wie wir wollten, hatte man uns genommen. Die jetzt inhaftierten Kollegen durften nur noch einmal in der Woche für eine Stunde ihren Anwalt sprechen. Familienbesuch war von einer Stunde wöchentlich auf einmal alle zwei Wochen reduziert worden. Ebenso das Recht zu telefonieren. Briefe zu bekommen und Briefe zu schreiben, war verboten worden.

Als ich gefangen war, konnte ich Artikel schreiben, konnte mich an die Welt wenden, das war jetzt unmöglich. Als ich etwa den bekannten Schriftsteller, Journalisten und Herausgeber der Zeitung „Taraf “ Ahmet Altan über seine Tochter für die Türkei-Sendung von „Aspekte“ (der Kultursendung im deutschen Fernsehen) um einen Text bat, ließ er mir ausrichten: „Ich werde schweigen. Das ist meine Botschaft.“

Es war der stumme Aufschrei eines Autors. So weit war es gekommen. Im Studio „verlas“ ich Ahmets Botschaft in Form einer Schweigeminute, zuvor bat ich die Zuschauer, an die im Gefängnis zum Schweigen gebrachten Schriftsteller und Journalisten zu denken. Silivri, wo sich die Haftanstalt für politische Gefangene befindet, war zum Bezirk mit der höchsten Alphabetisierungsrate der Türkei geworden, die Bücher, die dort zurzeit Inhaftierte geschrieben hatten, standen in der Gefängnisbibliothek, wurden ihnen aber nicht ausgehändigt. Bitterer noch war, dass die Höfe hinter den Zellen, der einzige Ort, von dem aus die Gefangenen den Himmel sehen konnten, vergittert worden waren, um Kommunikation unmöglich zu machen.

 

„Der Himmel ist wie das Meer“

In seinem berühmten Gedicht schrieb der 1907 geborene Schriftsteller Sabahattin Ali: „Auch wenn du das Meer nicht siehst / Heb den Kopf / Der Himmel ist wie das Meer / Nimm es nicht schwer, Herz, nimm es nicht schwer.“ Hoben sie jetzt den Kopf, sahen sie nur einen vergitterten Himmel. In einer tauben Zelle aus Beton hatte man die politischen Gefangenen stumm gemacht.

Zurückzugehen bedeutete nicht bloß, eingekerkert zu werden, sondern auch Verstummen. Ich fasste meinen Entschluss: Ich bleibe und rede. Ich werde jenen eine Stimme sein, die nicht reden können. Am nächsten Tag sah ich in den Nachrichten, wie Akın beim Ausstieg aus dem Flugzeug abgeführt wurde.

Er war wegen „Fluchtgefahr“ verhaftet worden. Nach dem Überfall auf die „Cumhuriyet“ hatte der Deutschlandvertreter von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, meine Bitte um ein Gespräch übermittelt. Der Bundespräsident hatte sogleich zugestimmt. Eine Woche später war ich bei ihm im Schloss. Fünf seiner Berater und seine Lebensgefährtin waren bei unserem Gespräch zugegen.

Zurückzugehen bedeutete nicht bloß, eingekerkert zu werden, sondern auch Verstummen.

Dieser Empfang auf allerhöchster Ebene war per se eine wichtige Botschaft: Zuallererst die Botschaft an uns, also die Journalisten, die sich für Pressefreiheit einsetzen: „Ihr seid nicht allein.“ Dann die Botschaft an die türkische Regierung: „Wir wissen, dass die Menschen, die Sie als Terroristen einstufen, für die Wahrheit und für die Freiheit eintreten.“ Und vielleicht auch eine Botschaft an die deutsche Regierung: „Schaut nicht zu, wenn universale Werte mit Füßen getreten werden!“

Vor dem Besuch hatte ich Gaucks Biografie studiert. Die Vermutung lag nahe, dass sein Interesse nicht allein politisch motiviert war, sondern ebenso persönlich. Aufgrund seiner Herkunft und aus seiner Familiengeschichte wusste er, was ein repressives Regime bedeutet. Er hatte selbst unter einem solchen Regime gelebt. Sein Vater war wegen Spionage verurteilt, misshandelt und in die Verbannung geschickt worden.

 

Von der Stasi verfolgt

Ihn selbst hatte in der DDR lange die Stasi verfolgt. Nach dem Fall der Mauer hatte er erlebt, wie das Regime der Unterdrückung an einem einzigen Tag fiel, später öffnete er die Stasi-Archive der Öffentlichkeit und deckte von der Polizei begangene Verbrechen auf. Nun empfing er in seinem Schloss einen Journalisten, der in einem anderen Land wegen Spionage angeklagt und inhaftiert worden war, weil er ein staatliches Verbrechen aufgedeckt hatte, und setzte damit ein großes Zeichen der Solidarität.

Zwar ging ich allein in das Gespräch, doch ich spürte, dass mit mir gemeinsam alle 150 in der Türkei inhaftierten Journalisten geladen waren. Die Mitarbeiter meiner Zeitung, die im Morgengrauen aus ihren Betten heraus verhaftet worden waren, standen gewissermaßen an meiner Seite. Ebenso all meine Kollegen, die aus verbotenen Fernsehsendern entlassen, aus Radioredaktionen zum Teil an den Haaren hinausgezerrt worden waren.

Und die Funktionäre und Mitarbeiter all der verbotenen Zeitungen, Zeitschriften und Verlage. Auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die von ihren Universitäten entfernt, verhaftet und eingesperrt worden oder ins Exil gegangen waren, weil sie einen Aufruf für den Frieden unterzeichnet hatten. Ich sprach in ihrer aller Namen.

Nun empfing er in seinem Schloss einen Journalisten, der in einem anderen Land wegen Spionage angeklagt und inhaftiert worden war, weil er ein staatliches Verbrechen aufgedeckt hatte, und setzte damit ein großes Zeichen der Solidarität.

Weniger wie ein Politiker, viel eher wie ein Philosoph interessierte sich der Bundespräsident dafür, wie eine demokratiefeindliche Haltung in einer Demokratie Wurzeln schlagen, wie dieser „strukturelle Widerspruch“, diese „Entfremdung“ soweit gedeihen kann, dass sie die Demokratie gefährdet.

„Wir würden gern von Ihnen hören, was in der Türkei vor sich geht“, sagte er und gab mir das Wort. Ich berichtete, wie das Stiefkind im fernsten Winkel Europas unter massiver Repression hart für Demokratie, Laizismus, Freiheit und Menschenrechte kämpfte. Wie die europäischen Regierungen sich in diesem Kampf auf die falsche Seite stellten. Wie sich die fortschreitende Repression und Polarisierung, die sich ausweitende Auseinandersetzung in der Türkei um ein Vielfaches gesteigert auf Europa auswirkten. Dass es nicht nur ein Verlust für die Türkei wäre, wenn das einzige Beispiel einer laizistischen Demokratie in der islamischen Welt zugrunde ginge.

 

Reise in die ostdeutsche Vergangenheit

Vermutlich versetzte mein Bericht den Bundespräsidenten auf eine Reise in seine ostdeutsche Vergangenheit und rief ihm die harsche Unterdrückung, die er seinerzeit im eigenen Land erlebt hatte, die schwierigen Kämpfe der Bürger und wohl auch seiner Familie ins Gedächtnis. Vielleicht dehnte er deshalb das Gespräch aus, obwohl seine Assistenten längst höflich an die Zeit erinnerten. Nach anderthalb Stunden sagte er: „Ich hätte gern noch mehr gehört.“

Als ich Schloss Bellevue verließ, fühlte ich mich, als hätte ich soeben nicht mit einem Staatspräsidenten gesprochen, sondern mit einem Leidensgenossen, der Drangsalierung, Repressalien, Zensur genau kannte, der dagegen kämpfte und all jene wertschätzte, die ebenfalls diesen Kampf führten. Wieder einmal war ich überzeugt, dass auch die Türkei diese finstere Phase überwinden würde. Eine Mauer, die Kummer und Leid barg und für unverrückbar gehalten wurde, konnte eines Tages fallen, sogenannte „Verräter“ konnten auf einen Schlag mit „Helden“ die Plätze tauschen und jene, die hinter Gittern saßen, mit jenen, die in Palästen residierten. Auch wir werden erleben, dass unsere Mauer fällt, dass die Archive der Geheimpolizei, die uns verfolgt, der Allgemeinheit geöffnet werden; jenen, die leiden, müssen wir Hoffnung machen und ihnen frühere Beispiele vor Augen führen.

 

Foto von Can Dündar und Joachim Gauck bei der Verleihung des Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte 2017
Eine wichtige Botschaft: Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck empfängt türkische Journalist:innen auf Schloss Bellevue, Foto: Can Dündar und Joachim Gauck bei der Verleihung des Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte 2017 ©Horst Galuschka, dpa, picture alliance

Am Abend nach dem Treffen in Schloss Bellevue nahm ich neben Martin Schulz, der in seiner Dankesrede rühmende Worte auch über uns sprach, die „Goldene Victoria“ des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger VDZ entgegen. Bei der Zeremonie wechselte ich mit dem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier ein paar Worte über die Türkei und Erdoğan.

Ohne es zu ahnen, sprach ich am selben Tag mit dem amtierenden Bundespräsidenten und seinem Nachfolger im Abstand von nur einer Stunde. Noch in der Nacht flog ich nach Frankreich. Am folgenden Tag empfing mich die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, im Stadtrat und verlieh mir die Ehrenbürgerwürde. „Ihr Engagement findet hier ein Echo, wir unterstützen Sie“, erklärte sie.

Anschließend erinnerte sie, damit es mir in schwierigen Zeiten im Ohr sei, an das lateinische Motto im Pariser Stadtwappen, das auf ein Schiff anspielt: Fluctuat nec mergitur. Sie schwankt, geht aber nicht unter. Genau wie die „Cumhuriyet“.

 

Erdoğan schnaubt

Der Protest aus dem türkischen Präsidentenpalast gegen das Treffen in Schloss Bellevue ließ nicht lange auf sich warten. „Es ist ein Skandal, dass der deutsche Bundespräsident einen wegen Terrorismus Angeklagten in seinem Amtssitz empfängt“, schnaubte Erdoğan. Das war das Kommando: „Attacke!“ Das von ihm befehligte Heer der Trolle und die loyalen Medien gingen sogleich zum Angriff über.

Ich hatte mich daran gewöhnt, dass auf Applaus stets Buhrufe folgten. Allerdings war der Preis für den Applaus diesmal hoch. Am Tag nach dem Treffen, am 8. November, machten die Zeitungen der Regierungsseite mit folgenden Schlagzeilen auf: „Gauck empfing den Landesverräter“, „Wegen Spionage Angeklagter im deutschen Präsidentenpalast“, „Verleiht ihm noch den Großen Verdienstorden!“

In der Zeitung „Star“ schrieb ein Kolumnist: „Das ist jetzt eine Sache des Geheimdienstes. Wie damals Ocalan gefasst und in die Türkei gebracht wurde, wird auch Can Dündar in einer geheimdienstlichen Operation hergebracht und vor Gericht gestellt werden.“

Das von ihm befehligte Heer der Trolle und die loyalen Medien gingen sogleich zum Angriff über.

Ein anderer verstieg sich gar zu der Frage: „Findet sich denn in Europa kein Held, der die Sache erledigt?“ Die eigentlich interessante Schlagzeile aber stand in der Zeitung „Akşam“: „Can Dündar hüllt sich in die US-Fahne“. Auf dem zugehörigen Foto in der Zeitung schlief jemand in eine amerikanische Fahne gehüllt auf einer Ledercouch. In der Tat, das war ich. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Foto im Internet und wurde mit allen möglichen Kommentaren versehen. Nun sei mein wahres Gesicht enthüllt, das Foto belege, welchem Land ich dienen würde. Ich war ein derart treudoofer Agent, dass ich mich mit der Fahne des Landes, für das ich tätig war, zudeckte.

 

Andere verteidigten mich, meinten, es handele sich um eine Fotomontage, aber auch sie waren verwirrt. Was hatte etwa die „Enzyklopädie Sozialismus und Soziale Kämpfe“ neben dem Sofa zu bedeuten? Ein regimenaher Akademiker publizierte gar eine ernstgemeinte ausführliche Analyse, darin schrieb er Dinge wie: „Es mag paradox erscheinen, dass beide Pole des Kalten Krieges auf einem Foto zusammenfinden, tatsächlich aber haben beide zum Ziel, die Türkei von ihren eigenen Werten zu entfremden.“

Was hatte es nun aber tatsächlich mit dem Foto auf sich? Warum hatte ich mich in die USFahne gehüllt? Vor ein paar Jahren drehten wir einen Dokumentarfilm über Deniz Gezmiş, den legendären türkischen Studentenführer der 68er-Bewegung. Schlaflos hockten wir tagelang – mit unseren Büchern über die Geschichte des Sozialismus – im Produktionsstudio meines Freundes, der Regie führte, und bastelten an dem Film.

Das Foto war auf meinem alten Handy gespeichert [...]. Auf Erdoğans Fingerzeig hin hatte die Polizei noch am selben Tag die Aufnahme von meinem Handy der hörigen Presse serviert.

Eine der ersten politischen Aktionen, die Deniz und seine Freunde durchgeführt hatten, war der Protest gegen die US-Flotte, die 1968 auf Türkei-Besuch kam. Auf dem Istanbuler Taksim-Platz verbrannten die Studenten eine amerikanische Fahne und warfen anschließend an Land gehende US-Soldaten ins Meer. Symbolisch für diese Szene hatten wir eine US-Fahne besorgt. Wir wollten sie für den Film anzünden und mit diesem Bild im Hintergrund von der damaligen Aktion berichten. In der Nacht vor den Dreharbeiten war ich nach langen Stunden des Schneidens im Büro eingeschlafen.

Mein Freund der Regisseur breitete – als einzige in den Räumen vorhandene „Wolldecke“ – die Fahne, die wir am Morgen verbrennen wollten, über mich und machte zum Spaß ein Foto davon. Dass nun die regimetreuen Medien aus der zum Verbrennen bestimmten Fahne ein Szenario machten, war die komische Seite an der Sache. Die erschreckende aber war folgende: Das Foto war auf meinem alten Handy gespeichert, das die Polizisten bei der Hausdurchsuchung mitgenommen hatten. Auf Erdoğans Fingerzeig hin hatte die Polizei noch am selben Tag die Aufnahme von meinem Handy der hörigen Presse serviert.

Sie waren zu allen ich an jenem Tag einmal mehr überzeugt. Das hatte Folgen. Eine Woche darauf musste ich feststellen, dass meine Kolumne nicht in der „Cumhuriyet“ erschienen war. Ich wurde misstrauisch. Denn das war in der türkischen Pressegeschichte noch nie ein gutes Zeichen. Wer dort, wo die Kolumne hatte stehen sollen, den Satz „Der Artikel konnte aufgrund einer technischen Störung nicht erscheinen“ vorfand, wusste, dass es sich nicht um eine technische, sondern um eine politische Störung handelte.

Am 18. November sollte ich in Darmstadt den Hermann-Kesten-Preis des deutschen PEN-Zentrums aus den Händen von „Tagesthemen“-Moderator Thomas Roth entgegennehmen. Der Schriftsteller Hermann Kesten hatte während des Nationalsozialismus sein Land verlassen müssen und lange Jahre im Exil gelebt. Und das PEN-Zentrum bot Autoren im Exil Zuflucht.

Als mein Wagen bei dem Hotel vorfuhr, in dem die Verleihung stattfinden sollte, rief Dilek an und unterrichtete mich über den tatsächlichen Grund, aus dem meine Kolumne nicht gedruckt worden war. Gemeinsam mit der Polizei, die das Foto weitergegeben hatte, war auch der Staatsanwalt tätig geworden und hatte einem der Funktionäre der Zeitung gegenüber, der wegen einer Aussage bei einer Anhörung vor ihm saß, in Bezug auf mich geäußert: „Er ist zur Fahndung ausgeschrieben. Warum lassen Sie ihn weiter bei sich schreiben?“

Jetzt [...] nicht mehr in der Zeitung schreiben zu dürfen, deren Chefredakteur ich bis vor drei Monaten gewesen war, versetzte mir einen herben Schlag.

Normalerweise hätte die Antwort gelautet: „Was geht Sie das an?“, doch dies waren keine normalen Zeiten. Unsere Kollegen saßen hinter Gittern, waren gewissermaßen zu Geiseln geworden. Ganz abgesehen von den Inhalten störte die Regierung, dass ich überhaupt noch schrieb. Und dass sie sich gestört fühlte, bedeutete, dass sie unsere Leute nicht in Ruhe lassen würden.

Einige Anwälte hatten sich dahingehend geäußert, dass es besser wäre, wenn ich eine Weile nicht schriebe. Ich hatte mich jedem Druck widersetzt und niemals zu einem unserer Autoren gesagt: Schreib nicht! Nicht einmal zu jenen, die glaubten, mich hinterrücks belehren zu müssen. Jetzt, nachdem ich mich so lange für die Freiheit eingesetzt hatte, – zum Schutz der inhaftierten Kollegen – nicht mehr in der Zeitung schreiben zu dürfen, deren Chefredakteur ich bis vor drei Monaten gewesen war, versetzte mir einen herben Schlag.

Normalerweise hätte ich unverzüglich kündigen müssen. Doch mitten im Sturm wäre eine solche Kündigung anders ausgelegt worden und hätte der Zeitung, mir selbst und den Kollegen im Gefängnis nur geschadet. Mir blieb nichts anderes übrig, als es still hinzunehmen. Ich schwieg. Das Heft „Cumhuriyet“, das ich einst mit einem Paukenschlag aufgeschlagen hatte, schloss sich auf diese Weise sang- und klanglos.

Dennoch würde ich mich weiter für die Zeitung einsetzen. Das war noch nicht alles, mir wurde höflich mitgeteilt, es wäre besser, wenn ich nicht zur Verleihung des Alternativen Nobelpreises fahren würde, den die Zeitung aufgrund ihrer jüngsten journalistischen Erfolge und der Entschiedenheit, mit der sie sich für die Wahrheit einsetzte, erhielt. Es hieß, möglicherweise werde es nicht gut aufgenommen, wenn ein polizeilich Gesuchter die Zeitung dort repräsentierte. „Wie ihr wollt“, sagte ich und zog mich zurück.

 

Kampagne für Bücherverbot

Es ging noch weiter, am selben Tag, am 18. November also, erklärte mir mein türkischer Verleger per E-Mail, er könne mein neues Buch nicht drucken. Es liefe eine Kampagne für das Verbot meiner Bücher, man schicke Leute in die Buchhandlungen, die meine Bücher aus den Regalen nehmen ließen. Unter diesen Umständen wäre es „riskant“, mein Buch zu drucken. „Sie versuchen, dich zu isolieren“, schrieb er, ohne zu merken, dass er mit diesem Schreiben in genau diesen Chor einstimmte.

Auch dafür zeigte ich natürlich bitteres Verständnis. An dem Abend, da ich wegen dem, was ich geschrieben hatte, meine Zeitung und meinen Verlag verlor, war ich unterwegs, um einen Preis entgegenzunehmen, der mir gerade wegen dem, was ich schrieb, verliehen wurde. In die Feier in Darmstadt ging ich mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen. In meiner Dankesrede sprach ich von einer Wunde, die schmerzt, wenn man die Narbe aufkratzt: Finsternis und Dummheit geben den Massen, die sie hinter sich herrennen lassen, das Gefühl, im Aufwind zu sein, während sie sie in den Abgrund stürzen. Aufgabe des Schriftstellers ist es, zu jenen, die sich mit Triumphgeheul hinabstürzen, vom Abgrund zu sprechen.

 

Das ist wahrlich nicht einfach. Denn Dummheit macht blind. Und Finsternis dient vor allem dazu, die Wahrheit zu verbergen. Der Schriftsteller hebt mit dem, was er schreibt, den Vorhang von der Dunkelheit, als hebe er die Kruste von einer Wunde. Er tut den Menschen weh, er reist ihre Wunden auf. „Der Wind, von dem ihr glaubt, dass er euch liegen lasst, stürzt euch in den Abgrund“, ruft er. Deshalb ist er nicht sonderlich beliebt. Den Wert seiner Worte erkennt man erst am Boden des Abgrunds.

Die meisten Schriftsteller haben nicht mehr erlebt, dass ihre Worte wertgeschätzt werden. Meine Freunde und Kollegen, die der Türkei von dem Abgrund künden, in den sie im Begriff ist zu stürzen, sitzen heute im Gefängnis. Sie wurden verhaftet, weil sie gegen Finsternis und Dummheit zu Felde zogen – von den Wächtern der Finsternis und Dummheit. Sie wurden der Finsternis überantwortet. Derzeit ist ihnen verboten, sich in der Welt Gehör zu verschaffen. Es ist ihnen verboten, zu schreiben, zu reden, Botschaften zu senden. Und jene, die sie zum Schweigen zwingen, erzählen den Menschen unablässig: „Ihr habt Aufwind!“

Und die Menschen rennen in Massen auf den Abgrund zu. Tief hinein in Dummheit und Finsternis. Wenn Sie im Dunkeln gegen die Wächter der Finsternis kämpfen, müssen Sie sich darauf gefasst machen, teuer dafür zu bezahlen, dass Sie es wagten, ein Licht anzuzünden. Jetzt zahlen wir diesen Preis, verlieren bald unsere Arbeit, bald unsere Lebensgefährten, unser Land, unsere Freiheit.

Foto einer Puppe, die eine orangene Augenbinde trägt.
Dummheit macht blind. Und Finsternis dient vor allem dazu, die Wahrheit zu verbergen, Foto: David Underland, pixabay

Doch wir wissen, dass Finsternis und Dummheit nicht zu besiegen sind, ohne einen Preis dafür zu bezahlen. Deshalb klagen wir nicht, sondern kämpfen. 150 Journalisten und Schriftsteller sitzen im Gefängnis, die versucht haben, die Türkei vom Abgrund zu unterrichten, die sich bemüht haben, die Windrichtung zu ändern.

Diesen Preis nehme ich in ihrem Namen entgegen. Ich weiß, dass jede Nacht zwischen zwei Tagen liegt. Ich glaube an das Licht. Mitten in der Rede bebte zum ersten Mal meine Stimme, ich konnte nicht weitersprechen, bekam die Sätze nicht zusammen. Ich schluckte und hielt inne. Das Publikum schob es auf meine Sentimentalität. Dabei war es aus Wehmut. Auf der Rückfahrt am nächsten Morgen im Zug sprach ich mit Dilek.

Der Termin für die Zinstilgung des Kredits für unser Haus in Istanbul stand bevor. Die Bank drängelte. Wir hatten kein Geld. Selbst wenn ich das gesamte Geld schickte, das ich für all die Auszeichnungen erhalten und in den drei Monaten in Deutschland verdient hatte, würde es nicht einmal die Hälfte der fälligen Zinsen abdecken.

Meine Freunde und Kollegen, die der Türkei von dem Abgrund künden, in den sie im Begriff ist zu stürzen, sitzen heute im Gefängnis. 

Die Zeitung oder den Verlag konnte ich nicht um einen Kredit bitten. „Sollen wir das Haus verkaufen?“ „Dem Grundbuchamt wurde vermutlich gedroht, sie werden den Verkauf nicht gestatten. Außerdem ist unklar, ob sie das Haus nicht vielleicht beschlagnahmen. Ich könnte es vermieten und in eine kleinere Wohnung ziehen.“ „Ruf doch mal … an, vielleicht gibt er uns einen Kredit?“ „Vor Kurzem habe ich ihn angerufen, er ist nicht rangegangen.“ „Sei nicht traurig. Das geht vorüber. Wir fangen ganz neu an.“ „Ich habe keine Kraft mehr …“, sagte sie und legte auf, weil sie nicht weitersprechen konnte. Mir war, als rannen ihre Tränen aus dem Hörer mir unmittelbar ins Herz. Ich rief zurück, doch sie nahm nicht ab. Ich musste ihr Kraft geben, nur wie?

Auch bei mir war kaum noch etwas übrig. Draußen vor dem Zugfenster rauschte Deutschland vorüber. Fern, fremd, gleichgültig und kalt. Ich setzte Kopfhörer auf und suchte in meinem Handy das Lied eines alten, im Exil verstorbenen Freundes. Als ich ihm lauschte, löste sich der Kloß in meiner Kehle.

Von Kopf bis Fuß in Staub gehüllt
Vor mir hinter mir von Dunst verhüllt
Mein Bart verdreckt und verfilzt
Woher sollt ihr denn wissen
Wie sehr mir das Herz brennt.

Ein Spross war ich, wurde abgeknickt Sturm war ich, wurde ausgebremst
Müde bin ich, so müde
Woher sollt ihr denn wissen Welche Qualen ich leide.

Mauern aus Stein riss ich ein und kam her
Eisenstangen riss ich aus und kam her
Mein Leben verbrannte ich und kam her, hey
Woher sollt ihr denn wissen
Warum ich

Über den Autor
Foto von Can Dündar
Can Dündar
Journalist und Schriftsteller

Can Dündar ist der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung „Cumhuriyet“. Wegen seiner Berichterstattung über den türkischen Geheimdienst wurde er zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und ist nur knapp einem Mordanschlag entkommen. Dündar setzte seinen Kampf für die Pressefreiheit im Exil fort. Er erhielt unter anderem den Menschenrechtspreis von Reporter ohne Grenzen, den Hermann-Kesten-Preis, die Goldene Victoria für Pressefreiheit, den Lew-Kopelew-Preis und den internationalen Whistleblower-Preis. 2017 wurde er als Europäischer Journalist des Jahres ausgezeichnet.

Bücher (Auswahl):

  • Erdoğan. Correctiv, Essen, 2021
  • Tut was! / Bir şey yap! Plädoyer für eine aktive Demokratie / Aktif demokrasi için çağrı. Hoffmann und Campe, Hamburg, 2018
  • Verräter: Von Istanbul nach Berlin. Aufzeichnungen im deutschen Exil. Hoffmann und Campe, Hamburg, 2017
  • Lebenslang für die Wahrheit: Aufzeichnungen aus dem Gefängnis. Hoffmann und Campe, Hamburg, 2016

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.